Читать книгу Weltenlied - Manuel Charisius - Страница 8
Sturm
ОглавлениеDonnergrollen ließ ihn zu sich kommen. Er schlug die Augen auf. Über sich sah er das Blätterdach des Grünwalds, dahinter ballten sich gelbschwarze Wolken. Ein knorriger Auswuchs der Baumwurzel drückte ihn im Nacken. Er setzte sich auf, um Arme und Oberkörper beäugen zu können.
Kein Blut. Bis auf die Schrammen, die er Grantis Hunden zu verdanken hatte, war er unverletzt.
Léun kam nicht umhin prustend loszulachen. Er ließ sich wieder zur Erde sinken, wälzte sich laut lachend auf den Bauch und legte die Stirn auf die Baumwurzel. Tief sog er den Duft von Laub und Erde ein, atmete aus und lachte, bis ihm die Tränen kamen und der Bauch wehtat.
Dieser verflixte Alptraum!
Kein Zweifel – er war gestürzt und hatte für kurze Zeit das Bewusstsein verloren. Das Monster, das ihn angefallen hatte, war eine Illusion gewesen. Dieselbe Illusion, die ihn fast jede Nacht im Traum heimsuchte.
Er erhob sich, wischte sich ein paar klebende Blätter von Brust und Bauch und wollte seine Kleider aufsammeln.
Sie waren nicht da.
Dafür war starker Wind aufgekommen. Die Wipfel der Bäume wogten. Äste knarrten, Stämme ächzten. Schon gingen die ersten dicken Regentropfen nieder. Innerhalb weniger Atemzüge schwoll das Geräusch zu einem gleichmäßigen Rauschen an.
Léun hob den Kopf, um die Lage des Unwetters abzuschätzen. Im selben Moment zuckte ein gleißender Blitz über den dunklen Himmel, dicht gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag.
»Verflixt«, knurrte er, duckte sich und zitierte mechanisch den dritten Vers aus einem alten Lied, das ihn sein Großvater hatte auswendig lernen lassen: »Halt dich im Zaum, Gypto! Ich habe kein Dach über dem Kopf … und außerdem hab ich nichts an!«
Doch davon ließ sich Gypto, der Gott der Stürme, nicht beeindrucken. Schon goss es wie aus Eimern. Die einzelnen Tropfen waren groß wie Kastanien. Das Laubwerk hatte ihnen nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen.
Léun beeilte sich, die Umgebung nochmals nach Hemd und Hose abzusuchen. Er lief um den Löwenfelsen herum, doch vergebens. Wenn seine Freunde hier gewesen waren, dann hatten sie seine Kleider mitgenommen.
Blödiane.
Mit jeder Minute, die verstrich, wurde der Regen stärker. Es war unglaublich dunkel geworden. Das zur Erde strömende Wasser hatte den Grünwald sämtlicher Farben beraubt. Die Sicht verringerte sich bis auf wenige Schritte. Blitz und Donner jagten einander in immer kürzeren Abständen, und der Wind fegte heulend durch den Wald. Blätter und kleinere Zweige trudelten zu Boden. Auf einmal glaubte Léun, in unmittelbarer Nähe einen Baum krachend umstürzen zu hören.
Er gab auf und trat den Rückzug an. Bis nach Hause würde er es nie schaffen; seine einzige Chance bestand darin, die nächste Hütte zu finden. Hoffentlich gewährte der Waldhüter Héranon ihm Unterschlupf, bis der Sturm vorüber war. Und vielleicht überließ er ihm ein paar alte Sachen zum Anziehen.
Während Léun blindlings durch Wald und Unwetter hechtete, kam er sich unbeschreiblich schutzlos und verletzbar vor. Die Bewohner des Grünwalds waren entweder auf der Flucht oder hatten sich tief in ihre Höhlen verkrochen. Er fühlte sich wie ein Tier unter Tieren, nackt und voller Furcht – hoffentlich hatte ihn nicht längst irgendein Wind und Wetter trotzender Räuber zur Beute auserkoren. Wenn er es sich recht überlegte, schien sein Alptraum jetzt erst gnadenlose Wirklichkeit geworden zu sein.
Die Lage der beiden Waldpfade hatte er ungefähr im Kopf; Héranons Behausung befand sich einige Meilen nordöstlich der Löwenquelle. Léun folgte dem Hügelkamm nach Norden und bog irgendwann auf gut Glück in Richtung Grüntal ab. Als er glaubte, weit genug gelaufen zu sein, wandte er sich nach rechts, den Hang hinunter. Hoffentlich verpasste er die Hütte nicht. Mittlerweile war der Waldboden vom Regen so durchweicht, dass er mit jedem Schritt fast bis zu den Knöcheln in matschiges Laub und ekelhaft weiche Erde einsank. Noch dazu holte er sich im dicht wuchernden Strauch- und Nadelgehölz neue blutige Schrammen an Schultern, Armen und Schenkeln.
