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Die Entscheidung des Masters

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Alle Härte entweicht aus Draves Gesicht. Die Ursache ist seine Tochter, die ihm in der Lobby gegenübertritt. Allein ihr Aufzug könnte ihn rasend machen. Jeans und Schafspulli sind einer Prinzessin unwürdig. Er würde sie lieber in einem eleganten königsblauen Seidenkostüm und mit Ohrringen in Form silberner Spiralen sehen, aber Drave schafft es - wie immer - über diese Lappalie hinwegzusehen. Nach dem Verlust ihrer Mutter ist Love das einzig Schöne, das ihm noch neben den Pflichten als Master geblieben ist.

»Vater«, begrüßt ihn Love mit einem atemberaubenden Lächeln und beschleunigt ihre Schritte, um ihm um den Hals zu fallen. Sie weiß genau, wie sie ihn um den Finger wickeln kann, und der Master lässt es nur zu gerne zu.

»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagt er und blickt in die Tiefen ihrer wunderschönen Augen.

»Ich hoffe nicht so ein Abscheuliches, wie das letzte Mal.« Drave versucht, sich zu entsinnen, aber schon nach wenigen Augenblicken der Ratlosigkeit gibt er es auf. Er kann sich an keine Abscheulichkeit aus einem zurückliegenden Streifzug erinnern. Statt sich weiter den Kopf zu zerbrechen, befiehlt er mit rauem Ton zwei Schrottsammler in die Empfangshalle. Sie schleppen eine kleine eisenbeschlagene Holzkiste herein.

»Wow, ein Piratenschatz für mich? Papi, du weißt doch, dass ich mir nichts aus Reichtümern mache.«

Der Master blickt seine Tochter wütend an.

»Nenn mich nicht so. Nicht wenn meine Männer zuhören!«

»Klar Paps. Habs kapiert.«

Er seufzt. Weitere Untertanen folgen und schleifen etwas Großes herein. Es handelt sich um Loves Rekonstruktion. Sie stellen den riesigen Fotoapparat direkt neben der Kiste ab.

Love zieht eine Augenbraue hoch.

»Ihr könnt wieder gehen«, befiehlt sie den Schrottsammlern. »Oder kommen noch mehr Geschenke?«

Sie blicken unschlüssig zu ihrem Master auf. Drave nickt und anschließend ziehen sie sich rückwärts buckelnd zurück. Einer stolpert dabei über seine eigenen Füße, was Love zum Schmunzeln bringt. Dann gehört ihre ganze Aufmerksamkeit der Kiste.

»Was ist da drin?«

»Ein Schatz«, lächelt ihr Vater.

Love verliert keine Zeit und öffnet ungeduldig den Deckel. Was sie darin sieht, lässt ihr Herz schneller schlagen. Sie legt beide Hände an ihre Wangen und starrt stumm in die Truhe.

Bücher. Bücher. Bücher. Viel mehr, als dass sie imstande wäre, innerhalb einer Woche zu lesen. Sie löst sich aus ihrer Starre und berührt die Oberfläche eines der obersten Exemplare. Ein schwarzer Ledereinband und silberne Letter. Troja ist der Titel.

Sie streicht über andere, liest die Namen der Folianten und flüstert sie leise vor sich hin. Mobby Dick. Don Quijote. Der Alchimist.

Selten zuvor hat Love so gut intakte Einzelstücke gesehen. Als wären sie konserviert worden, um Jahrhunderte zu überstehen.

»Wo hast du sie her?«, fragt sie atemlos.

Der Master tritt an den riesigen Apparat heran, öffnet an der Seite eine Klappe und zieht den Inhalt aus dem darunter entstandenen Schlitz. Er begutachtet es zufrieden und unübersehbar entzückt von den Fertigkeiten seiner Tochter. In seinen Augen ist sie die intelligenteste, schönste und geschickteste aller Schrottsammler. Ihre Fähigkeiten, Dinge aus der Alten Welt zu rekonstruieren, und funktionsfähig zu machen, suchen ihresgleichen. Stolz überreicht er ihr das Foto.

»Das ist der Ort«, raunt er.

