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Káor

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Frierend erwachte er. Wieso lag er auf der Veranda herum? Langsam richtete er sich auf. Seine überkreuzten Unterarme, auf denen sein Kopf geruht hatte, schmerzten. Überhaupt fühlte er sich regelrecht zerschlagen. Jemand hatte eine Decke über ihn gebreitet. Mit Entsetzen stellte er fest, dass er sonst nichts am Leib hatte.

»Du hättest reinkommen können«, sagte eine Stimme.

Léun fuhr herum, bekam die rutschende Decke gerade noch am Saum zu fassen und schlang sie sich hastig um die Hüften. Sein Großvater saß auf der Bank neben dem Eingang. Er hatte ihn wohl schon eine ganze Weile beobachtet.

»Morgen …« Léun gähnte und streckte sich ungelenk, indem er einen angewinkelten Arm hob und gleichzeitig mit dem anderen die Decke festhielt.

»Morgen, mein Lieber. Schön, dass du zurück bist. Ich hab mir Sorgen …« Lóhan pausierte. »Ich meine, ich hab dich vermisst.«

»Tut mir leid.«

»Schwamm drüber. Zieh dir was an, das Frühstück ist fertig.«

Léun nickte. Ihm knurrte der Magen. Bevor er dem alten Mann ins Innere der Hütte folgte, warf er einen raschen Blick zurück. Der Himmel war grau, noch immer hingen Nebelfetzen über dem Dorf. Seltsam – hatte er nicht bei Héranon übernachtet und von ihm Kleider bekommen? Wieso war er dann plötzlich wieder hier, noch dazu nackt?

Er blickte zu Boden. Der Regen des vergangenen Tages hatte die Erde aufgeweicht. Von der Dorfstraße her, quer durch den Vorgarten und bis zum Absatz vor der Hütte, wo er gelegen hatte, zogen sich Fußspuren. Von seinen Füßen stammten sie eindeutig nicht.

Léun bekam eine Gänsehaut.

Ein Traum, sagte er sich in Gedanken. Das kann nur ein Traum gewesen sein. Oder ich sehe Gespenster.

Er stolperte seinem Großvater hinterher, schlug die Tür der Hütte zu und hastete zum Ofen. Zum Glück brannte schon ein Feuer. Keuchend hielt er seine zitternden Finger dicht an die gusseiserne Ofentür.

»Ziemlich kühl heute, was?« Sein Großvater schüttete heiße Milch in zwei Becher. »Hoffentlich hast du dir keinen Schnupfen geholt.«

Léun schüttelte den Kopf.

»Ich war bei Héranon.«

Der Alte hielt kurz inne, rückte den Korb mit Brotscheiben zurecht und schob seinen Stuhl zurück, um Platz zu nehmen.

»Da bin ich beruhigt«, sagte er. »Bei so einem Sturm wie gestern sollte man nicht draußen schlafen. Schon gar nicht in dem allzu schlichten Gewand, das der Manngott Máris dir …«

»Das weiß ich selber!«, fauchte Léun unbeherrscht. Mit zwei Fingerkuppen berührte er die glühendheiße Tür der Ofenkammer. Er stieß einen Fluch aus, steckte sich die Finger in den Mund, um die Schmerzen wegzulutschen, und stampfte zur Tür.

»Wo willst du hin? Deine Milch wird kalt.«

»Iff hab keim Hunger«, log er. »Wo if’ der Fpaten?«

»Bitte? Ich verstehe dich nicht.«

Schmatzend nahm er die Finger aus dem Mund.

»Wo ist der Spaten?«

»Draußen, hinter der Regentonne. Was hast du damit …«

Der Knall der hinter ihm zufallenden Hüttentür schnitt seinem Großvater jäh das Wort ab.

Lóhan glaubte zu wissen, wie man einen Jungen erzog. Er selber war in Léuns Alter unberechenbar und oft genug unerträglich gewesen. Er konnte sich gut daran erinnern, wie sein Vater auf Sturheit und so manchen plötzlichen Stimmungsumschwung reagiert hatte. Auch wusste er noch genau, welche erzieherische Maßnahme bei ihm ein Einsehen bewirkt hatte – oder das Gegenteil. Und natürlich besaß er seinerseits genug Erfahrungen als Vater.

Deshalb hatte er sich gehütet, Léun Vorwürfe zu machen, weil er die Nacht über ausgeblieben war. Vielmehr seine Rückkehr zu begrüßen, ihn willkommen zu heißen und alles andere zu vergessen: Das schien ihm die einzig wirkungsvolle Reaktion zu sein, um den Herumtreiber einsichtig zu stimmen. Vielleicht würde er so von selbst erzählen, wo er untergeschlüpft war. Und wo er seine Kleider gelassen hatte.

Das hatte Lóhan zumindest gehofft.

Dass Léun auf den sanften Tadel hin doch aus der Haut gefahren war, stimmte ihn ratlos und traurig. Was trieb den Jungen nur um?

Lóhan erhob sich halb und spähte zwischen den Gardinen in den Garten hinaus. Dort tauchte sein Enkel gerade auf, den Spaten auf der Schulter. Er rammte ihn in den Boden und kehrte der Hütte den Rücken. Mit einer energischen Bewegung faltete er die Decke auf, wand sie sich eng um die Hüften und verknotete sie an der Seite – fast wie ein Mann aus dem fernen Land der Steppe einen Saróŋ, das traditionelle Beinkleid der Steppenläufer.

Offenbar hatte er vor, halbnackt und ohne Frühstück im Bauch das Beet umzugraben. Dabei hatten sie sich erst im Frühjahr darauf geeinigt, den Vorgarten von Wildblumen und Gräsern zuwuchern zu lassen. Noch dazu musste die Erde vom Regen schwer und lehmig sein.

Lóhan beobachtete, wie sein Enkel den Spaten ansetzte, einen Fuß auf die Kante stellte, sein Körpergewicht verlagerte und das Werkzeug mit grimmigem Einsatz in den Boden hineintrieb. Er stemmte die erste Scholle heraus, warf sie herum und setzte den Spaten erneut an.