Nach etwa drei Steinwürfen stieß er auf eine kleine Lichtung. Léun hielt an und verschnaufte. Hier war der Wind schon weniger spürbar, dafür schaukelten die Baumkronen über ihm bedrohlich hin und her. Seine triefnassen Haare klebten ihm an Stirn und Schläfen, und der ständige kalte Regen ließ ihn trotz des anstrengenden Laufs mittlerweile erbärmlich frieren. Flüchtig überlegte er, ob er sich nicht einfach im Unterholz verkriechen und dort besseres Wetter abwarten sollte.
Auf der anderen Seite brach etwas krachend durchs Geäst. Léun fuhr herum.
Ein Wildschwein.
Als das Tier ihn bemerkte, stieß es ein erschrockenes Quieken aus, schlug einen jähen Haken und verschwand raschelnd im Tannengehölz. Léun beeilte sich, ihm das Revier nicht länger streitig zu machen, und rannte in entgegengesetzter Richtung los.
Das war sein Glück. Kaum fünfzig Schritte weiter stieß er auf einen Pfad, der, den zahlreichen Trittspuren nach zu urteilen, regelmäßig benutzt wurde. Léun folgte ihm für weitere hundert Schritte. Nacheinander kam er an einer grob gezimmerten leeren Futterkrippe, einem Holzblock mit Hackspuren und einer auf einem Holzgestell montierten Zisterne vorbei.
Und endlich sah Léun die Hütte.
Er wollte schon aufatmen, da krachte ein Donnerschlag hernieder, der ihm durch Mark und Bein ging. Er beschleunigte seine Schritte, rannte wie um sein Leben und blieb erst stehen, als er die dicke Bohlentür erreicht hatte. Mit beiden Fäusten hämmerte er dagegen.
»Mach auf, Waldhüter!«
Abrupt wurde die Tür aufgerissen.
Léun ließ die Hände gerade noch rechtzeitig sinken. Notdürftig seine Blöße bedeckend, trat er von einem Fuß auf den anderen. Er schlotterte vor Kälte.
»Wer bei allen Göttern …«, rief Héranon über das Getöse des Sturms hinweg. »Léun aus Grünhag? Was führt dich her? Mach schon, komm rein, Kerl! Oder willst du da draußen Wurzeln schlagen?«
Im Haus des Waldhüters war es warm und gemütlich. Auf dem Herd in der Ecke brodelte ein Kessel Suppe vor sich hin. Der Tisch im linken Bereich der Wohnstube war gedeckt; ein Laib Brot, ein gefüllter Krug und ein paar tönerne Becher standen bereit.
Von der Galerie, die über eine steile Holztreppe zu erreichen war, hingen Decken und Wäschestücke herab. Quer durch den Raum spannte sich eine Leine, an der getrocknete Kräuter und Blumen, verschrumpelte Pilze und ein Dachsfell befestigt waren. An der Wand neben der Tür stand ein Regal mit grobem Geschirr. Den rechten Teil des Raums nahmen ein erhöhtes, fellbehangenes Lager und eine hölzerne Truhe ein. Darüber an der Wand hingen eine Trommel, ein Wanderstock, ein Hirschgeweih und eine Art Pergament mit wilden Kritzeleien.
Héranon selbst war ein breitschultriger Mann, stark wie ein Bär, mit blauen Augen, Stoppelbart und von der Arbeit schwieligen Pranken. Er steckte in einem ärmellosen Lederhemd, knielangen Arbeitshosen und sandalenartigen Hausschuhen, außerdem hatte er eine kalte Pfeife im Mundwinkel. Seine dunklen Haare waren kurzgeschoren, das wettergegerbte Gesicht kantig, aber nicht unfreundlich. Léun war nicht gut im Schätzen, aber so alt wie sein Vater mochte der Waldhüter mindestens sein.
»Hier.« Héranon zerrte eine Wolldecke von der Galerie und legte sie ihm um die Schultern. »Wärm dich erst mal auf, Kerl. Du siehst aus, als könntest du was Kräftiges zu essen vertragen, stimmt’s?«
Léun nickte und mummelte sich in die Decke.
