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F. Richterrecht
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Im Regelfall stellt Richterrecht keine klassische Rechtsquelle des Strafverfahrensrechts dar. Lediglich in speziell geregelten Ausnahmefällen entfalten gerichtliche Entscheidungen eine unmittelbare Bindungswirkung für die weitere strafprozessuale Rechtsanwendung. Zu nennen sind etwa die folgenden Regelungen:
– | § 358 Abs. 1 StPO, dem zufolge ein unterinstanzliches Gericht, an welches eine Strafsache nach erfolgreicher Revision verwiesen wird, seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen hat.[209] |
– | § 31 Abs. 1 BVerfGG, wonach grundsätzlich[210] eine Bindung aller Gerichte und anderer Einrichtungen an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besteht.[211] |
Jenseits dieser Fälle kann eine Rechtsprechung üblicherweise nur dann Rechtsquellenstatus entfalten, wenn sie sich zu Gewohnheitsrecht verdichtet hat[212]; jedoch ist die Bejahung des Vorliegens von Gewohnheitsrecht an strenge Voraussetzungen geknüpft[213], sodass derartige Konstellationen im Strafverfahrensrecht höchst selten sein dürften.[214] Eine weitere Besonderheit gilt für Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), denen durch das Bundesverfassungsgericht und den Bundesgerichtshof eine spezifische Bedeutung für die Anwendung deutschen Rechts beigemessen wird. (Vgl. hierzu oben Rn. 17).
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In sonstigen Fällen stellen gerichtliche Entscheidungen regelmäßig keine Rechtsquelle im engeren Sinne dar[215], da sie keinerlei strikte Bindungswirkung für die weitere Rechtsanwendung entfalten. Gegen die Annahme einer Bindungswirkung spricht bereits die positivrechtliche Überlegung[216], dass die genannten spezialgesetzlichen intergerichtlichen Bindungsnormen andernfalls ebenso überflüssig wären wie gesetzliche Vorschriften zur materiellen Rechtskraftwirkung einer Gerichtsentscheidung.[217] Ein striktes Präzedenzverständnis ist der deutschen Rechtsordnung demnach grundsätzlich fremd.[218] Wie Hassemer zutreffend ausführt, werden frühere richterliche Entscheidungen „nicht unbesehen als Geltungsgrund einer neuen, heutigen Sachverhaltsentscheidung“ in Bezug genommen, „sondern nur nach einer methodologischen Übersetzung auf den neuen Fall und in den derzeitigen Entscheidungshorizont“.[219] Aus einer bloß chronologischen Priorität eines Judikates kann demnach kein normativer Vorrang gegenüber späteren justiziellen Entscheidungen hergeleitet werden.[220]
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Allerdings lassen sich zumindest die Rechtssätze der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung als Rechtserkenntnisquellen klassifizieren. Hierfür spricht bereits der rein tatsächliche Umstand, dass derartige Rechtssätze in späteren Entscheidungen desselben Gerichts oder anderer Gerichte häufig in Bezug genommen werden.[221] Sicherlich sind derartige Referenzen mitunter dem bloßen praktischen Bedürfnis eines gerichtlichen Rechtsanwenders geschuldet, eine Entscheidung zu verfassen, die im Einklang mit der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung steht und deshalb als rechtsmittelfest gilt.[222] Allerdings dürfte diese praktische Erwägung keineswegs der einzige Grund sein. Vielmehr sind die genannten Referenzen im Hinblick auf das Prinzip der Rechtssicherheit auch durchaus geboten: Ebenso wie die Wissenschaft besitzt die Rechtsprechung eine ausgeprägte normative Bedeutung für die Präzisierung strafprozessualer Normen. Hinzu kommt, dass im Strafverfahrensrecht kein striktes Gesetzlichkeitsprinzip nach Art. 103 Abs. 2 GG gilt[223], sodass etwa auch Analogien zulässig sein können[224], wodurch die Bedeutung der Rechtspraxis für die Rechtsgenese nochmals erhöht werden dürfte.