Was bei Tióran, dem Gott der Vernunft, mochte in diesem blondmähnigen Schädel nur vorgehen? Seit jeher hatte Léun seinen eigenen Kopf. Darin glich er seinem Vater. In jüngster Zeit aber war er noch um einiges eigenwilliger geworden – was vielleicht auch seiner wachsenden Reife zuzuschreiben war. Andererseits ließ sich damit auch nicht alles entschuldigen.

Lóhan seufzte und setzte sich wieder bequem hin. Allein, wie er war, begann er sich dem Frühstück zu widmen.

Léun stützte sich auf den Spatenstiel. Er war erschöpft und völlig nassgeschwitzt. Das ganze Beet hatte er umgeschaufelt. Natürlich tat es ihm leid um den bunten Klee, die knospenden Wegwarten, Korn- und Ringelblumen und Fuchsschwanzgräser. Aber wenigstens hatte er mit all den Blüten auch diese unsäglichen Fußabdrücke untergepflügt. Zufrieden klopfte er sich nicht vorhandenen Staub von den Handflächen und packte den Spaten, um ihn an seinen Platz zu räumen.

»Schöner Garten«, sagte jemand hinter ihm.

Überrascht wandte er sich um.

Am Rand des Grundstücks standen drei Männer. Einer steckte in Stiefeln und grüner Jägerkleidung, der nächste war an der Uniform und der schwarzroten Mütze als Talwart zu erkennen. Die Stimme gehörte dem dritten: Héranon.

»Äh, Morgen …« Flüchtig blickte Léun an sich hinab. Hoffentlich wirkte er nicht irgendwie verdächtig.

Die Talwartschaft sorgte in Grüntal für Ordnung, doch gerade unter den jüngeren Bewohnern war sie unbeliebt und gefürchtet. Selbst harmlose Gaunereien wurden drakonisch bestraft. Stán zum Beispiel hatte neulich ohne Erlaubnis im Mittleren See geangelt und war von einer Viererpatrouille erwischt worden. Noch an Ort und Stelle hatten sie ihn, je zwei an einem Bein, kopfüber ins Wasser gehalten und bis zur Bewusstlosigkeit scheinertränkt.

»Guten Morgen, Kerl.« Héranon sandte ihm ein wölfisches Lächeln. »Na, hast du einen Schatz gefunden?«

»Ich, äh … nein«, stotterte Léun verwirrt. »Nur das Beet umgegraben.«

»Musste ja unbedingt heute sein«, brummte der Jäger. »Tja, Waldhüter, da ist nichts mehr zu machen, oder wie siehst du das?«

Anstatt einer Antwort presste sich Héranon die Faust ans Kinn. Er ließ den Blick über die frisch aufgehäuften Erdschollen schweifen.

»Jedenfalls hat da einer verdammt gute Arbeit geleistet …« Er zwinkerte Léun zu. »Sag mal, Kerl, ist dir was Ungewöhnliches aufgefallen, bevor du hier geackert hast? Spuren, zum Beispiel?«

Léun tat so, als müsste er überlegen. Er zuckte die Achseln.

»Hab nichts gesehen.«

Der Talwart rückte seine Mütze zurecht und schüttelte gleichzeitig entnervt den Kopf.

»Entweder bist du blinder als ein Maulwurf, Bursche«, meinte der Jäger, »oder blöd wie ein Stück Käse. Streng dein Hirn an! Bist du sicher, dass da nichts war?«

Léun verschluckte sich, hustete und nickte.

»Ich seh mich mal in der Nähe um.« Grüßend streckte der Jäger die rechte Handfläche nach außen und legte die Fingerspitzen an die Stirn. »Vielleicht hat das Vieh ja die Richtung gewechselt.« Er stiefelte in Richtung Dorfstraße davon.

»Was ist denn los, Waldhüter?«, wagte Léun möglichst unbefangen zu fragen.

»Das erzähl ich dir gleich. Muss sowieso kurz deinen Großvater sprechen. Ist er da?«

Léun nickte wieder.

»Ich werde überprüfen, ob Sárim in der Zwischenzeit was gefunden hat«, wandte sich der Talwart an Héranon.

»Wir treffen uns am Nordende der Straße«, gab der Waldhüter zurück. Der Talwart nickte ihm zu und ließ ihn mit Léun allein.

»Lass uns reingehen, Kerl.«

Auf halbem Weg zur Hütte öffnete sich die Tür. Mit gerunzelter Stirn empfing Lóhan den unerwarteten Besuch.

»Sieh an, Héranon«, sagte er. »Es ist eine Weile her, dass du hier warst.«

»Ich störe nicht lange. Vielleicht können wir diese Sache rasch klären. Das kommt ein bisschen auf deinen Enkel an.«

Mit Unbehagen spürte Léun, wie sich eine schwere Waldhüterpranke auf seine Schulter legte. Er ließ sich in die Hütte bugsieren. Héranon schloss die Tür.

»In der Nähe des Mittleren Sees wohnt eine alte Frau«, begann der Waldhüter, kaum dass sie sich an den unabgeräumten Tisch gesetzt hatten. »Granti heißt sie. Heute Morgen hat sie ein Mordsgeschrei veranstaltet.«

»Bitte, Héranon, verschone mich mit dem üblichen Dorfklatsch.«

»Ihre Hunde sind nämlich tot – zerfleischt«, fuhr der Waldhüter fort. »Es muss irgendwann in den frühen Morgenstunden passiert sein. Ungefähr zur selben Zeit, als du auf dem Heimweg warst.« Er blickte Léun prüfend an. »Keine Ursache übrigens wegen der Übernachtung.«

Léun grinste verlegen und schämte sich dafür, einfach abgehauen zu sein.