»Setz dich, du bist gerade pünktlich.«
Dankbar nahm er am Tisch Platz. Héranon holte eine weitere Suppenschale und einen Löffel aus dem Regal. Er ging zum Herd hinüber und schöpfte aus dem Topf Suppe in beide Schalen. Als er fertig war, setzte er sich Léun gegenüber und schwang einladend den Löffel.
»Hau rein. Ist nichts Besonderes, macht aber satt.«
Unbeholfen griff Léun nach dem Löffel. Die Suppe war dick und so heiß, dass er sich gleich beim ersten Schluck die Zunge verbrannte. Außerdem war sie versalzen. Dafür schmeckten die darin schwimmenden Fleisch- und Gemüsebrocken ausgezeichnet. Es tat ungeheuer gut, sich den seit dem Morgen leeren Magen zu füllen. Er spürte, wie er wieder zu Kräften kam. Gierig vertilgte er auch die zweite Portion und stopfte dazu Brot in sich hinein.
»So«, sagte Héranon, als sie fertig waren, und füllte ihm einen Becher aus dem bereitstehenden Krug. »Jetzt erzähl, was dir zugestoßen ist.«
Léun nahm einen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Honigwein, lauwarm und süß – sein Großvater hatte ihn einmal in der Dorfschenke von Mittelhag an der Leckerei schnuppern lassen. Fieberhaft überlegte er sich eine glaubwürdige Antwort.
»Hab mich im Wald verirrt«, murmelte er schließlich.
»Ach.« Der Waldhüter grinste. »Hätte ich nicht gedacht.«
Léun zog es vor zu schweigen. Säuerlich beäugte er die Kratzer an seinem rechten Unterarm.
»Vom letzten Drachenkampf?«, meinte sein Gastgeber augenzwinkernd. »Oder hat dich unterwegs ein Löwe angefallen?«
Er zuckte zusammen und hätte sich beinahe übel an seinem Honigwein verschluckt.
»Nicht direkt«, druckste er herum. »Grantis Hofhunde.« Er hustete verstohlen.
Héranon wurde ernst.
»Haben sie dich gebissen?«
Statt einer Antwort schob Léun seinen Stuhl zurück und streckte missmutig ein Bein unter der Decke hervor.
»Ziemliche Schrammen …« Héranon erhob sich. »Ich koche dir erst mal einen Kräutersud gegen Wundfieber. Und zur Sicherheit noch einen zum Trinken.«
»Brauch ich nicht«, winkte Léun ab. »Ist doch halb so wild!«
»Nichts da, Kerl. Nachher entzündet sich was. Du liegst mit Krämpfen auf der Nase und redest wirres Zeug. Was glaubst du, wie mir Lóhan da die Hölle heiß machen würde. Also sorg ich lieber gleich dafür, dass sein Lieblingsenkel schön gesund bleibt.«
Léun musste grinsen und griff nach seinem Becher. Der Waldhüter war schneller.
»Erst der Kräutersud, klar?«
Léun verkniff sich allzu deutlichen Protest. Er beobachtete, wie Héranon mit zügigen Bewegungen die Suppe zum Abkühlen auf ein Gestell hängte und einen weiteren Topf auf den Herd stellte. Während das Wasser zu sieden begann, pflückte der Waldhüter scheinbar völlig willkürlich Blüten und Kräuter von der Trockenleine herunter und warf sie in den Topf. Kurz darauf nahm er das Gebräu vom Feuer und tunkte summend eine Art Schwamm hinein – vielleicht war es auch ein Baumpilz, wer konnte das wissen. Schließlich kniete er sich neben Léun hin.
»Das wird jetzt wehtun«, sagte er zur Warnung. »Versuch stillzuhalten!«
Mit unsanftem Druck tupfte Héranon ihm die Wunden ab. Léun unterdrückte ein Ächzen, so sehr brannte der Kräutersud.
»Danke, Waldhüter«, presste er hervor, um nicht unhöflich zu erscheinen. Er kam sich ungeheuer schäbig vor. Zum Glück konnten seine Freunde nicht sehen, wie er sich von Héranon verarzten lassen musste.
»Wer Hilfe braucht, kriegt sie auch«, sagte dieser. »Denk dran, wenn du selber mal jemanden in Not siehst.« Er ließ den Rest des Suds noch einmal aufkochen, gab weitere Kräuter hinzu und schenkte Léun endlich einen Becher voll ein.
