Читать книгу Puppenrache - Manuela Martini - Страница 6
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ОглавлениеSara?«
Eine Stimme drang durch dichten Nebel zu ihr. Sie kannte die Stimme. Es war die von Hai. War sie eingeschlafen? Aber wenn es tatsächlich Hals Stimme war, dann musste sie bei der Arbeit sein, im Supermarkt, an der Kasse –
Puppe ...
Das hatte sie nicht geträumt, oder? Das war real gewesen. Er hat es wirklich gesagt. Sie schlug die Augen auf. Oder nicht?
Lisas und Hals Gesichter kamen in ihr Blickfeld. Die beiden knieten neben ihr und Hal hatte sich über sie gebeugt. Und sie ... sie lag auf den Fliesen, neben ihrem Drehstuhl.
Sie schüttelte Hals Hand ab, die warm und schwer auf ihrem linken Arm lag.
»He, ich muss deinen Puls ...« , protestierte er.
»Was ist nur los mit dir? Ist alles in Ordnung?«, fragte Lisa und drängte Hal zur Seite. Ihr schwarzer Pagenkopf war ganz nah.
»Ja, ist schon wieder okay«, murmelte Sara und versuchte aufzustehen. Ihr Arm knickte ein. Lisa half ihr.
»Hal, bring ihr ’ne Cola!«
Hal verschwand. Lisa half ihr auf den Stuhl und dirigierte die Leute an die übrigen Kassen.
Sara klammerte sich an Lisas Arm und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Doch plötzlich war sie wieder da, die Angst. Übermächtig nahm sie Saras Körper in Besitz, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.
Nein, sie hatte nicht geträumt.
Puppe ...
Wo war der Typ? Eben war er doch da gewesen, oder? Er hatte direkt vor ihr gestanden. »Wo ...?« Hektisch schaute Sara sich um und suchte unter den vielen Gesichtern nach dem einen.
»Was ist denn passiert, Sara?«, wollte Lisa wissen.
Wie sollte sie Lisa das nur erklären? Sie hob ihre Hand und wischte den kalten Schweiß ab, der sich wie ein klebriger Film auf ihrer Stirn gebildet hatte. »Ich weiß nicht, ich hab niedrigen Blutdruck ...«
Hal kehrte mit der Cola zurück.
»Trink! Zucker und Koffein tun gut«, sagte Lisa und drehte den Verschluss auf.
Dankbar griff Sara nach der Flasche und trank. Wieder ließ sie ihren Blick über die Gesichter der umstehenden Kunden schweifen. Erschrocken stellte sie fest, dass die Leute sie neugierig musterten. Sie merkte, wie ihre Hand zitterte. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet. Vielleicht hatten ihre Nerven ihr einfach nur einen Streich gespielt. Aber hatte er nicht genauso gegrinst? Genauso gesprochen? Und doch konnte es nicht sein. Es war einfach unmöglich.
»Es geht schon wieder, danke«, sagte Sara und gab Lisa die Flasche zurück.
»Bist du sicher?«, fragte Lisa besorgt und stellte die Flasche neben die Kasse.
Sara nickte und versuchte sogar ein Lächeln. »Wirklich, ich weiß auch nicht – vielleicht hätte ich heute Morgen doch mehr frühstücken sollen.« Sie zuckte die Schultern, als wäre sie selbst über sich erstaunt. »Kommt nicht wieder vor«, versicherte sie hastig. »Ich mach dann mal weiter.«
»Na gut.« Lisa seufzte. »Du siehst ja, wie viel hier los ist. Freitag halt. So schnell krieg ich keinen Ersatz für dich.«
»Ja«, sagte Sara, »kein Problem, wirklich, es geht.«
Lisa musterte sie noch mit einem längeren Blick, nickte dann aber und ging an die letzte Kasse, die sie nur aufmachte, wenn wirklich sehr viel Betrieb war.
»Kommen Sie rüber zu mir«, sagte sie zu den Leuten in der Schlange und Sara blieb noch ein wenig Zeit durchzuatmen.
Sie trank den Rest Cola und versuchte, den Vorfall aus ihrem Gehirn zu löschen.
Um zehn nach fünf nahm sie die Geldschublade aus der Kasse und lieferte sie bei Lisa im Aufenthaltsraum ab, die nachzählte, ob der Betrag auf der Kassenrolle mit dem Inhalt der Geldschublade übereinstimmte. Während Lisa zählte, musste Sara wieder an den Vorfall denken – das Gesicht wollte einfach nicht aus ihrem Kopfverschwinden, ganz egal, wie sehr sie sich auch bemühte.
»Es fehlen vierzig Dollar fünfundachtzig, Sara.« Lisa sah sie vorwurfsvoll an, doch nur eine Sekunde später nahm ihr Gesicht einen sorgenvollen Ausdruck an. »Was ist nur los mit dir?«
Sara zuckte die Schultern.