»Danke, dass du ihm Zuflucht gewährt hast«, sagte sein Großvater spröde. »Ich hatte ihn vor dem Sturm gewarnt, aber welcher Junge in seinem Alter schert sich schon um gute Ratschläge?«

»Wie sollte er auch sonst erwachsen werden?«, entgegnete Héranon. »Aber zurück zu Grantis Hunden. Der Talwart ließ Sárim und mich rufen, nachdem er die Spur eines großen Tieres entdeckt hatte. Eines Löwen, um genau zu sein. Vorsichtshalber haben wir ihm das erst einmal verschwiegen.«

»Er würde euch auch auslachen«, urteilte Lóhan mit einer endgültigen, abweisenden Handbewegung. »Seit zehn Jahren hat es in den ganzen Rockenbergen keine Löwen mehr gegeben.«

»Auslachen? Mich?« Der Tonfall des Waldhüters wurde schroff: »Erstens hast du keinen Vertreter der Dorfjugend vor dir, zweitens versteh ich vom Spurenlesen mehr als du!«

Léun wandte den Blick zu seinem Großvater, doch dieser verzog nur leicht brüskiert die Mundwinkel.

»Tatsache ist, dass die Spur von Grantis Zaun aus durchgängig bis nach Grünhag zu verfolgen ist«, sagte Héranon. »Bis zu eurem frisch umgegrabenen Beet. Tatsache ist auch, dass dein Enkel gestern bei der Löwenquelle war. Dort hat er wie durch Zauberei seine Kleider verloren.« Er musterte Léun. »Scheint übrigens, als hättest du grundsätzlich was gegen ordinären Anziehkram, Kerl.«

Léun wollte widersprechen, schließlich ging die Sache mit der Löwenquelle seinen Großvater nichts an. Doch er kam nicht zu Wort.

»Sárim sucht gerade nach weiteren Löwenspuren«, sagte Héranon, und jetzt klang seine Stimme wie eine Warnung. »Um wie viel wetten wir, dass er in ganz Grünhag keine finden wird?«

Lóhan lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was willst du mir damit sagen?«

»Frag ihn.« Héranon machte eine knappe Kopfbewegung in Richtung seines Enkels.

Léun fühlte, wie er rot wurde.

»Komm schon, Kerl«, ermunterte ihn der Waldhüter in kumpelhaftem Tonfall. »Sag mir, was du weißt. Ich werd dich schon nicht an den Talwart verpfeifen. Hier geht es um eine ernste Sache! Grantis Hunde waren ihr ein und alles. Die Alte ist völlig fertig. Es war auch wirklich kein schöner Anblick, glaub mir. Einem der beiden hatte das Vieh noch in der Hundehütte das Genick durchgebissen. Der andere Kläffer lag im Garten, aufgeschlitzt von der Kehle bis zwischen die Hinterläufe. Wie ein geschlachtetes Schwein. Der Talwart war nicht besonders froh über die Sauerei.«

Es befremdete ihn selbst – und doch konnte sich Léun eines Gefühls der Genugtuung nicht erwehren. Grantis Hunde waren tot! Genau wie er geträumt hatte. Keine schwarzen Köter würden ihn mehr verbellen, wenn er am Grundstück der Alten vorbeilief. Das hatten sie verdient, die beiden Biester.

»Grins nicht so blöd!«, herrschte der Waldhüter ihn an. »Niemand mochte die Viecher leiden, aber wie jeder und jede in diesem Tal hat auch die alte Granti ein Recht darauf, dass die Sache aufgeklärt wird. Der Jäger ist drauf und dran, den Räuber, der ihre Hunde gerissen hat, zur Strecke zu bringen. Also gib schon zu, dass der Garten voller riesiger Tatzenabdrücke war, bevor du mit dem Spaten gewütet hast!«

»Das reicht, Héranon.« Lóhan hob warnend den Zeigefinger.

»Da war nichts«, beteuerte Léun hastig.

»Und du hör auf zu lügen«, wies sein Großvater ihn leise zurecht. »Natürlich waren da Spuren. Sie endeten genau vor meiner Veranda – keine zwei Schritt von dir entfernt. Ich bin vielleicht alt, aber noch nicht ganz blind.«

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen.

»Äh … na und?«, druckste Léun schließlich achselzuckend herum. »Dann ist eben ein Löwe durch unseren Garten gelaufen. Was kann ich dafür?«

»Du könntest ihn gesehen haben«, sagte sein Großvater. »Das wäre nicht verwunderlich.«

»Selbst wenn du ihn nicht gesehen hast«, setzte der Waldhüter hinzu, »muss dir doch auf dem Nachhauseweg irgendwas aufgefallen sein. War jemand unterwegs? Hat es auf Grantis Grundstück Geräusche gegeben? Hast du dich verfolgt gefühlt? All so was. Red schon!«

Léun schüttelte den Kopf.

»Du bist also direkt hierher zurückgelaufen, ohne irgendwas gehört oder gesehen zu haben?«

Léun nickte.

»Hör zu, Kerl«, grollte Héranon leise. »Ich rieche es, wenn man mich belügt. Und ich mag es nicht sonderlich.«

Léun geriet wieder ins Schwitzen. Sein Großvater schaute ihn streng und prüfend an. Wahrscheinlich glaubte nicht einmal er ihm. Es herrschte gespannte Stille. Léun kam der Gedanke, das Naheliegende in Worte zu fassen. Das Unmögliche, vollkommen Absurde. Zorn brodelte in ihm auf.

So leicht war er nicht weichzuklopfen!

»Ich habe geschlafen!«, rief er grimmig. Das entsprach sogar der Wahrheit. »Wie soll ich da mitbekommen haben, wer durch unseren Vorgarten schleicht?«

Pause.

Lóhan legte die Stirn in Falten und atmete geräuschvoll aus. Wenigstens hatte er endlich den Blick abgewandt.

»Was ist bei der Löwenquelle passiert?« Héranon lehnte sich zurück und tappte mit zwei Fingern auf der Tischkante herum. »Erzähl’s mir, Kerl. Oder lass es. Ich werd’s schon selber rausfinden.«

»Versuch’s doch!«, rief Léun wütend, sprang auf und stürmte aus der Hütte. Niemand hielt ihn auf. Im Laufschritt verließ er das Dorf in Richtung Mittelhag.

