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Mann, echt Scheiße, was man alles so verpasst!«, murmelte er, schnüffelte hinauf in den blauen Himmel und kniff die Augen vor der blendenden Sonne zusammen. Jetzt noch ’ne Kippe und die Minute wär perfekt. Immer mit der Ruhe, Alter, mahnte er sich selbst, erst schieben wir unseren Arsch mal hier aus der Schusslinie, damit nicht noch was schiefgeht.

Er zog die zu weite Hose hoch, die ihm rutschte, strich die Jacke glatt, die zum Glück besser passte, und ließ das schwere Gittertor hinter sich, das sich langsam schloss. Lässig schlenderte er die Straße entlang und ließ seinen Blick über die parkenden Autos gleiten. Noch ganz cool bis zur nächsten Ecke dahinten, wo hoffentlich ein fahrbarer Untersatz mit einem Flyer hinter den Scheibenwischern wartete, wie abgemacht, und dann nix wie weg.

Geschafft! Here we are!

Ein dunkelroter Holden, ’ne alte Kiste – das durfte ja wohl nicht wahr sein! Erst spürte er Ärger in sich aufsteigen, aber dann musste er doch grinsen. Klar, ein Porsche wär natürlich aufgefallen! Wer drehte sich schon nach ’nem alten Holden um? Na ja. Immerhin ein Auto. Der Wagen stand am Straßenrand zwischen zwei anderen Autos; unauffällig, harmlos, wie normal abgestellt – und nicht wie gestohlen.

Na bestens, auf den alten Doug ist doch immer noch Verlass, dachte er, als er über das rechte Hinterrad tastete und der Autoschlüssel wirklich dort lag. »Brav, Doug, dafür kriegst du auch ein Extra-Tütchen Stoff, alter Junkie!«, murmelte er gut gelaunt, als er den Motor startete und aus der Parklücke rangierte. Und jetzt galt es, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen, ehe die Scheißbullen ihm auf die Schliche kamen.

Ich bin genial, ein genialer Hund! Er lachte und lachte noch mehr, als er die Schachtel Zigaretten bemerkte. »Auf den alten Sack ist wirklich Verlass!« Sogar die Marke stimmte. Mit der linken Hand schnippte er eine Zigarette aus der Packung und steckte sie sich in den Mund. »Ist ja ’n echter Luxusschlitten«, meinte er, als er den Zigarettenanzünder herauszog.

Er fuhr langsam die Straße hinauf bis zur Hauptstraße, während er genüsslich den Rauch einsog. Im Rückspiegel konnte er nichts Auffälliges entdecken. Nachdem er sich in den dicht fließenden Verkehr eingefädelt und dann auf die äußere Spur gewechselt hatte, beschleunigte er und atmete noch einmal auf.

»So und jetzt zum Eigentlichen.« Er fummelte am Radio herum, bis er einen Sender gefunden hatte, der Heavy Metal spielte. »Sogar Black Metal, kaum zu glauben! Scheint mein Glückstag zu sein heute!«

Er drehte die Lautstärke auf, nahm einen kräftigen Zug von seiner Kippe, lehnte den Kopf zurück und grölte mit Bestial Warlust mit. »At the Graveyard of God ... Ich bin genial. Ein genialer Hund!«

Mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den Lippen fuhr er seinem Ziel entgegen.

Heute hab ich keinen Fehler gemacht. Bin auch nicht umgekippt, sagte sie zu sich und war ein bisschen stolz, dass sie sich wieder im Griff hatte. Und deshalb konnte sie auch Ja sagen, als er vorschlug, in den Bars der Oxford Street abzuhängen. Sie hatten mit Stephens Freunden Van und Dean Stehplätze rund um eine Deckensäule ergattert. Die Bar war ziemlich groß und wirkte recht düster mit dem dunkelroten Teppich, dem schwarzen Tresen und den schwarz gestrichenen Wänden. Selbst die Kellner und die Barkeeper trugen schwarze Hosen und T-Shirts. Nur das verspiegelte Regal mit den Getränken leuchtete hellgrün. Die Musik dröhnte ohrenbetäubend aus den Boxentürmen und die Gläser auf den Tischen vibrierten mit den Frequenzen der Bässe. Sara war froh über die Lautstärke, weil sie dann nicht viel reden musste. Früher hatte ihre Mutter immer gesagt, sie rede wie ein Wasserfall.

Stephen und seine Freunde schrien gegen den Lärm an und bestellten eine Bierrunde nach der anderen. Sara lehnte jedes Mal ab und bestand auf Cola. Cola hielt sie wach. Und wachsam.