»Trink das leer«, befahl er, »und zwar bis auf den letzten Tropfen. Ich schau in der Zwischenzeit nach, ob hier nicht noch irgendwo was Passendes für dich zum Anziehen rumliegt.«
Léun pustete in den Becher und tat, wie ihm geheißen. Der Sud war genießbar, zumindest wenn er sich vorstellte, hinterher wieder zum Honigwein übergehen zu dürfen. Während er sich den Trunk in kleinen Schlucken genehmigte, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie der Waldhüter die Truhe neben dem Lager öffnete. Er kramte darin herum und zog schließlich ein paar abgewetzte Fetzen heraus. Rasch schloss er den Deckel und warf seinem Gast über die Schulter einen argwöhnischen Blick zu.
Welche Geheimnisse mochte Héranon wohl haben? In den Dörfern gingen Gerüchte um, wonach er weit in der Welt herumgekommen sei. Tatsächlich sollte der Waldhüter zwar aus Grüntal stammen, hieß es, aber bereits als Jugendlicher sei er weggegangen und habe die meiste Zeit seines Lebens in der Fremde verbracht. Erst vor zehn Jahren, so sagte man, sei er zurückgekehrt, um sich dauerhaft in seiner alten Heimat niederzulassen.
Léun konnte sich nicht daran erinnern. Für ihn gehörte der Waldhüter seit jeher zu Grüntal, genau wie Granti und ihre Hunde. Nur dass er um einiges umgänglicher war.
Das Hemd war zu weit und die Hose zu eng. Trotzdem war Léun froh über die geliehenen Kleidungsstücke. So ließ sich der Sturm schon viel eher aushalten – mit einem Dach über dem Kopf, einem vollen Becher Honigwein auf dem Tisch und dem würzigen Rauch in der Nase, den Héranons Pfeife verströmte. Heftiger Regen trommelte auf das Dach der Hütte, und in der Dunkelheit hinter den winzigen Fenstern konnte man immer wieder Blitze zucken sehen. Jetzt kam es Léun absurd vor, dass er tatsächlich die Idee gehabt hatte, sich bei den Wildschweinen im Unterholz zu verkriechen.
»Wo waren wir stehengeblieben?« Der Waldhüter sog genüsslich an seiner Pfeife. »Ach ja, du wolltest mir gerade erzählen, wo du deine Kleider gelassen hast.«
»Irgendjemand hat sie mir geklaut«, erwiderte Léun. »Denke ich jedenfalls. Ich war baden, und als ich zurückkam, waren sie nicht mehr da.«
Héranon lehnte sich zurück, verschränkte die Arme auf der Brust und schloss die Augen halb.
»Glückwunsch«, knurrte er, wobei er so fest auf den Stiel seiner Pfeife biss, dass seine Kiefermuskeln hervortraten. »Du hast wirklich Glück!«
»Womit?«, fragte Léun verwirrt.
»Na, mit den Mädchen natürlich.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und klappte ihn verwundert wieder zu. Ciára sollte ihm bis zur Löwenquelle gefolgt sein? Das konnte er sich nicht vorstellen.
»Zu meiner Zeit war das alles noch ganz anders«, behauptete Héranon. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und hustete so lautstark, dass die ganze Hütte zu wackeln schien. »Früher hatten Grüntals Väter ein Auge auf ihre Töchter. Zwei Augen! Auch nur einmal mit unserer Auserwählten allein zu sein – unmöglich. Wenigstens das scheint nicht dein Problem zu sein, oder?«
»Doch, Waldhüter«, sagte Léun ärgerlich. »Aber darum geht es nicht.«
»Sondern?« Héranon musterte ihn scharf. »Wer blond ist wie du – und ein auch nur annähernd hübscher Bengel –, dem rennen die Mädels doch in Scharen hinterher! Ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich rede. Fast immer waren meine Kleider weg, sobald ich wieder aus dem See stieg. Hinter den Büschen haben sich die frechen Gören prustend die Augen nach mir ausgeguckt.« Er lachte grimmig.
»Aber da waren keine Mädchen«, widersprach Léun.
»Dann vielleicht ein paar Jungen?« Héranon zuckte die Achseln. »Oder ein einzelner Junge. Der sich zufällig in dich verguckt hat anstatt in ein Mädel.«
»Ich war ganz allein«, beharrte Léun.
»Am Mittleren See ist man nie allein«, gab der Waldhüter zu bedenken.
Léun kniff die Lippen zusammen und schaute in seinen Weinbecher.
