Читать книгу Die Chroniken von 4 City - Band 1-3 - Manuel Neff - Страница 15
Oberin
ОглавлениеDer Haupteingang des sogenannten Towers ähnelt europäischen Kathedraleneingängen. Er ist mit zahlreichen Tiersymbolen wie Salamandern und Eulen verziert. Zwei Nischen flankieren den Eingang: Eine beherbergt die Statue des Masters, die andere die seines Vaters.
Love wird von den Schrottsammlern in die Lobby geschoben. Der Boden besteht aus gepflastertem Marmor und die Decke wurde aus Buntglas gefertigt, durch welches das Tageslicht hereinfällt.
Love weiß gar nicht, wohin sie zuerst schauen soll. Jeder Zentimeter dieses Gebäudes will begutachtet und bewundert werden. Sie wird in einen Raum neben der Lobby geführt, wo bereits mehrere Frauen auf sie zu warten scheinen. Die hintere Wand besteht aus einer Fensterfront. Vor dem Fenster ist eine breite, dunkle Couch positioniert. Ein silbergrauer Teppich liegt vor einer Badewanne aus schwarzem Keramik. Gaslampen sind an Stahlträgern angebracht, die an der hohen Decke entlanglaufen. Als eine der Frauen den Schalter drückt, entflammt eine Lampe nach der anderen.
Die Frauen beginnen sich, um Love zu kümmern. Als wäre sie eine Schaufensterpuppe und keine echte junge Frau, lässt sie die Prozedur über sich ergehen. Es sind ihre Überlebensinstinkte, die sie davor warnen, etwas Unüberlegtes zu tun oder zu versuchen, sich zu früh für den Mord ihres Vaters und ihrer Geliebten zu rächen. Mehrere Schrottsammlerinnen des fremden Clans ziehen Love splitterfasernackt aus und beginnen ihre Wunden zu versorgen, zu verbinden und sie von oben bis unten zu waschen. Sie schneiden ihre verbrannten Haare ein Stück ab. Abschließend wird sie wieder angezogen. Sie vermutet, dass sie jetzt zum Harem des wohl mächtigsten Masters in ganz 4-City gehört. Und das, weil er ihren Vater betrogen hat. Durch eine Täuschung, durch die vorgetäuschte Absicht, Love zu heiraten. So ist er kampflos in den Bezirk ihres Vaters eingedrungen, hat ihn verraten und ermordet. »Man darf niemandem trauen und ganz besonders keinem Schrottsammler«, denkt Love und beißt die Zähne zusammen, als die Frauen sie endlich alleine lassen und sie sich mit ihrer neuen, kurzen Frisur für einen Moment in der Fensterfront betrachtet.
Sie könnte glücklich darüber sein, dass sie viel mehr ihrer Mutter gleicht als ihrem Vater. Die weiße Haut, die blonden Haare, die blauen Augen mit einem Hauch grün darin. Im Grunde sieht sie ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich. Anders als Lea. Deshalb und vermutlich nur deshalb ist Lea nun tot und Love noch am Leben.
Sie könnte sich dafür hassen, sie könnte über den Verlust der beiden weinen, aber alles, was sie spürt, ist Hass. Abgrundtiefen Hass, der ganz allein nur auf eine einzige Person abzielt. Alle anderen sind nur Spielfiguren in dem Schachspiel der Master. So ist das eben bei den Schrottsammlern. Schlägst du der Schlange den Kopf ab, dann wächst ein neuer nach und der ganze Rest folgt erneut dem neuen Clanoberhaupt. Loves Plan ist also denkbar einfach. Sie wird der Schlange den Kopf abtrennen und selbst den Platz des Masters einnehmen. Das ist es, was ihr Vater von ihr erwarten würde. Das ist sie Drave und Lea schuldig. »Das würde er doch von mir erwarten«, denkt Love. Er würde doch sicher nicht wollen, dass sie flüchtet, nur um ihr eigenes Leben zu retten. Sie wird den Master töten, die Frage ist nur, wie und wann. So lange muss sie mitspielen, auch wenn sie über ihren Schatten springen, sich demütigen oder Dinge tun muss, für die sie sich eines Tages hassen wird. Sie ist es ihren Lieben schuldig.
Jemand betritt den Raum. Love sieht in dem Glas der Fenster das Spiegelbild einer älteren Frau. Sie hat eine hagere Gestalt und ihre Gesichtszüge sind hart und emotionslos. Ihre Bewegungen und ihre Ausstrahlung haben jedoch auch etwas Reines und Unergründliches an sich. Etwas, das hinter der Härte verborgen liegt. Vielleicht war sie einmal ein guter Mensch.
»Man nennt mich die Oberin«, stellt sie sich vor. »Ich kümmere mich um dich, so lange du hier bist.« Während sie spricht, holt die Oberin einen metallenen Reif aus ihrer Rocktasche.