Irgendwann schmiegte sie sich an Stephens Schulter und er legte den Arm um sie. »Du bist schön«, sagte er ihr ins Ohr und lächelte sie an. »Wir könnten uns bald hier verdrücken, hm?«

Sie spürte die bekannte Panik in sich aufsteigen. Immer wieder kämpfte sie dagegen an. Immer wieder ...

»Ja, aber es ist doch gerade ganz nett und deine Freunde ...«, sagte sie rasch.

»Ach, die können auch ohne uns weitertrinken.«

»Lass uns noch ein bisschen bleiben. Mir gefällt’s heute, wirklich.«

Er streichelte ihre Wange. »Klar. Ich freu mich, dass du auch mal gern unter Menschen bist.«

Sie lächelte und schmiegte sich enger an ihn. Er würde immer auf sie aufpassen. Er würde sie beschützen.

»Ich hol uns ’ne neue Runde«, sagte Stephen und machte sich von ihr los.

Bleib da, wollte sie ihm am liebsten sagen, aber das war albern, das wusste sie. Van und Dean hatten schon je zwei Runden geschmissen, Stephen war längst dran. Stephen tauchte in der Menge unter. Sie lehnte sich an die Säule, schloss die Augen und überließ sich für einen Moment der Musik, dem Dröhnen, Stampfen und dem Schreien der Sänger. Die Bässe aus den riesigen Boxen wummerten in ihrem Bauch, breiteten sich von da überall in ihrem Körper aus, bis auch ihr Herz den Rhythmus übernahm. Sie wurde zur Musik, zum Rhythmus, sie löste sich auf, wurde leichter und leichter und mit jedem Beat fühlte sie sich befreiter – und weniger da. Alles verlor seine Dringlichkeit, seine Bedrohlichkeit ...

»He, Puppe, hab ich dich doch gefunden!«

Die Stimme riss sie mit einem harten Ruck zurück in die Realität, die Beats wurden zu Peitschenhieben, die Luft legte sich wie ein Netz über sie, drohte enger und enger zu werden, sie wollte die Augen aufreißen, aber die Panik lähmte sie. Diese Stimme!

Unter ihr gab der Boden nach- oder waren es ihre Knie?, sie wollte sich festhalten, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht, sie wollte ...

»He, Sara!«

Stephen? Jetzt riss sie die Augen auf.

Stephen sah sie an, Gläser in seinen Händen, und hinter ihm wurde das Gesicht von der Menge verschluckt.

Es war nicht das aus dem Supermarkt.

Nein.

Diesmal war es das echte.

»Geht’s dir gut?«, fragte Stephen besorgt und gab ihr die Cola.

Als sie die Hand ausstreckte, um die Flasche zu nehmen, zitterte sie.

»Sie hat geglaubt, du kommst nicht mehr, stimmt’s?«, schrie Van grinsend herüber und saugte den Schaum von seinem Bier ab.

»Unser Stevie war ganz schön unterwegs, bevor er dich getroffen hat«, schrie Dean und nahm von Stephen sein neues Bier entgegen.

»Du solltest ihn beim Surfen nicht so oft allein lassen.«

Dann sagte Dean wieder etwas und Van lachte, Stephen ließ seinen Freunden gegenüber gespielt coole Kommentare ab und Sara war, als betrachte sie einen Film ohne Ton, während um sie herum die Wohnung brannte. Sie registrierte das alles zwar, aber nichts konnte zu ihr durchdringen.

Am liebsten wäre sie weggerannt, raus aus der dunklen, lärmenden Bar, in der es scharf nach Schweiß und sauer nach Bier roch – und wo etwas Bedrohliches lauerte. Aber wohin hätte sie laufen sollen?

»Glaub ihnen nichts!«, hörte sie Stephen sagen, »sie sind bloß eifersüchtig, weil ich nicht mehr so oft mit ihnen unterwegs bin!«

Van und Dean protestierten grölend. Sie musste weg, sie hielt es nicht mehr aus – da beugte sich Stephen zu ihr und küsste sie ... holte sie zurück. Die Starre, die ihren Körper so steif und gefühllos gemacht hatte, löste sich, ihre Muskeln entspannten sich. Sara schloss die Augen und fühlte nur noch diesen Kuss. Wenn es nur immer so sein könnte wie in diesem Moment....

Stephen war so nett zu ihr. Vielleicht liebte er sie wirklich? Sie, die man doch gar nicht lieben konnte. Aber er war arglos – und ahnungslos. Es war so schrecklich.

Sie war eine Verräterin und Lügnerin.