»Du hast falsch rausgegeben. Vielleicht waren zwei Scheine zusammengeklebt ...« Lisa seufzte. »Tja, die 40 Dollar müsste ich dir eigentlich vom Lohn abziehen, aber ... bist du krank?«
»Nein.«
»Schwanger?«
Sara erschrak und fasste sich unwillkürlich an den Bauch. »Nein!«
»Sicher?«
»Ja!«, sagte Sara ärgerlich. Stephen und sie benutzten immer Kondome.
Lisa zögerte, dann sagte sie: »Also, ich notier mir die vierzig Dollar ... aber ... es darf nicht wieder vorkommen, ja?«
»Danke«, sagte Sara leise, schloss ihren Spind auf und nahm ihre Handtasche raus. Sie warfLisa noch einen letzten Blick zu, verabschiedete sich dann und ging. Sie wollte nach Hause, sich verkriechen, tief und traumlos schlafen. Sie musste bloß den Weg dorthin bewältigen.
Ein scharfer Wind pfiff durch die Straßenschluchten und zwang sie, tief zu atmen. Der Sauerstofftat ihr gut und sie stellte sich vor, wie er alle schrecklichen Gedanken und Bilder einfach mit sich davontrug.
Als Sara den noch immer makellos blauen Himmel über sich sah, fühlte sie sich erschöpft und wollte einfach nur nach Hause. Stephen war sicher schon zum Bondi Beach gefahren. Sein Chef im Elektroshop erlaubte ihm an solchen Tagen, früher Feierabend zu machen. Er war selbst mal ein begeisterter Surfer gewesen.
Sie probierte es zwar auch immer wieder und zuerst fühlte sie sich nicht allzu schlecht, wenn sie auf ihrem Board im Wasser lag und auf die Welle wartete. Aber dann, wenn die Welle heranrollte und sie langsam hinaufhob und sie sich aufs Brett stellte, in dem Moment überfiel sie eine schreckliche Panik. Ihr Magen spielte verrückt, ihr wurde übel und sie fing an zu zittern und musste sich wieder aufs Brett knien. Dann klammerte sie sich fest und hoffte nur noch, dass sie so schnell wie möglich zurück an den Strand getragen wurde.
»Wovor hast du nur Angst?«, hatte Stephen sie immer wieder gefragt. Aber sie hatte ihm keine Antwort geben können. Sie wusste es ja auch nicht. Früher hatte sie keine Angst gehabt. Da war sie öfter mit ihren Freundinnen und deren Eltern übers Wochenende zur Goldcoast gefahren. Sie dachte an Amber und wie sie am Strand in der Sonne gelegen und Eis gegessen hatten und ... Vielleicht lag es daran, dass sie einfach Angst davor hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
»Sorry!« Eine junge Frau im Bürooutfit hatte sie angerempelt und entschuldigte sich lächelnd. Sara wollte ihr Lächeln erwidern, aber ihre Gesichtsmuskeln fühlten sich an wie eingefroren.
Überhaupt, die Leute, die aus den Büros strömten, kamen ihr alle so fröhlich vor. Sie plauderten, lachten, telefonierten, verabredeten sich für den Abend. Für ein Treffen im Pub oder zum Essen oder ... zum Tanzen ...
Etwas in ihrem Innern tat weh. Etwas, tief in ihr, das auch so sein wollte wie diese Menschen, so ... fröhlich ... so normal.
Im Bus suchte sie sich einen Fensterplatz. Die Sonne stand schon tief und versah alles, Gegenstände und Menschen, mit langen dunklen Schatten. Früher war ihr nie aufgefallen, dass die Schatten größer sein konnten als man selbst.
Sara zählte die Autos, zählte die roten und die weißen, die Lieferwagen und die Motorräder, stellte fest, dass auf einer Fahrspur fünf silberfarbene Wagen hintereinanderfuhren, und zählte dann die Sekunden, die die Ampel brauchte, um von Grün auf Rot zu schalten. Sie tat all das, was sie sonst auch tat, nur konzentrierter. Sie wollte unbedingt vergessen, was heute passiert war.
Kurz vor der Wohnung, sie ging gerade die letzten zweihundert Meter zu Fuß, klingelte ihr Handy.
»Wo bleibst du denn? Du wolltest doch kommen.« Stephen. Im Hintergrund hörte sie Lachen. Seine Freunde. Sie sah sie am Strand, in ihren Neoprenanzügen, auf ihre Boards gestützt.
»Ich bin an der Kasse umgekippt.« In dem Moment, in dem sie den Satz ausgesprochen hatte, bereute sie ihn auch schon. Sie konnte Stephen nicht erklären, was passiert war. Vielleicht hätte sie es gar nicht erwähnen, sondern sich irgendeine Ausrede überlegen sollen, dachte sie, aber nun war es zu spät.
»Aber ... was ist denn passiert?«, fragte er besorgt.