So sehr Héranons Verhör ihn auch erhitzt hatte – sein Zorn verrauchte schnell, als er unter dem noch immer wolkenverhangenen Himmel dem Pfad durch die alten Obstwiesen folgte. Sollte der Waldhüter doch denken, was er wollte! Von ihm hatte er sich nichts befehlen zu lassen. Wie hätte er ihm bei der Suche nach einem Löwen auch helfen sollen?

Andererseits waren da nun mal diese Spuren gewesen. Spuren, die direkt auf ihn zugeführt hatten. Ob er am Ende noch verrückt wurde wie der alte Górian? Der war vor drei Jahren in die Rockenberge gegangen und seither verschollen. Er hatte immer behauptet, Stimmen zu hören, die ihm einredeten, er sei der König der Bäume und müsse zu seinem Volk zurückkehren. Womöglich stand er noch heute mit ausgebreiteten Armen irgendwo in der Wildnis herum!

Léun atmete tief durch und beschloss, dass er mit jemandem über die Vorkommnisse des vergangenen Tages reden musste. Vielleicht wurde ihm dann selbst einiges klarer. Nur dass dieser Jemand weder Héranon noch sein Großvater war!

Etwas raschelte in den mannshohen Gräsern hinter der letzten Biegung.

Léun blieb stehen, wandte sich um und lauschte. Nichts. Höchste Zeit, dass er Mittelhag erreichte! Er rannte los, blieb nach einer Viertelmeile stehen und verschnaufte.

Da glaubte er, hinter sich rasche Schritte zu hören. Er erstarrte. Jemand war ihm auf den Fersen!

Eine Windböe ging durch die Gräser, ließ die Halme und die Zweige der alten Apfelbäume rauschen. Als der Wind verebbte, war alles still.

Léun fröstelte und ging gemächlich weiter. So sehr er auch seine Ohren anstrengte – für den restlichen Teil des Weges war hinter ihm nichts mehr zu hören.

Endlich lichtete sich das hohe Gras und gab den Blick auf ein paar Hütten frei. Dahinter lag das Seeufer. Auf der linken Wegseite war ein Bauer mit Strohhut und Sense damit beschäftigt, einen breiten Streifen abzumähen. Léun hob grüßend die Hand, obwohl er ihn nicht kannte, und spazierte nach Mittelhag hinein.

Das Dorf wirkte wie immer schläfrig. Ein paar Hühner sprangen gackernd davon, als er ihren Weg kreuzte. Auf der Bank vor einer Hütte saß eine alte Frau. Sie rauchte Pfeife und nickte ihm lächelnd zu. Er spürte ihren Blick im Rücken, bis er um die nächste Ecke gebogen war.

Die Tür von Errics Haus stand offen. Ein köstlicher Duft nach süßem Reisbrei schlug Léun entgegen. Ihm krampfte sich der Magen zusammen, schließlich hatte er auf das Frühstück verzichten müssen. Vorsichtig näherte er sich dem Eingang.

Noch bevor er den Vorgarten durchquert hatte, erschien vor ihm die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes.

»Arrec ist nicht da.« Er musterte Léun abschätzig. »Wenn du ihn siehst, Junge, sag ihm, das Essen ist fertig. Er soll machen, dass er nach Hause kommt, der Faulpelz!«

»Wo ist er denn?«, beeilte sich Léun zu fragen.

»Was weiß ich, Junge? Am See vielleicht?« Ohne ein weiteres Wort schlug Arrecs Vater ihm die Tür vor der Nase zu.

»Na, dann bis bald«, knurrte er missmutig. Er hatte es schon lange aufgegeben, Erric mögen zu wollen. Der Reishändler war sowieso in ganz Grüntal als Geizhals verschrien. Aber hatte Arrec nicht ab und zu ein paar Stunden Freizeit verdient, wo ihn sein Vater täglich von früh bis spät schuften ließ? Léun schnaubte und machte kehrt.

Vom See her wehte ein frischer Wind. Die Wolkendecke hatte Risse bekommen, aus denen ab und zu die Sonne hervorschien. Graues Zwielicht und gleißende Helligkeit wechselten einander in rascher Folge ab. Am Ufersaum blieb Léun stehen, um nach seinem Freund Ausschau zu halten.

Wie immer hatten sich ein paar Familien ans Wasser begeben. Es war wenig wahrscheinlich, dass Arrec sich in ihrer Nähe aufhielt, aber aus dieser Entfernung war niemand genauer zu erkennen.

Léun ging weiter, bis er den Rand des Sees erreichte. Das Wasser war klar und kalt. Er grub die Zehen in den weichen, überspülten Untergrund und spähte unauffällig zu den drei Erwachsenen hinüber, die ein paar Steinwürfe entfernt mit Kleiderwaschen beschäftigt waren. Arrec war nicht dabei.

Er wurde ungeduldig. Bestimmt war sein Freund längst auf dem Heimweg. Sie mussten einander verpasst haben. Er würde zu Errics Hütte zurückgehen und erneut die verdrossene Laune des Alten ertragen müssen. Entmutigt ließ er Schultern und Mundwinkel hängen und vertrieb für einen Moment alle weiteren Gedanken aus seinem Kopf.

Da spürte er wieder dieses Kribbeln im Rücken, deutlicher als gestern. Léun sträubte sich der Nackenflaum. Hatte der Löwe ihn etwa bis hierher verfolgt, um ihn erneut anzufallen?

Abrupt drehte er sich um.

»Du bist es!«, stieß er hervor.

»Wen hast du denn erwartet?«, fragte Arrec. »Ein Ungeheuer?«

Léun nickte verdrießlich.