Sara stürzte die Cola in einem Zug hinunter, um wieder klar denken zu können. Aber das Einzige, was sie erreichte, war, dass sie jetzt dringend zur Toilette musste. Die Toiletten befanden sich am anderen Ende des Raums, sie müsste sich einen endlos langen Weg durch die Menge bahnen, durch die Menge, in der ER untergetaucht war. ER war es, ganz sicher. Obwohl es nicht sein konnte.

Litt sie vielleicht unter Halluzinationen? Dachte sie so intensiv an dieses Gesicht, dass sie sich einbildete, es wirklich zu sehen?

Der Druck in der Blase wurde immer stärker.

»Stephen«, sie reckte sich zu seinem Ohr, »macht es dir was aus ... kommst du mit zur Toilette? Ich glaub, ein Typ ist hinter mir her.«

»Was?«

Der Lärm wurde immer unerträglicher.

»Ein Typ ist hinter mir her«, wiederholte sie lauter.

»Ein Typ? Versteh ich, du siehst ja auch scharf aus! Wo ist er?« Er blickte sich suchend um. Da nahm sie seine Hand. »Kommst du mit und wartest?«

Er nickte. »He Kumpels, Sara und ich gehen mal ’ne Nummer schieben.«

»Wow! Dann viel Spaß!« Van lachte lauthals und schüttete das Glas Bier hinunter. Dean warf Sara einen Blick zu, der ihr nicht gefiel.

»Warum hast du das gesagt?«, fragte sie Stephen, als sie in der Menge stecken blieben. Manchmal ging ihr Stephens Art seinen Kumpels gegenüber auf die Nerven. Warum musste er immer den Coolen geben? Dabei war er doch eigentlich gar nicht so.

»Ich wollte nicht, dass sie dich auslachen, weil du Angst hast, aufs Klo zu gehen.«

»Ich hab vor dem Typen Angst. Nicht davor, aufs Klo zu gehen.«

Er drückte sie fest. »Sorry, ich weiß.«

Sie wollte sich nicht ärgern, schließlich war sie ja froh, dass er sie begleitete. Dicht an seine Seite gedrückt schoben sie sich durch die Menschenmenge. Vor der Toilette war zum Glück keine Schlange und sie war schnell fertig.

Neben drei anderen Mädchen, die sich schminkten, wusch sie sich die Hände und warf noch einen raschen Blick in den Spiegel. Das weiße, gleißende Licht erinnerte sie unwillkürlich an die Klinik. Schnell schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihr Spiegelbild. Wie blass und dünn sie war. Wenigstens machten sie die blond gefärbten Haare etwas lebendiger. Und auf einmal war ihr klar: Er konnte es gar nicht gewesen sein. Jetzt sah sie doch ganz anders aus! Wie hätte er sie also erkennen sollen?

Ich hab es mir eingebildet, weil ich so intensiv daran gedacht habe, versuchte sie, sich selbst zu überzeugen. Das muss sofort aufhören. Sofort. Ich darf nicht mehr daran denken.

Zwei Mädchen kamen kichernd rein und sie schob sich zwischen ihnen hindurch nach draußen.

Wo war Stephen?

Sara sah sich um, überall waren Körper und Gesichter, die Musik und das Stimmengewirr vermischten sich zu einem tosenden Brausen. »Stephen!« Ihr Schrei ging unter im brodelnden Lärm. »Stephen!«

Ein Strom von Menschen riss sie mit, wirbelte sie herum und sie sah nur noch in Augen und Münder. Und da war er wieder! Für Sekunden blickte sie ihm ins Gesicht. Das überhebliche Grinsen, der herausfordernde Blick und dieser Mund ... der sich jetzt bewegte, Worte formte. Sie hörte sie nicht, aber sie wusste, was er sagte. »Ich krieg dich!«, sagte er, sie war ganz sicher ...

»Steeephen!«

Ein harter Griff legte sich um ihren Oberarm. Sie versuchte, sich loszureißen. »Nein! Nicht!«

»He!«

Stephen! Es war Stephen, Stephen ... wo warst du nur? Warum bist du nicht einfach da stehen geblieben, es hat doch nicht lange gedauert?

Er drückte sie an sich. »Du zitterst ja.«

»Ich hab solche Angst gehabt.«

»Warum? War er wieder da?«

Sie nickte.

»Zeig ihn mir! Ich knöpf ihn mir vor!«

»Er ist weg ... irgendwo.«

»Hat er dich angefasst?«

Sie schluckte. Dann schüttelte sie den Kopf. Er würde Stephen mit einem Faustschlag fertigmachen.

»Lass uns heimgehen«, sagte er.

Diesmal nickte sie.