»Ich weiß auch nicht.« Sie war im Schutz einer Hauswand stehen geblieben. »Jedenfalls nichts Schlimmes.«
»Ich komme heim«, sagte er entschieden.
»Nein! Nein, bleib nur. Ich ... ich leg mich ein bisschen hin.«
Sie wollte nicht, dass er ihretwegen aufs Surfen verzichtete, obwohl ... ja, obwohl sie sich gern neben ihn gelegt, ihren Kopf in seine Armkuhle und ihre Hand auf seine Brust gelegt hätte.
»Soll ich nicht doch lieber kommen?«, fragte er noch mal.
»Nein. Bleib ruhig, wirklich. Es ist alles okay«, versicherte sie ihm eilig.
Wie gern hätte sie ihm alles erzählt ...
Niedergeschlagen stieß sie die Haustür des Apartmenthauses auf, drückte den Lichtschalter. Flackernd sprangen die Neonröhren an und machten das enge Treppenhaus grell und schattenfrei. Sie ging am Aufzug vorbei, obwohl er bereitstand. Sie nahm nur ganz selten den Aufzug. Wenn Stephen dabei war oder wenn sie schwere Tüten zu schleppen hatte. Sie hielt dann immer die Luft an, wenn der Lift noch im ersten, zweiten und dritten Stock haltmachte und sie nicht wusste, wer gleich die Tür aufmachen würde.
Im vierten Stock angekommen, steuerte sie auf die dritte der insgesamt fünf Türen zu, schloss beide Schlösser auf, warf dann die Tür hinter sich zu und schloss sofort wieder ab.
Sie zog sich aus, stellte sich unter die Dusche und spülte den Tag ab – das jedenfalls stellte sie sich vor, während das heiß dampfende Wasser über ihre verspannten Muskeln lief. Anschließend zog sie ihren Schlafanzug an, ging in die Küche, goss sich ein Glas Milch ein, legte sich auf die Couch und machte den Fernseher an. Aber es kamen bloß Krimis und irgendwelche blöden Ratespiele. Sie ließ schließlich eine Rateshow eingeschaltet, ohne jedoch zuzuhören. Aber dadurch war es wenigstens nicht so einsam in der Wohnung. Von draußen drang das Brummen des Verkehrs herauf, der weiter über die Harbour Bridge in die nächsten Vororte und auf die Autobahn in den Süden floss. Oft wurde sie morgens vom Dröhnen der schweren Lkws geweckt. Und manchmal konnte sie deswegen auch nicht einschlafen. Dann war sie wieder in jener Nacht hinter den Felsen, kroch durch dorniges Gestrüpp, immer diesem Dröhnen entgegen, immer in Richtung der so nah scheinenden und doch unendlich weit entfernten Straße, ihre Hände waren schon ganz aufgeschürft ...
Abrupt stand sie auf und ging in die Küche. Unterbrich die Gedanken, wenn sie kommen, hatten sie gesagt. Sie dürfen gar nicht erst die Kontrolle über dich übernehmen. Und sie versuchte es. Aus dem Schrank nahm sie eine Rolle Schokokekse, legte sich wieder auf die Couch und breitete eine Decke über sich. Und wenn es morgen wieder passiert? Wenn derselbe Typ wieder kommt ... oder ein anderer?
Warum hatte sie sich ausgerechnet einen Job gesucht, bei dem sie so vielen Menschen begegnete?
Sie drehte den Ton lauter. Der höchste Berg in Australien?
»Mount Kosciuszko!«, sagte der Kandidat, ein blasser Buchhaltertyp.
»Leider falsch!«, bedauerte der Moderator.
Der andere Kandidat drückte die Lampe. »Der Mount Kosciuszko ist 2.229 Meter hoch, aber der höchste Berg ist der Big Ben mit 2.745 Metern. Er ist ein aktiver Vulkan und liegt auf der unbewohnten Insel Heard.«
»Absolut korrekt! Das sind fünfhundert Dollar für Peter!«
Das Publikum jubelte und applaudierte, aber Peter lächelte nicht. Mit versteinerter Miene nahm er den Gewinn zur Kenntnis. Wovor hat er wohl Angst?, dachte sie.
Dann rechnete Sara. 2.745 minus 2.229 sind – 516 Meter Unterschied ...
Zählen half. Zählen half meistens.
Sie schreckte aus dem Schlaf auf, als Stephen nach Hause kam.
»He, geht’s dir besser?«, fragte er zärtlich.
»Ja«, sie nickte. »Bin wohl heute einfach eingeschlafen bei der Arbeit ...« Sie hasste ihre Lügen, sie verachtete sich dafür. Aber sie wusste keine andere Lösung.
Er trug sie ins Bett und gab ihr einen Kuss. Er roch nach Salz und Meer, das beruhigte sie, und bevor die Erinnerungen wieder an die Oberfläche drängen konnten, schlief sie ein.