»Könnte man so sagen.«

Arrec war zehn Schritt entfernt stehengeblieben. Auch er war barfuß. Unter seiner kurzen Arbeitshose ragten zerschundene Knie und etwas zu dünne Waden hervor; der Oberkörper war nackt, die Arme kräftig vom Schleppen der Reissäcke. Sein schwarzes, bis zum Kinn reichendes Haar glänzte in der Sonne wie das Gefieder eines Raben.

»Pass bloß auf, dass ich dich nicht fresse«, sagte er und schlenderte auf Léun zu. Wie unter der Taljugend üblich, begrüßte er ihn mit der ausgestreckten Faust.

Léun stieß mit der seinen dagegen, sie ließen ihre Finger ineinandergreifen.

»Wolltest du mich erschrecken?«

»Auch.« Arrec grinste breit. »Schwimmen wir ’ne Runde?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schubste er Léun beiseite und rannte los. Das Wasser spritzte nach allen Seiten, als er sich in die Fluten stürzte.

»Wart nur, du!« Léun ließ die Decke in den Sand fallen und stürmte ihm lachend und brüllend hinterher. Sie tollten eine Weile herum, tauchten um die Wette und tunkten einander unter, bis sie prustend vor Lachen und Erschöpfung zurück ans Ufer wankten.

Der Himmel war mittlerweile fast wolkenfrei und von frischer, stahlblauer Farbe. Die Ellbogen rücklings in den Sand gestützt, kam sich Léun träge und zufrieden vor wie eine Raubkatze, die sich nach erfolgreicher Jagd von der Wärme der Sonne den Pelz trocknen ließ.

»Nicht grad neu, der Lumpen.« Mit hämischer Miene deutete Arrec auf die Decke, die er sich über die untere Körperhälfte gebreitet hatte. »Selbstgemacht? Oder geliehen? Siehst damit ja aus wie ein Mädchen im Rock! Warum läufst du überhaupt so rum?«

»Das ist ’ne lange Geschichte«, brummte Léun. Ihm kam eine Idee. »Sag mal, du warst gestern nicht zufällig an der Löwenquelle, oder?«

»Wieso?«

»Am See hab ich dich jedenfalls nicht gesehen.«

»Ach so. Nee, leider war gestern ein Abstecher nach Bergau angesagt. Jetzt, wo die erste Ernte läuft, geht’s rund für die Reishändler. Da ist mein Vater mal wieder halb am Durchdrehen.«

»Hab ich gemerkt«, meinte Léun gähnend.

Arrec sah ihn fragend an.

»Er hat dich einen Faulpelz genannt. Du würdest nur am Strand rumlungern und in der Sonne liegen und so.«

Arrec machte ein abfälliges Geräusch.

»Ohne mich würd sein ganzer Laden zusammenbrechen.«

»Das glaub ich gern.«

»Und wie kommst du auf die Löwenquelle?«, wollte Arrec neugierig wissen. »Was hätt ich denn da gesollt?«

»Nichts«, versuchte Léun abzuwiegeln. »Nur so halt.« Er legte sich flach auf den Rücken, streckte sich wohlig und starrte in den Himmel. Hoch oben jagten die Mauersegler durch das tiefe Blau, genau wie in seinem Traum.

»Warst du etwa da?«

»Schwierig zu erklären. Ich …«

»Kannst du mir ja auch später sagen«, schlug Arrec vor, ohne dass der entschuldigende Tonfall Léuns Ohren entging. »Mein Vater ist bestimmt sauer, weil ich noch nicht zu Hause bin. Du hast doch auch Hunger, oder?« Er rollte auf die Seite und klopfte ihm mit der flachen Hand auf den Bauch. »Das klingt ziemlich hohl.«

»Genau wie das!«, rief Léun aufgebracht und pochte seinem Freund mit dem Fingerknöchel an die Schläfe. Arrec wischte seine Hand weg, packte ihn bei den Schultern und versuchte, ihn wieder zu Boden zu drücken. Sie kugelten raufend umher, bis es Léun gelang, Arrec rücklings in den Sand zu stemmen. Zähneknirschend ergab sich sein Freund. Léun grinste siegessicher, ließ von ihm ab und half ihm auf die Beine.

»Gemeinheit!« Arrec funkelte ihn böse an. »Du hast bloß Glück gehabt. Ich bin stärker als du!« Zum Beweis hob er beide Arme und spannte die Muskeln.

»Stimmt nicht, du Angeber.« Léun lachte unsicher. Immerhin war sein Freund älter als er. Er stupste ihn neckisch an. »Auf eine Vergeltung, nach dem Essen?«

Arrecs Blick wurde freundlicher.

»Worauf du wetten kannst.«

Léun befürchtete, dass der Reishändler die Einladung nicht unbedingt begrüßen würde – auch wenn sich Arrec unterwegs redlich bemühte, seine Bedenken zu zerstreuen.

In der Hütte war es dunkel, die Luft fühlte sich staubtrocken an. Erric küsste seinen Sohn zur Begrüßung flüchtig auf das Haupthaar. Von Léun, der ebenfalls eingetreten war, nahm er keinerlei Notiz.

»Du kommst spät«, sagte Arrecs Vater. »Dein Reis ist kalt. Beeil dich mit dem Essen, wir müssen heute noch runter nach Süderhag, um neue Bestellungen aufzunehmen.«

»He, Dabbué!« Vorwurfsvoll deutete Arrec auf die einzelne gefüllte Schale auf dem Tisch. »Léun isst mit uns.«

Verdutzt starrte sein Vater ihn an, um seinen Blick auf Léun zu heften.

»Mein bester Freund, aus Grünhag«, erklärte ihm Arrec mit einem Schulterzucken. »Weißt du nicht mehr?«

Mit großer Mühe gelang Léun ein höfliches Lächeln.

»Ist deinem Großvater etwa die Suppe ausgegangen?«, bemerkte Erric, während er eine weitere Schale mit Reisbrei füllte.

Arrec ließ die Augen zur Decke rollen, was so komisch aussah, dass der aufsteigende Ärger in Léun sofort wieder verpuffte.

»Nein, der Reis«, erwiderte er. Wie frech das klang. Er biss sich auf die Zunge.