Stephen verabschiedete sie beide schnell bei seinen Freunden, und als sie endlich draußen in der kühlen Abendluft standen, die laute Musik und das Stimmengewirr immer leiser wurden, kam ihr das Erlebnis wie ein billiger Albtraum vor.

Aber es war kein Traum.

Es war real.

Bis zum Parkplatz in einer der Seitenstraßen ging sie schweigend und hielt sich eng an Stephens Seite gepresst. Ein paar Mal warf sie einen verstohlenen Blick über die Schulter und lauschte auf Schritte, ob ihnen jemand folgte, aber da war nichts. Nur ein paar Betrunkene kamen ihnen entgegengetorkelt und in einem Hauseingang hockten zwei Typen und rauchten.

Sie atmete auf, als sie an Stephens grünem VW-Bus angekommen waren, er ihr die Tür aufschloss und sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Als er dann losfuhr, musste sie plötzlich weinen.

»Hey, Sweetie, es ist okay, es ist alles okay.« Er legte den Arm um sie. »Wir fahren heim. Wein nur, es wird alles gut.«

Sie schmiegte sich in seinen Arm und roch seinen Duft. So gern würde sie ihm glauben, so gern.

Aber sie wusste, dass es nie gut werden würde.

Stephen wollte noch unter die Dusche, nachdem sie nach Hause gekommen waren. Sie wartete, bis sie im Bad das Wasser laufen hörte, dann eilte sie ins Schlafzimmer, zog die oberste Schublade der wackligen Kommode auf und tastete unter ihrer Unterwäsche nach dem geheimen Handy. Das Wasser lief immer noch. Sie schaltete es an und drückte auf die Kurzwahltaste. Nach vier Freizeichen meldete sich eine Frauenstimme. »Ja bitte?«

»Ich muss mit Dave sprechen.«

»Dave ist nicht mehr bei uns.«

»Was?« Ihre Hände begannen schon wieder zu zittern. »Aber warum?« Sie schrie fast und erschrak. Aber im Bad lief noch immer das Wasser.

»Kann Ihnen jemand anders weiterhelfen?«, fragte die Frau.

»Ja, Nate.«

»Einen Moment.«

Sara wartete, lauschte auf die Geräusche aus dem Badezimmer.

»Hallo, sind Sie noch da? Nate ist im Moment nicht erreichbar. Soll ich ihm ausrichten, dass er Sie anrufen soll?«

Im Bad war es still.

»Nein!« Hastig drückte sie die rote Taste und versteckte das Telefon wieder unter ihrer Unterwäsche. Auf einmal wusste sie nicht mehr weiter. Und wenn doch alles nur Einbildung war? So wie damals das eine Mal? Sollte sie die Klinik anrufen? Sich einweisen lassen?

Sie ließ sich auf die Bettkante sinken. Aber ... wenn es keine Einbildung war, dann ... dann wüsste er auch bald, wo sie wohnte.

Stephen legte sich zu ihr. Ja, sie mochte ihn, bei ihm fand sie Schutz, Geborgenheit und manchmal auch ein bisschen Vergessen. Aber sie konnte nie wirklich loslassen.

»Das Wichtigste ist, dass du wieder lernst, einem Menschen zu vertrauen.« Das war auch einer der klugen Sätze in der Therapie gewesen. Sie vertraute Stephenja, aber ... aber sie traute sich nicht. Sobald sie sich in Sicherheit wiegte, stiegen die Bilder in ihr auf.

Sie sehnte sich nach seiner Nähe, liebte seine Berührungen. Er war so zärtlich. Und doch passierte es immer wieder, dass sie zusammenzuckte, wenn er näher an sie heranrutschte, dass sich ihr Körper versteifte, wenn er sie anfasste. Er fragte manchmal, ob alles okay für sie sei. Immer bemerkte er es, keine noch so kleine Reaktion von ihrer Seite schien ihm zu entgehen. Das waren die schwersten Momente. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als zu nicken und Stress in der Arbeit oder Kopfweh vorzuschieben. Sie fühlte sich so schäbig. In diesen Momenten besonders.

Als er eingeschlafen war, lauschte sie seinem Atem und starrte in die graue Düsternis. Draußen war es ruhiger geworden, nur noch hin und wieder donnerte ein Lkw vorbei. Schließlich stand sie auf, ging in die Küche und trank ein Glas kalte Milch. Das beruhigte sie. Sie hatte Milch schon immer gemocht. Selbst, als sie bereits größer war, hatte ihre Mutter ihr abends oft eine Tasse ans Bett gebracht ...

Als sie sich wieder hinlegte, schmiegte sie sich an Stephen, atmete tief seinen Duft ein, damit sie sich immer an ihn erinnerte, egal, was passierte.

Puppenrache

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