»Jede von euch bekommt so einen Ring. Es handelt sich nicht um Schmuck, es ist das Symbol dafür, dass du nun eine Sklavin bist.«
Love betrachtet die winzigen Abstufungen in dem Material und die kleinen Metallplatten, die man mit dem richtigen Werkzeug oder vielleicht auch mit roher Gewalt lösen kann, um das zu studieren, was darunter liegt. In seinem Inneren ist eine Technik versteckt, da ist sie sich sicher.
Dann legt die Oberin das Band eng um Loves Hals und verschließt es hinten im Nacken. Damit ist Loves verschönernde Prozedur beendet. Ihr Körper steckt nun in einem enganliegenden braunen Kleid, das bis zu den Knien reicht. Sie würde es durchaus als hübsch und elegant bezeichnen, wenn sie nicht wüsste, von wem es stammt. Loves Füße und Beine wurden in hochgeschnürte Stiefel gesteckt und mit Lederbändern bis knapp unterhalb der Knie festgezurrt. Das gekürzte, noch leicht feuchte und gekämmte Haar steht ihr frech vom Kopf ab. Links wurde eine längere ursprüngliche Strähne mit einer Haarnadel zusammengesteckt. Zuletzt wurde sie geschminkt. Love hat sich noch nie geschminkt. Das Zeugs verwischt nur, wenn man wie sie die meiste Zeit in der Werkstatt verbringt und sich selbst mit den Fingern beim Überlegen und Tüfteln im Gesicht herumfummelt oder bei körperlicher Arbeit ins Schwitzen gerät. Doch sie muss zugeben, dass die Frauen guten Geschmack bewiesen haben. Das Make-up ist dezent aufgetragen und betont ihre leicht kantigen, attraktiven Gesichtszüge. Jetzt wird sie von der Oberin in einen anliegenden Flur geführt. Vermutlich könnte Love die Frau mit Leichtigkeit überwältigen und fliehen, aber ihr Instinkt rät ihr, das nicht zu tun. Es geht nicht darum, zu entkommen. »Ich werde ihn töten«, flüstert sie immer wieder leise in ihrem Innern und bereits jetzt wird es zu ihrem ganz persönlichen Mantra, so lange, bis es vollbracht sein wird.
Ganz anders als ihr Vater, legt dieser Master Wert auf Extravaganz und Reichtümer. Hier finden sich neben den Wandgemälden an den Seitenwänden alle möglichen Arten von Verzierungen, allen voran etliche Vampir- und sonstige Gruselköpfe, von denen jeder einzelne individuell modelliert ist.
»Das nenne ich wahre Liebe zum Detail«, denkt Love. Von der Decke hängen hier und da Tropfsteine so niedrig herab, dass man sie ohne Probleme anfassen und aus nächster Nähe bewundern kann. Unterhalb der Gemälde führen mehrere Türen in dahinterliegende Räume.
»Schrottsammler ist nicht der richtige Ausdruck. Schmucksammler wäre zutreffender«, sagt Love, aber die Oberin schweigt.
Sie kommen in einen normalen und relativ einfachen Gang. Hier befindet sich auch Loves Zimmer, das an Bescheidenheit kaum zu unterbieten ist. Es handelt sich um eine Besenkammer mit einem Bett und einem kleinen Waschbecken darin. Das Fenster ist vergittert und winzig. Als die Tür hinter ihr verschlossen wird, setzt sich Love auf das schmale Bett und schaut die Wand an, die sich nur in einen halben Meter von ihr entfernt befindet. Jetzt, wo sie allein ist, ist ihr nach Weinen zumute, aber sie schluckt die Tränen tapfer hinunter. Sie sitzt da und wartet ab, was das Schicksal noch für sie parat hat. Ihr Vater hat einmal gesagt, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern nur ein Übergang zu etwas Neuem. Ob das besser oder schlechter ist als das Leben davor, hängt davon ab, wer man war. Was man gedacht, getan und ertragen hat. Das sei das Gesetz von Karma.
»Es kann nur besser werden«, denkt Love im einen Moment und »was für ein schlimmer Mensch muss sie in ihrem letzten Leben gewesen sein«, denkt sie in einem anderen Augenblick. Doch ihr gelingt es, sich nicht mit diesen Gedanken zu identifizieren. Weitere Gedanken kommen und gehen und Love ist mehr und mehr dazu in der Lage, diese einfach zu beobachten und wieder davonziehen zu lassen. Wie Wolken am Himmel. Je länger sie das tut, desto ruhiger wird ihr Geist, bis sie letztlich nur noch dasitzt und atmet und alles in ihr und um sie herum ganz ruhig geworden ist. Selbst ihre Absicht, den Mann zu töten, den sie über alles hasst, ist gerade unwichtig geworden. Dann hört sie Stimmen draußen auf dem Flur und sie erinnert sich an die letzten Worte ihres Vaters: »Deine Mutter lebt. Sie ist wie du.« Sie setzt sich ein Ziel, für das es sich auf jeden Fall zu leben lohnt. Ein Ziel, das ihr noch wichtiger erscheint, als Rache. Sie will ihre Mutter finden.
Die Tür geht auf.
»Es ist Zeit«, sagt die Oberin.