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Kapitel 1

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Keith Duff

Noch immer war es Keith Duff kotzübel. Er saß an der Theke des Pub Coocooloora und bestellte seine vierte Rum-Coke. Was für ein verdammter Tag!

Wie jeden Morgen hatte um 6.40 Uhr seine Armbanduhr gepiepst. Er war aus dem oberen Etagenbett des Wohnwagens gekrochen, den er mit John Flunders schon seit drei Wochen teilte, die Zeit, die sie als Roadworker im Outback arbeiteten.

Am Vortag waren sie nach Coocooloora gekommen, in einen Ort mit zweihundert Einwohnern, einem Pub, einer Tankstelle, einem Videoshop, einem Motel, und einem Lebensmittelladen. Noch einen Monat lief sein Vertrag, dann wollte er sehen, ob er weitermachen oder sich endlich um sein Leben mit Cindy kümmern würde. Vor einem halben Jahr hatte er ihr schon die Hochzeit versprochen. Er fuhr sich durchs Haar, spritzte sich Wasser ins Gesicht und zog seine Arbeitskleider an, dunkelgrüne Shorts, Hemd, dicke Socken und staubige Boots. Bevor er die Tür öffnete, stülpte er seinen abgegriffenen Hut über.

„Wieder so ein verdammter Tag!“, sagte er zu John, schaute in den wolkenlosen Himmel, und lachte. Sie tranken Kaffee und brieten ein paar Eier mit Speck. Um sieben Uhr zwanzig schaltete Keith Duff den Presslufthammer an und begann entlang einer mit Kreide auf die Teerfläche eines Parkplatzes gezeichneten Linie ein sechs Meter langes und einen Meter breites Rechteck aufzubrechen. Nachdem er mit dieser Arbeit fertig war, kletterte John Flunders in den Bagger und hob die Grube aus.

Keith Duff sah ihm zu – bis er etwas Seltsames, Bräunliches, Ledriges bemerkte. Er machte John Flunders ein Zeichen, für einen Moment aufzuhören und bückte sich. Scheiße ... wenn ihn nicht alles täuschte, war dieses bräunliche, lederartige Ding eine verdammte menschliche Hand.

Shane

Detective Sergeant Shane O’Connor starrte auf die zwischen ihm und dem Gerichtsmediziner liegende Masse aus bleichen Knochen, an denen stellenweise Reste von Fleisch klebten, faserig und trocken wie das einer zu lang gegrillten Ente. Der Gestank von verwesendem Fleisch und Chemikalien würgte ihn. Ihm saß noch die letzte Nacht in den Knochen. Als er am Morgen aufgewacht war, das Hirn von zu viel Whisky benebelt, hatte er gehofft, geträumt zu haben, doch seine aufgeplatzte Lippe bewies ihm, dass er sich tatsächlich geprügelt hatte.

Er warf einen Blick auf den Schädel, den Howard auf den Nebentisch gelegt hatte. Anstelle der Augen gähnten schwarze Höhlen, Nase und Wangenknochen waren seltsam deformiert, Maden hatten Löcher in die pergamentene Haut gefressen. Die üppigen, lockigen Haare um ihr winziges Gesicht sahen verstaubt aus. Aber die Zähne waren weiß und vollständig wie das Modell beim Zahnarzt.

Shane schluckte gegen die Übelkeit an, blickte auf, sah in Dr. Howards kleine Brillengläser, und konnte in seinen Augen weder Trauer noch Ekel noch Grauen erkennen.

„Sauber abgetrennt vom Rumpf.“ Howard deutete auf die scharfen Schnittkanten der Sehnen, die wie ausgedörrte Lederriemen vom hinteren Teil des Schädels herabhingen. Shane spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf sackte.