Erric schmiss den Reislöffel hin und stellte die Schale klappernd auf den Tisch.

»Junge«, er musterte Léun streng, »ich mache meine Arbeit schon lange, und ich mache sie gut. Schließlich ist es dieselbe Arbeit, die schon mein Vater und dessen Vater vor ihm hier in Grüntal ausgeübt haben. Dank uns kriegst du in dieser tiefen Provinz überhaupt so was Leckeres wie süßen Reis zu futtern! Wenn dein Großvater es nicht schafft, seine Bestellungen rechtzeitig aufzugeben …«

»Tut mir leid«, meinte Léun entschuldigend.

»Setz dich endlich«, forderte Arrec ihn auf. »Und lass es dir schmecken.«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Der lauwarme Reisbrei schmeckte wunderbar. Arrecs Vater nahm nicht Platz, sondern zog es vor, den Tisch lauernd zu umkreisen wie eine hungrige Hyäne.

»Mehr?«, fragte Arrec, als die Schalen leer waren. Von seinem Vater scharfäugig überwacht, füllte er sie erneut.

»Danke«, sagte Léun.

»Bitte.« Erric blieb stehen und stützte sich mit den Armen auf die Tischkante. »Wie rät uns schon Márcuri, Gott der Münzen und Würfel? Der Reiche soll dem Armen geben. Ich allerdings, mit jahrzehntelanger Erfahrung als Reishändler, sage dir: Reichtum verschleudert man nicht, Junge. Auch nicht an die Armen, denn die haben sich ihre Armut meistens selber zuzuschreiben.«

»Bitte, Dabbué, keinen Vortrag.« Arrec zwinkerte seinem Vater zu.

Erric ließ sich jedoch nicht beirren.

»Weißt du eigentlich, wie viel Arbeit in so einem Napf steckt, Junge?«

Léun kam sich vor wie ein ungezogener Hund, als ihm der Reishändler die Schale mitten zwischen zwei Bissen wegzog. Er hielt sie in die Höhe und deutete darauf wie ein Pilzsammler auf einen kostbaren Trüffel.

»Der Reis kommt nicht einfach so angeflogen, falls du das denkst. Er muss gesät, bewässert, entwässert, geerntet, gedroschen, gewaschen und gezuckert werden. Das dauert Monate. Familien wie unsere verdienen damit ihren Lebensunterhalt, und das über Generationen hinweg.«

Léun war verunsichert.

»Was sind Generationen?«

»Er wird in Säcke abgefüllt und ins ganze Umland verfrachtet«, fuhr Arrecs Vater fort. »Das besorgen Leute wie ich. Reiche Leute. Die Bauern geben mir ihren wertvollen Reis ja nicht für gute Worte mit auf den Weg. Und dann muss er weiterverkauft werden, schließlich will auch ich nicht am Bettelstab enden.«

»Oder als Hungerleider«, ergänzte Arrec mit gezwungenem Lachen. Er deutete in Richtung Speisekammer. Hinter der halb angelehnten Tür sah Léun mehr aufgestapelte Reissäcke, als er auf Anhieb zählen konnte.

»Wer es als Reishändler zu etwas bringen will, braucht Geschick und körperliche Ausdauer. Das Geschäft ist hart! Viele brave Leute – wie zum Beispiel Lóhan aus Grünhag – wollen pünktlich beliefert werden, bevor die Ware verdirbt oder von Motten befallen wird. Dank Hunderter von Fleißigen, in deren Kette ich nur das letzte Glied bin, landet der Reis endlich auf deinem Mittagstisch.« Mit beiden Händen, als enthielte sie das Wasser des Lebens, stellte Erric die Schale langsam wieder ab.

Léun war der Appetit vergangen. Er ließ den Löffel sinken.

»Andere arbeiten doch auch«, sagte er, während Arrec weiter Reisbrei löffelte und abwechselnd seinem Vater und ihm ratlose Blicke zuwarf. »Die Talwarte haben eigentlich immer zu tun. Genau wie die Jäger. Héranon, der Waldhüter, muss neue Pfade anlegen und alte freihalten und die wilde Sau erlegen. Drüben in Waldhag wohnt der Tischler Gáret. Ständig kommen Leute zu ihm, denen er irgendwas reparieren soll. Ich weiß das, weil er ein Vetter meines Großvaters ist, der übrigens nicht zu den armen Leuten gehört, weil …«

»Und was hat dein Großvater schon davon?«, fiel ihm Erric ins Wort. »Die Frau ist ihm vor Zeiten weggelaufen, der Sohn war ein Träumer und Tagedieb. Jetzt bleibt ihm nur sein Enkel – ein Taugenichts mehr, den er noch nicht einmal satt bekommt.«

Ein paar Herzschläge lang herrschte Stille. Dann regte sich etwas in Léun.

Láhen, dieser Nichtsnutz!

Ein Träumer und Tagedieb!

Du bist ein Taugenichts, genau wie er!

Er sprang auf. Die Zorneswelle war so heiß, dass jeder Funken von Dankbarkeit und Höflichkeit schlagartig davon verzehrt wurde. Ein Gefühl plötzlicher Auflösung überkam ihn, viel stärker und unaufhaltsamer als in der Nacht vor Grantis Grundstück. Die Angst war von unsäglicher Pein. Léun glaubte das Hütteninnere wabern und verschwimmen zu sehen, während sein Körper von einem Sog erfasst und aus der Form geschleudert wurde.

Bis alles um ihn herum urplötzlich wieder klare, deutliche Kontur annahm.

Das war eindeutig der Holzboden von Errics Hütte, den er da unter seinen Sohlen spürte. Und doch war alles anders. Er strotzte vor unbändiger Kraft und feurigem Zorn. Es fühlte sich großartig an.

Mein Vater war kein Nichtsnutz!, brüllte er – und sprang. Wie ein goldener Blitz schoss er auf Erric zu.