»Ach, ich verstehe. Du warst gar nicht am See.«
»Grantis Hunde haben mich bis nach Waldhag gejagt«, gab er zerknirscht zu. »Danach bin ich rauf zur Löwenquelle.«
Ein Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken. Selbst Héranon zeigte für einen Moment Respekt vor dem draußen tobenden Sturm. Er hustete ungesund, legte seine Pfeife auf die bereitstehende tönerne Schale und lehnte sich, Atem holend, zurück.
»Wenn ich eins in meinen Jahren als Waldhüter gelernt habe«, sagte er in düsterem Tonfall, »dann, dass in den Wäldern dieser Welt andere Gesetze herrschen, als uns Menschen lieb ist. Zwischen Wipfeln und Baumstämmen leben Kreaturen, die älter sind, als du dir vorstellen kannst. Sie bestimmen, was in ihrem Reich geschieht. Sie dulden uns, keine Frage. Doch nicht alle von ihnen sind uns wohlgesinnt.«
Schluckend verschanzte sich Léun hinter seinem Becher. Der Alte war offenbar nicht ganz bei Trost!
»Die Löwenquelle zählt zu den geheimnisvollsten Orten im ganzen Grünwald. In ihrem Umkreis geschehen seltsame, unerklärliche Dinge. Selbst die Zeit vergeht dort anders. Die Quelle ist …« Héranon brach ab, als er Léuns unverhohlenes Grinsen sah. »Weißt du, woher sie ihren Namen hat?«
»Ja, Waldhüter, aber …«
»Eben nicht«, fiel ihm dieser ins Wort. Er griff nach seiner ausgegangenen Pfeife. »Du weißt es eben nicht. Es hat nicht nur mit diesem Felsen zu tun. Die Löwenquelle ist ein magischer Ort!«
»Aber es gehen doch ständig Leute hin«, rief Léun mit einem unguten Gefühl. »Noch nie ist jemand verzaubert von dort zurückgekommen.«
»Stimmt, Kerl.« Tatkräftig stopfte Héranon seine Pfeife neu. »Trotzdem hast du dort etwas erlebt, das dich an deinem Verstand zweifeln lässt, nicht? Weshalb du im edelsten Gewand, das der Gott der Männer dir schenkte, bei Nacht durch den Wald geirrt bist!«
Léun schwieg betreten.
»Erzähl schon.« Der Waldhüter goss ihm Honigwein nach.
Léun rang mit sich. Sollte er ihm wirklich auf die Nase binden, dass er einen leibhaftigen Löwen auf dem Felsen gesehen hatte? Der noch dazu wie ein Mensch mit ihm gesprochen hatte, bevor er ihn anfiel und ihm mit seinen Krallen die Haut zerfetzte, wovon jetzt aber dummerweise nichts mehr zu sehen war? Ganz zu schweigen davon, dass er im Rachen des Löwen sämtliche Sterne des Alls erblickt hatte?
Nein, da kam ihm die Baumwurzel als Ursache der ganzen Probleme doch wesentlich überzeugender vor.
Wann genau bin ich nochmal gestürzt und ohnmächtig geworden?
Wenn er sich recht erinnerte, war der Löwe schon vorher auf dem Felsen erschienen. Das Vieh hatte doch erst dafür gesorgt, dass er stürzte! Davon abgesehen hatte es bestimmt nicht seine Kleider gefressen.
Oder?
Er leerte seinen Becher so schwungvoll, dass der Honigwein überschwappte und ihm in den Hemdkragen lief.
»Ist anscheinend eine komplizierte Geschichte«, stellte Héranon grinsend fest. Er hatte seine Pfeife wieder in Gang gebracht und blies einen vollkommen runden Rauchring zur Decke.
»Vergiss es«, knurrte Léun.
Der Waldhüter musterte ihn wieder mit halbgeschlossenen Augen.
»Wie alt bist du eigentlich, Kerl?«
»Sechzehn«, log er ohne zu zögern. So alt war Stán. Léun fand, er sah mindestens genauso erwachsen aus. Seine Stimme klang sogar ein bisschen tiefer als die von Stán. Das hatte ihm auch schon Arrec bestätigt.
»Das Alter stimmt schon mal nicht«, murmelte Héranon, ohne ihn anzusehen.
Léun spürte, wie er rot wurde. Wie hatte der Waldhüter das nur merken können?
»Geburtsmond?«, lautete abrupt die nächste Frage.
»Tríl«, antwortete er wahrheitsgemäß.
»Tatsächlich?«, grunzte Héranon, den Pfeifenstiel zwischen die Zähne geklemmt. »Ich wüsste ja zu gern …« Er unterbrach sich und paffte eine Weile grübelnd und schweigend.
