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Machtverhältnisse

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»Lass uns verschwinden! Pack das Nötigste zusammen. Wir hauen noch heute Nacht ab.«

Love zerrt ihre Freundin hinter sich her. Lea versteht nicht, was los ist. Seit Love zurückgekehrt ist, ist sie noch weniger zu bremsen als sonst und nicht mehr zu beruhigen. Etwas Schreckliches muss passiert sein.

»Geht es deinem Vater gut?«, fragt Lea aus gutem Grund. Sie kennt den Verhaltenskodex unter den Schrottsammlern. Ein Clan verhält sich wie ein Löwenrudel. Sie weiß, wie schnell und blutig sich die Machtverhältnisse neu ordnen können, vor allem dann, wenn den amtierenden Master so langsam das Alter zeichnet oder er unverhofft aus dem Leben scheidet.

Ist Love womöglich in Gefahr? Wurde ihr Vater gestürzt oder im Kampf schwer verwundet? Müssen sie deshalb verschwinden, weil die Anwärter auf den Titel den Befehl erteilt haben, Love, der einzigen Erbin des Masters, die Kehle durchzuschneiden? Bei diesem Gedanken läuft es Lea eiskalt den Rücken runter. Nicht weil das auch ihr eigenes Todesurteil wäre, sondern weil sie Love liebt. Sie ist dieser frechen, ungezähmten, belesenen, intelligenten, wunderhübschen ...

»Er ist wahnsinnig geworden«, unterbricht Love die Gedankengänge ihrer Freundin und ihrer heimlichen Geliebten.

»Verrückt?«, fragt Lea und weiß nicht, ob das besser ist als tot.

»Er will mich verheiraten. Arrangiert. Stell dir das doch nur einmal vor!«, tobt die Prinzessin und wirft einen einfachen ledernen Koffer auf ihr Bett. Das gute Stück ist wie so vieles andere auch ein Mitbringsel ihres Vaters von seinen zahlreichen Streifzügen durch 4-City. Bislang hat sie für ihn nie eine Verwendung gefunden, lediglich mit dem Gedanken gespielt, aber das wird sich jetzt ändern. Wutentbrannt stopft Love wahllos alle Kleidung hinein, die ihr zwischen die Finger gerät. Plötzlich wendet sie sich Lea zu, schnappt sie sich und drückt ihr einen festen Kuss mitten auf den Mund. Mit einem Schmatzen löst sie sich wieder von ihr, wendet sich fluchend erneut dem Koffer zu und lässt ihre Freundin völlig perplex zurück.

Lea wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen.

»Wen sollst du heiraten?«, fragt sie unbedacht und bereut es sofort. Love schleudert ein paar hochhackige Schuhe in den Koffer, dreht sich wie eine Furie um und ihre Augen blitzen gefährlich.

»Das spielt doch überhaupt keine Rolle! Es wird schon irgendein hirnloser Depp sein, der meint, er wäre was Besseres, weil er als Sohn von einem Schrottsammlermaster auf die Welt gekommen ist. Oder noch schlimmer, weil sein Vater den amtierenden Master umgebracht hat. Bei den Wilden da draußen blickt man ja nicht mehr durch. Unser Clan scheint der einzig Beständige zu sein. In den anderen geht es zu wie bei tollwütigen Hyänen. Fressen oder gefressen werden. Pah! Vermutlich hat der Wüstling nur eines im Hirn. Nicht mit mir! Oh nein!«, brüllt sie. »NICHT MIT MIR!«, brüllt sie und schaut Lea wutentbrannt in die Augen.

»Aber was ist das? Sind das etwa Tränen?«, denkt Lea.

»Ich bin eine Prinzessin«, schluchzt Love nun flehentlich und setzt sich rücklings aufs Bett. Vergräbt ihr Gesicht in den Händen und weint leise.

»Scht«, flüstert Lea und setzt sich neben sie, einen Arm um sie gelegt. »Es wird schon alles wieder gut«, tröstet sie die Prinzessin, drückt Love und nimmt sie in den Arm.

»Du wirst Wochen brauchen, um alle zu lesen«, versucht Lea, vom Thema abzulenken und deutet auf die Truhe.

»Die Bücher sind immerhin ein Fünkchen Hoffnung, dass mein Vater mich besser als gedacht zu kennen scheint. Aber ich werde niemals, niemals diesen Schrottsammler heiraten.«

»Scht«, haucht Lea und streichelt ihr über die Haare. Ihre Lippen treffen erneut auf die von Love. Der Atem der Prinzessin beruhigt sich. Ihr Herzschlag verlangsamt sich und ihre wütende Zunge wird von Leas gezügelt.

Zusammen setzen sie sich auf den Boden vor die Truhe und holen sorgfältig ein Buch nach dem anderen heraus. Love geht davon aus, dass ihr Vater höchst persönlich die Werke hineingelegt hat. Oder vielleicht hat er auch einen Schrottsammler unter Androhung, ihn zu köpfen, dazu angewiesen, die Bände umsichtig zu behandeln.

»Eventuell ist auch ein Buch über Fotografie dabei«, mutmaßt Lea und Love hofft, ihr Vater hat in der Tat eines gefunden. Sie wartet schon seit Monaten darauf, dass er ihr ein solches mitbringt. Vermutlich wird sie sich aber selbst aufmachen müssen und den Bezirk das erste Mal in ihrem Leben verlassen, um die große weite Welt von 4-City eigenständig zu erkunden.

Love zieht das nächste Exemplar heraus und wahrhaftig, sie hat Glück. Digitale Fotografie steht auf dem Einband. Wie sie ihren Vater dafür liebt. Er hält seine Versprechen immer ein. Love betrachtet die farbige Hülle und fragt sich, was nochmal das Wort digital bedeutet.

Dann plötzlich schießen die Gedanken wieder empor. »Wird er es wirklich tun und mich verheiraten?« Wird er sie mit dem Sohn eines fremden Clanmasters vermählen? Aus politischen Gründen? Wie ekelerregend. Lea legt eine Hand auf ihre Schulter.

»Willst du mir daraus vorlesen?«, fragt sie und hält Love das zerrissene Tagebuch hin. Love nickt.

Die Chroniken von 4 City - Band 1-3

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