Er hatte seine Sprungkraft unterschätzt. Sein Stuhl wurde durch die Hütte gewirbelt und zerbrach an der gegenüberliegenden Wand. Der Tisch kippte zur Seite, Löffel und Besteck flogen umher, Reisbrei spritzte in alle Richtungen. Léun erwischte Erric bei den Schultern, warf ihn rücklings um, war über ihm, blickte ihm in die entsetzten Augen, wollte ihm die Beleidigungen heimzahlen …

Er öffnete den Rachen.

Nein!, schrie jemand wie aus weiter Ferne.

Etwas Hartes traf ihn am Kopf, es verwirrte ihn. Er ließ von Erric ab und wandte sich um.

Lass meinen Vater in Ruhe, du Ungeheuer!, schrie Arrec mit sich überschlagender Stimme und holte aus, um die nächste Schale nach ihm zu werfen.

Mit einem Satz sprang Léun zur Seite und eilte auf seinen Freund zu.

Spinnst du?, brüllte er. Ich bin’s doch!

Arrec war an die Hüttenwand zurückgewichen. Er kniff die Augen zusammen und keuchte verängstigt, als Léun sich ihm bis auf Armeslänge näherte. Schweißperlen traten ihm auf Stirn, Wangen und Oberkörper. Léun konnte es sehen und riechen. Er konnte hören, wie jeder Herzschlag seines Freundes dessen Todesangst vervielfachte. Abwehrend hob Arrec eine Hand, sein Unterkiefer bewegte sich wie vor Schmerzen.

Was soll das?, knurrte Léun.

Arrec stieß einen leisen Schrei aus.

Ein klappendes Geräusch.

Léun spürte die Anwesenheit eines dritten menschlichen Wesens.

Káor!, donnerte eine tiefe Männerstimme. Káor ý bóhin!

Léun stutzte. Er wandte den Kopf.

Zeig ihm keine Furcht, befahl sich der Waldhüter in Gedanken. Bloß keine Furcht zeigen.

Breitbeinig und mit geballten Fäusten stand er im Eingang, die Augen weit aufgerissen, die Zähne drohend entblößt. Gegen das Licht, das von außen in die Hütte fiel, wirkte seine Erscheinung hoffentlich furchteinflößend. Natürlich roch die Raubkatze seine Angst, das wusste er. Hauptsache, er lenkte sie von dem Jungen und seinem Vater ab. Letzterer kauerte mittlerweile wimmernd in einer Ecke.

Bei allen Göttern, dachte Héranon, was für ein prächtiges Tier.

Káor – es konnte nur Káor sein – hatte kurzes, seidiges Fell und eine herrlich ausladende, goldene Mähne. Zum Bauch hin wurde sie dunkler, um im selben Schwarzbraun auszulaufen, das quastenartig seine Schwanzspitze zierte. Das Gesicht des Löwen war breit, die Nase dreieckig wie bei allen Katzen. Fingerlange Reißzähne ragten aus den halbgeschlossenen Lefzen hervor. Mit einem einzigen Biss seiner massigen Kiefer könnte Káor mühelos Héranons Oberschenkel zermalmen.

Jetzt zog er sich unbeholfen in den Schatten der offenstehenden Tür zurück. Vielleicht blendete ihn das Licht. Umso besser, dachte der Waldhüter, schließlich brauchten die Leute, die draußen schon zusammenliefen, den Löwen nicht unbedingt zu sehen. Das war die Gelegenheit, um den Jungen und seinen Vater aus ihrer misslichen Lage zu befreien.

»Raus«, sagte Héranon leise.

Die beiden rührten sich nicht. Der beruhigende Tonfall stand wohl in zu großem Widerspruch zu seinem Befehl.

»Raus aus der Hütte«, wiederholte er in unveränderter Stimmlage. »Geht zügig an mir vorbei. Los!«

Der Junge war weniger begriffsstutzig als sein Vater. Er rückte von der Wand ab, fuhr sich durch das strähnige Haar und näherte sich dem Reishändler.

Der Löwe merkte es, nahm ihn mit dem Blick ins Visier, kräuselte den Nasenrücken und fauchte halb verunsichert, halb angriffslustig.

»Káor ý bóhin!«, brüllte Héranon.

Das half. Der Löwe senkte das Hinterteil ab und blieb, auf die Vordertatzen gestützt, sitzen. Mit der Zunge säuberte er sich die Nase und starrte den Waldhüter an wie ein Hund, der sich von seinem Herrn eine Leckerei erhoffte.

Langsam und mit einem letzten ängstlichen Blick auf Káor schlurfte der schwarzhaarige Junge auf seinen Vater zu, der unverständliche Laute winselte. Er nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her auf den Eingang zu.

Kaum waren die beiden an Héranon vorbei nach draußen getreten, schloss er die Tür, ohne dem Löwen den Rücken zuzukehren.

»Wie ich es mir dachte«, raunte er. »Káor hat dich erwählt. Respekt, Kerl – was hätte ich darum gegeben, an deiner Stelle zu sein. Nicht dass ich mich beklagen will …«

Der Löwe hörte auf, sich die Nase zu schlecken, und schloss die Augen halb.

Héranon trat einen Schritt auf ihn zu. Und noch einen. Er achtete auf die kleinste Regung der Raubkatze. Káor ließ zu, dass er in seinen engsten Körperumkreis vordrang – der gleichzeitig den vorteilhaftesten Kampfbereich des Löwen darstellte. Schließlich war er eine Armlänge von ihm entfernt.

Héranon roch den gefährlich heißen Atem des Raubtiers, sah jedes einzelne Schnurrhaar, dick wie ein Zahnstocher, und die wie flüssiges Gold schimmernde Iris seiner Augen, die zwischen schwarzgeränderten Lidern hervorleuchtete. Vorsichtig streckte er den Arm aus, näherte langsam die nach oben gekehrte Handfläche dem Löwengesicht …

… bis seine Finger Fell spürten. Es war borstig, von störrischem Wuchs. Der Kopf des Löwen strahlte immense lebendige Wärme aus – Héranons Handfläche begann zu prickeln. Káor schloss die Augen, entblößte die enormen Reißzähne und presste mit forderndem Brummen die Wange gegen seine Hand.