»Was?«
Der Waldhüter machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Weißt du schon, was du mal werden willst?«
Léun schüttelte den Kopf.
»Irgendwas mit Holz würde mir gefallen. Zimmermann zum Beispiel.« Er überlegte. Arrec würde wohl oder übel Reishändler werden wie sein Vater, Stán schwärmte von der Fischerei.
»Ich könnte einen Lehrling gebrauchen«, meinte Héranon. »Wenn du dir zutraust, Holz zu schlagen und die wilde Sau zu erlegen, neue Waldpfade anzulegen und alte freizuhalten, Nächte durchzuwachen, viel allein zu sein und noch mehr dummes Gerede über dich ergehen zu lassen – dann ist der Posten des Waldhüters vielleicht etwas für dich. Du bist dein eigener Herr, musst aber umso härter schuften, willst du von deiner Arbeit leben.«
Ratlos zuckte Léun die Achseln.
»Überleg’s dir. Ist nur ein Angebot.« Héranon klopfte seine Pfeife aus. »So, Schluss für heute. Fast Mitternacht! Dein Schlafplatz ist oben, oder willst du bei dem Sturm noch nach Hause laufen?«
Auf der Galerie hatte Héranon Decken und Strohsäcke als notdürftiges Nachtlager hergerichtet. Während Léun es sich darauf bequem machte, wurde ihm bewusst, dass er sein Zeitgefühl völlig verloren hatte. Vermutlich war es schon später Abend gewesen, als er an der Quelle wieder zu sich gekommen war – und er hatte geglaubt, es wäre kurz nach Mittag. Bestimmt war er stundenlang bewusstlos gewesen.
Draußen heulte nach wie vor der Sturm ums Haus. Die Wandbalken ächzten, und durch die Fugen im Dach klangen manche Windstöße wie der unstete, zischelnde Atem eines Sterbenden. Léun fröstelte und zog sich die Decke bis unter das Kinn. Seine geschundene Haut brannte. Er war kein bisschen müde. Doch nicht nur der trommelnde Regen, gelegentliche Donnerschläge und der heulende Wind hielten ihn wach; auch die Vorstellung, von dem Ungeheuer mit den Reißzähnen verfolgt zu werden, sobald er nur die Augen schloss, raubte ihm den Schlaf. Nicht zu vergessen der Alptraum mit dem sprechenden Löwen auf dem Felsen.
Wenn es ein Traum gewesen war.
Zumindest hatte er die Attacke des Untiers heil überstanden. Das bewies doch, dass das alles nicht wirklich passiert war! Andererseits hatte es sich ziemlich danach angefühlt. Wenn man sich an einen Traum erinnerte, wusste man im Nachhinein immer, dass es ein Traum gewesen war, fand Léun. Doch wenn er sich jetzt den Moment in Erinnerung rief, als der Löwe ihn angefallen hatte, dann kam ihm dieser Moment genauso wirklich vor wie das Gebell von Grantis Hunden oder der einladende Bratenduft, den er in der Nähe von Waldhag gerochen hatte.
Die Löwenquelle ist ein magischer Ort, kamen ihm die Worte des Waldhüters wieder in den Sinn.
Quatsch, widersprach er in Gedanken. Du hast wohl ein paarmal zu oft die wilde Sau gejagt und zu viele Nächte durchgewacht.
Léun unterdrückte ein glucksendes Lachen und überlegte sich, wie es wohl wäre, Holz zu schlagen. Und alte Pfade freizuhalten, mit einer Art Dschungelmesser oder so.
Du musst umso härter schuften, willst du von deiner Arbeit leben, gab der Héranon in seinem Kopf zu bedenken.
Härter als Arrec bestimmt nicht, wiegelte er ab. Außerdem, das kriege ich hin.
Kriegst du nicht, sagte Arrec.
Wart’s ab, sagte Léun. Was du kannst, kann ich schon lange.
Ja, schon. Arrec grinste schelmisch. Aber nicht so gut wie ich.
Léun schnaubte empört und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien warm auf das Seeufer herab, und ein paar hoch oben dahingleitende Mauersegler stießen ihre sirrenden Rufe aus.
Was ist denn das Komisches?, rief er alarmiert.
Arrec hob verwundert den Kopf, um seinem Blick zu folgen. Blitzschnell stieß Léun ihm mit dem Handrücken freundschaftlich gegen die Nase.
Au … Idiot!, rief Arrec und musste doch lachen.
Sprichst von dir, was?, neckte er ihn.
Arrec schaute ihn skeptisch an.
Ashúra, sagte er dann.
Was?