Love betrachtet das Bild und die fremden Schriftzeichen. Es ist keine Sprache, der sie mächtig ist, aber sie fasst in diesem Moment einen Entschluss. Sie wird die Hieroglyphen auf jeden Fall entschlüsseln.

»Ich habe noch eine Überraschung für dich«, flüstert ihr Vater verschwörerisch.

»Nimmst du mich auf den Arm?«, fragt sie ihn, während sie das Foyer verlassen und die privaten Gemächer betreten. Auch hier sieht es nur unwesentlich ordentlicher aus. Es liegt nicht in der Natur eines Schrottsammlermasters, in seinen vier Wänden für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen. Es gefällt ihm, wie es ist. Er mag es, all die Dinge chaotisch angehäuft herumliegen und übereinandergestapelt zu sehen. Das Chaos erinnert ihn daran, wer er ist und Love wird den Teufel tun und sich in diese Intimität einmischen.

Sie setzen sich auf das Ledersofa vor dem offenen Kamin. Bis auf die zerfetzten Lehnen scheint es noch gut intakt zu sein. Im Gegensatz zu dem Schornstein, in dem schon seit einem Jahrhundert kein Feuer mehr gebrannt hat. Stattdessen stapeln sich auf der Feuerstelle Straßenschilder des Bezirks.

»Also?«, fragt Love.

»Also was?«

»Die Überraschung!«

»Im Grunde gibt es sogar zwei«, sagt der Master.

Love wird skeptisch. Verengt ihre Augen zu Schlitzen. Sie hat es im Gespür, wenn ihr Vater etwas im Schilde führt. Sie liest seine Gestik. Die verschränkten Arme hinter dem Kopf verheißen nichts Gutes, verraten Love, dass er den Gedanken bereits abgeschlossen und dass er eine Entscheidung getroffen hat. Was auch immer es ist. Sie hält es kaum noch aus, will endlich wissen, was er beschlossen hat und um was für Überraschungen es sich handelt.

Der Master zieht ein weiteres Buch unter dem Ledermantel hervor. Wow. So viel Empathie hat sie ihm nicht zugetraut. Love ist eine leidenschaftliche Leserin, hat sogar schon eigene Texte verfasst. Sie nimmt es entgegen.

»Es ist zerrissen und zerfleddert.«

»Das macht nichts. Ich krieg das wieder hin. Es ist alt«, ergänzt sie.

»Zwei Jahrhunderte oder mehr, um genau zu sein«, sagt ihr Vater.

»Woher weißt du ...«, beginnt sie, aber dann hat sie eine der losen Seite in den Händen und sieht es selbst. Es ist ein Tagebuch und der letzte Eintrag liegt lange vor der neuen Zeitrechnung zurück. Tatsächlich sind seitdem über 200 Jahre vergangen. »Ihr Name war Aurora«, flüstert Love und kann es kaum erwarten, es zu lesen. Memoiren gehören zu ihrer Lieblingslektüre. Es gibt nichts Spannenderes und Authentischeres. Love interessiert sich sehr für die Alte Welt. Damals gab es noch keine Schrottsammler und keine Steamborgs. Die Menschen lebten in Ländern, die seltsame Namen trugen. Zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika.

Hunderte Millionen dienten unter einem Präsidenten. Unvorstellbar! Ihr Vater ist der Master von einem Schrottsammlerclan. Es gibt noch mindestens zwei weitere Clans, vielleicht auch mehr. Jeder herrscht über ein paar tausend Menschen und es ist unausdenkbar, dass alle Schrottsammler nur einem Master dienen würden. Zu groß sind die Differenzen, die Besitzansprüche, die Lebensgewohnheiten und das, obwohl sie alle zur gleichen Gruppierung gehören.

»Ich werde dich verschenken«, stößt ihr Vater plötzlich hervor und reißt Love aus ihren Gedanken. »Dein Mann wird einmal der Nachfolger eines Masters.« Love fällt die Kinnlade herunter. »Die Steamborgs haben an Macht dazugewonnen und wagen sich erstaunlich weit in unser Territorium. Wir müssen uns verbünden, um stärker zu werden und um sie zum Teufel zu jagen. Eine Möglichkeit, um zwei Clans zu vereinen, ist eine Hochzeit.«

»Niemals!«, schreit Love.

Die Chroniken von 4 City - Band 1-3

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