Nicht mit seiner gesamten Körperkraft hätte der Waldhüter diesem unsanften Druck etwas entgegensetzen können. Nicht mit seinem gesamten Willen hätte er sich zu dem Versuch verleiten lassen. Das zärtliche Vertrauen, das Káor ihm entgegenbrachte, rührte Héranon. Káor war ein besonderer Löwe. Jede gewöhnliche Raubkatze hätte ihn längst in Stücke gerissen.

»Die da draußen warten auf uns«, gab er zu bedenken.

Káor schnaubte und stupste ihn mit der Schnauze gegen den Unterarm.

»Káor ý sunder íro Léun«, sagte Héranon nicht ohne gebührende Ehrfurcht und zog die Hand zurück.

Léun fühlte, wie er unendlich müde wurde. Der Waldhüter und die Hütte um ihn herum verschwammen. Er fiel. Furcht wirbelte durch seinen Geist, jedoch nicht so grell wie kurz zuvor. Sie fühlte sich eher dumpf an, wie ein abklingender Schmerz. Auf einmal schien er wie nach einem Sturz aus großer Höhe hart auf hölzernen Bohlen zu landen.

Mühsam richtete er sich auf, versuchte, seine flatternden Lider zu öffnen und klar zu sehen. Seine Knochen fühlten sich an, als hätte sie jemand mit einem Dreschflegel bearbeitet. Um ihn herum lagen die Trümmer von Möbeln und Geschirr verstreut. Inmitten all dem Chaos stand Héranon und blickte ihn ernst, aber nicht unfreundlich an.

»Willkommen zurück, Kerl«, sagte er. »Steh auf.«

»W…was war das?«, stöhnte Léun.

»Später. Erst einmal musst du hier weg. Steh auf!«

Mühsam stemmte sich Léun auf alle Viere hoch. Unwillkürlich suchte er mit einer Hand die Decke um seine Hüften und fand sie nicht. Auf einmal überkam ihn ein solcher Schwindel, dass er glaubte, den ganzen Reis wieder ausspucken zu müssen. Schwarzer Nebel waberte vor seinen Augen, und in seinen Ohren gellten Jahrmarktpfeifen. Der Arm, auf den er sich stützte, knickte ein. Wie ein nasser Sandsack fiel er auf die Seite.

»Bei Ygéno, Gott allen gesunden Lebens, reiß dich zusammen! Die Leute denken sonst bloß … aber ja, sollen sie doch. Warte, ich such dir was zum Anziehen.« Héranon verschwand in einem Nebenraum.

Léun hörte ein Klappern, mit dumpfem Rumoren wühlte der Waldhüter irgendwo herum. Endlich wurde die Sicht wieder klar, und die Kraft kehrte in seine Glieder zurück. Er richtete sich auf. Noch bevor ihm vollends bewusst geworden war, dass er schon wieder nichts am Leib trug, kam aus dem Durchgang zum Nebenzimmer etwas Großes, Dunkles geflogen. Es traf ihn im Gesicht. Er unterdrückte einen Schreckensschrei – doch es war nur ein verschwitztes Kleidungsstück.

»Überziehen, los«, rief ihm Héranon leise zu. »Und beeil dich gefälligst!«

Das Hemd war ein bisschen eng und hätte eine Wäsche vertragen, aber es war besser als nichts.

»Hier kommt der Rest!« Héranon warf eine knielange Wollhose hinterher. »Fertig? Ich trag dich raus. Du bist schwer krank, also gib keinen Mucks, sobald wir durch die Tür sind, klar?«

Bevor Léun protestieren konnte, packte Héranon ihn mit einem Arm unter den Achseln und mit dem anderen bei den Knien. Grunzend vor Anstrengung hob er ihn in die Höhe, lüpfte ihn ein-, zweimal ruckartig für den sichersten Griff und ging dann mit schweren Schritten zur Tür.

»Augen zu, Kerl«, befahl der Waldhüter halblaut.

Léun gehorchte. Héranon gab der Tür einen gezielten Fußtritt. Der Riegel brach. Licht strömte auf sie ein.

Vor Errics Hütte hatte sich ein gutes Dutzend tuschelnder Dorfleute eingefunden. Im Vorgarten stand Arrec, keuchend und mit wirr ins Gesicht hängenden Haaren. Zu seinen Füßen kniete sein Vater. Stirn und Wangen des Reishändlers waren aschfahl, sein Oberkörper bewegte sich leicht vor und zurück.

»Hier gibt’s nichts mehr zu sehen, Leute!«, rief Héranon, während er ins Freie trat.

Léun gab sich Mühe, möglichst schlaff zu wirken. Schon hörte er, wie ein paar Dorfbewohner ihre unsicheren Stimmen erhoben.

»Was ist da drin vor sich gegangen?«

»Wo ist das Ungeheuer?«

»Was ist mit dem Jungen?«

»Er ringt mit dem Tode«, gab Héranon zurück. »Er hatte einen Anfall. Sein Großvater kennt sich mit sowas aus. Vielleicht kann er ihn retten.«

»Brauchst du Hilfe, Waldhüter?«, wollte eine Frau wissen.

Léun hörte rasche Schritte und fühlte im nächsten Moment eine feuchtwarme Hand auf seiner Stirn. »Bis Grünhag schafft er’s nie!«

Unter den geschlossenen Lidern verdrehte er die Augen und stöhnte theatralisch.

»Wenn ihr mich aufhaltet, bestimmt nicht«, rief Héranon. »Du da, du bist mit ihm befreundet, nicht?«

Léun hörte Arrec ein bestätigendes »M-hm« von sich geben.

»Komm mit! Ihr anderen: Räumt da drin mal ein bisschen auf. Und bringt Erric ein Bier oder zwei, und zwar hurtig!«

Der Waldhüter lief los.

Arrec folgte ihm.

Weltenlied

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