Ashúra, wiederholte Arrec.
Léun schüttelte den Kopf.
Ich versteh kein Wort.
Ashúra è Káor khi malchû rábæ Ríyuu è láksonû don Yleriánt, sagte Arrec in überzeugtem Tonfall. Er heftete den Blick auf seinen Freund.
Auf einmal verzerrte sich seine Miene in purem Grauen.
Léun schreckte hoch – und ließ sich aufatmend wieder auf sein Lager zurücksinken. Es war noch stockdunkel, Donner grollte über Héranons Hütte hinweg.
Múfu, dem Gott der Nacht und des Schlafs, sei Dank! Der Alptraum hatte ihn verschont. Kein hungriges Raubtier hatte ihn durch die grenzenlose Ödnis gehetzt. Keine starrenden Pupillenschlitze und keine spitzen Reißzähne hatten ihn zur Beute auserkoren. Stattdessen hatte er ganz gewöhnlichen Blödsinn geträumt! Schade allerdings, dass er schon jetzt nicht mehr wusste, was für ein Kauderwelsch Arrec da von sich gegeben hatte. Sonst hätte er ihn am nächsten Tag damit aufziehen können.
Beim Gedanken an den entsetzten Gesichtsausdruck seines Freundes gruselte es ihn dagegen. Arrec hatte zutiefst erschrocken, ja bis ins Mark erschüttert ausgesehen. Fast als hätte Léun sich vor seinen Augen in ein hässliches Untier verwandelt.
Was sollte dieser Traum?
Er streckte sich und stellte fest, dass er hellwach war. Es musste sehr früh am Morgen sein. Er würde wohl kaum wieder einschlafen, bis die Sonne aufging. Eine Weile blieb er liegen und lauschte.
Im Haus war alles still. Von draußen drang neben mal fernerem, mal näherem Donner nur das gleichmäßige Rauschen der Bäume an seine Ohren. Der Sturm hatte also endlich nachgelassen. Ob Héranon schon im Wald unterwegs war? Vor dem Schlafengehen hatte er angedeutet, dass er am Morgen sehr früh arbeiten müsse. Rechtzeitig zum Frühstück wollte er wieder da sein.
Léun stand auf, schlüpfte in die geborgten Kleider und trat an den Rand der Galerie. Es war in der Dunkelheit schwer zu erkennen, aber wenn er recht sah, war Héranons Bett leer. Also hatte der Waldhüter das Haus bereits verlassen.
Hoffentlich war er ihm nicht böse, wenn er einfach verschwand. Doch die Sorgen seines Großvaters konnten nur schwerer wiegen. Besser, er war zum Frühstück zu Hause in Grünhag und erklärte ihm alles. Bei Héranon konnte er sich irgendwann später noch entschuldigen.
Als er zur Stiege schlich, knarrten die Holzbohlen der Galerie unter seinen Füßen. Langsam kletterte Léun hinunter. Auf dem Weg durch den unteren Raum blieb er mit dem zu weiten Saum seines Hemds an einem der Stühle hängen. Geistesgegenwärtig griff er nach der kippenden Lehne und kniff in Erwartung eines riesigen Getöses die Augen zusammen …
Er hatte Glück. Der Stuhl gab nur ein schwaches Ächzen von sich. Leise stellte er ihn wieder hin und tat vorsichtig die letzten Schritte bis zum Ausgang. Er schob den Riegel zurück, der sich geräuschlos öffnen ließ, stieß die Tür auf und trat ins Freie.
Die Luft war kühl und feucht und roch nach dem heraufziehenden Morgen. Léun genoss es, tief durchzuatmen, während er den Waldpfad nach Grüntal hinunterschlenderte. Mit ausgebreiteten Armen streifte er die nassen Zweige am Wegesrand, lauschte auf die Regentropfen, die jede Windböe von den Wipfeln der Bäume schüttelte, und auf die Laute von Tieren, die sich im Unterholz verkrochen hatten.
Jede Angst, die ihn gestern im Sturm gepeinigt hatte, war verflogen. Irgendwie konnte er sich durchaus vorstellen, Pfade wie diesen freizuhalten. Er würde Héranon unbedingt noch einmal genau zur Arbeit eines Waldhüters befragen müssen!
Als Léun den Waldrand erreichte, war die Schwärze des Himmels einem tiefdunklen Blau gewichen. Der Morgen zog herauf. Über den Wiesen Grüntals hingen Nebelschleier. Von den Bewohnern des Tals war weit und breit nichts zu sehen oder zu hören.
Wer schrieb ihm eigentlich vor, direkt nach Grünhag zurückzugehen? Sein Großvater schlief bestimmt, da spielte es keine Rolle, ob er jetzt gleich oder erst bei Sonnenaufgang nach Hause zurückkehrte. Unbeobachtet und ohne Verpflichtungen zu sein – das fühlte sich gut an. Er blieb stehen, überlegte kurz und beschloss, einen Umweg über den Mittleren See zu machen. Vielleicht konnte er noch eine Runde schwimmen, bevor er endgültig den Heimweg antrat. Vergnügt lief er los.
Es dauerte nicht lang, bis sich vor ihm die Umrisse eines Zauns abzeichneten. Dahinter lag ein Garten.
Granti!
Mit einem Schlag war die Erinnerung an gestern wieder da.
Lóbo und Çerbero.
Der Gedanke an die beiden Hofhunde brachte Léuns Blut zum Kochen. Wut und Rachedurst überkamen ihn, und etwas geschah mit ihm.
Fiel er ins Bodenlose?
Löste sich etwas um ihn herum auf, um sich neu zusammenzusetzen?
Einen Augenblick lang hatte er schreckliche, unbeschreibliche Angst. Doch schlagartig ruckte seine Welt zurück ins Lot. Mit einem Mal fühlte er sich prächtig, ungeheuer stark und den Biestern mehr als gewachsen. Sie hatten eine Lektion verdient, die sie ihr Leben lang nicht vergessen würden!
Mit einem Satz war er auf der anderen Seite des Zauns. Lautlos und geschmeidig huschte er um Grantis Haus herum – er war selbst erstaunt darüber, wie leicht ihm das alles fiel. Die Fenster waren geschlossen, doch sogar hier draußen konnte er die Alte laut und deutlich schnarchen hören. Außerdem roch er etwas: die faulige, schweißige Duftnote der schwarzen Köter.
Er folgte der Spur und erreichte eine Hundehütte. Hier hausten sie also. Er näherte sich dem Loch, das den Eingang darstellte. Angst hatte er keine.
Aber dieser Gestank, als er den Kopf hineinsteckte!
Noch bevor die beiden Hunde den Eindringling überhaupt bemerkten, packte er den ersten bei seinem speckigen Nacken und biss mit aller Kraft zu. Es knackte dumpf zwischen Léuns Zähnen, er schmeckte Blut. Angewidert ließ er von seinem Opfer ab. Sein Blick fiel auf den zweiten Hund. Lóbo – oder war es Çerbero? Egal. Er stupste ihn an.
Der Köter schreckte auf, stieß ein unterdrücktes Knurren aus. Die Laute gingen in ein Winseln über, und einen Moment lang war Léun irritiert. Genug Zeit für das verängstigte Hundebiest, sich mit scharrenden Pfoten an ihm vorbei zu arbeiten und hinaus in den Garten zu fliehen.
Léun zog sich ebenfalls ins Freie zurück. Mit einem gewaltigen Satz holte er den rasend gewordenen Hund ein und packte zu. Das Tier wollte sich seinem Griff entwinden, Léun spürte etwas Zähes unter seinen Fingern einreißen, lautlos, wie die Haut kalt gewordener Milch.
Der Hund fiel zu Boden und blieb liegen. Ein leises Jaulen, ein ächzendes Fiepen, dann rührte er sich nicht mehr. Das Gras neben ihm begann sich schwarz zu färben. Der Gestank raubte Léun schier den Atem.
Er wandte sich ab, sprang über den Zaun und verließ Grantis Grundstück. Der Gedanke, ein Bad zu nehmen, erschien ihm jetzt abwegig. Wer konnte schon ahnen, welche Gefahren in den Untiefen des Mittleren Sees lauerten! So schnell er konnte, lief er in nördlicher Richtung los.
Wenig später tauchten menschliche Behausungen vor ihm auf. Grünhag. Zielstrebig eilte er zur Hütte seines Großvaters. An der Haustür angekommen, stellte er fest, dass sein Atem so ruhig ging wie kurz vor dem Einschlafen.
Er gähnte ausladend, sein enormer Kiefer knackte. Geräuschvoll ließ er das Gebiss wieder zuschnappen. Eine unerklärliche, geradezu bleierne Müdigkeit hatte ihn befallen. Er musste sich unbedingt ausruhen, nur einen Moment lang!
Schwerfällig ließ er sich vor der Türschwelle nieder, bettete den Kopf auf ordentlich übereinandergelegte Pranken, schloss die Augen und war im nächsten Moment eingedöst.