„Wir können froh sein, dass er sie diesmal vergraben hat, sonst wäre nicht so viel übrig. Wieder enthauptet, mit Axt oder Beil, soweit ich das in dem Zustand noch erkennen kann. Möglicherweise vor der Enthauptung auch gefesselt, wegen der Stellung der Beine. Der Stich im Bauch ebenfalls wie immer“, sagte Howard und sah auf. „Und was die 64.000 Dollar-Frage angeht: Die kann ich im Moment nicht beantworten, aber ich nehme an, dass wie in den übrigen Fällen kein Verkehr stattgefunden hat.“ Howard zog sein Latexhandschuhe aus. „Strengt euch bloß an, dass ihr den Kerl endlich fasst!“

Shane atmete auf als er durch die Tür des John Tonge-Centers auf die Straße trat. Es war Punkt acht und schon heiß. Bei der nächsten Obduktion wäre Jack mal wieder dran. Immer drückte er sich! Von wegen empfindlicher Magen! Aber Cola und Bier konnte er literweise in sich reinschütten! Shane hatte schlechte Laune. Da draußen lief ein Verrückter rum und hielt sie zum Narren. Und das nahm er persönlich.

Das war jetzt bereits die vierte derartig zugerichtete Leiche, die innerhalb von sechs Jahren in einem Gebiet von fast 6000 Quadratkilometern in Queensland gefunden worden war.

Die Opfer waren Frauen, die jüngste achtunddreißig, die älteste achtundvierzig. Der Mörder zwang sie offensichtlich, sich auszuziehen, dann fesselte er sie, knebelte sie mit einem Kleidungsstück, ließ sie niederknien und den Kopf auf einen Baumstumpf legen und enthauptete sie dann mit einer Axt oder einem Beil. Dann nahm er ihnen Hand- und Fußfesseln wieder ab, stieß ihnen ein Messer in den Bauch und schleifte den Körper hinter ein Gebüsch oder warf ihn in eine Grube oder Schlucht, irgendwo in einem abgelegenen Gebiet. Den Kopf und die Kleider stopfte er in eine Plastiktüte und vergrub sie zwanzig bis fünfzig Meter entfernt.

Nachdem seit einem halben Jahr keine Leiche mehr aufgefunden worden war, hatte die Homicide Squad vor zwei Tagen von Detective Greg Sutton aus Roma am Warrego Highway, vierhundert Kilometer westlich von Brisbane, einen Anruf erhalten: Dingofallensteller hatten unter dem steilen Abbruch eines Creekufers einen nackten toten Körper ohne Kopf gefunden. Unerwarteter Regen musste den vergrabenen Körper freigespült haben. Während die örtliche Polizei sofort den Fundort absperrte, machten sich noch am selben Tag die Detectives Flinders und Ross aus Brisbane auf den Weg, das Auto beladen mit Computern und Equipment, das sie für ihre Ermittlungen brauchen würden. Sie quartierten sich in einem ehemaligen und leerstehenden Büro eines Pumpenherstellers in Roma ein, und begannen, Personen zu befragen und Daten zu sammeln.

Schon am nächsten Tag, also gestern, spürte der Hund von Detective Sutton den abgetrennten Schädel auf. Er war hundert Meter vom Fundort des Körpers entfernt und nicht mehr als einen halben Meter tief im weichen Sand des ausgetrockneten Creeks vergraben, verpackt in eine weiße Plastiktüte ohne Aufschrift, zwischen den Kiefern einen hellblauen Slip. Die übrigen Kleider, ein hellblauer BH, ein violettes T-Shirt, ein schwarzer Minirock und schwarze, abgestoßene Pumps steckten ebenfalls in der Tüte. Weder Ausweis noch Führerschein, noch Portemonnaie hatte der Mörder zurückgelassen.

Bis jetzt war die Tote eine Unbekannte, ermordet vor etwa einem halben Jahr. Das Missing Persons Bureau durchforstete seine Datenbank. Wahrscheinlich konnte man bald die Identität der Toten klären. Am Vorabend waren die Überreste in Brisbane eingetroffen – und heute Morgen lagen sie auf Howards Tisch.

Noch immer in Gedanken bei dem grausigen Anblick fädelte er sich in den stockenden Verkehr ein und versuchte das Bild der massakrierten Frau zu vergessen. Manchmal schreckte ihn ein Alptraum auf: Er wurde an einen Tatort gerufen, und vor ihm lag eine Frau, die er kannte. In einem solchen Moment war ihm danach, Kim anzurufen, doch dann wusste er nicht, was er ihr sagen sollte, und ließ es sein. Kim ...

Es war purer Zufall, dass er vor drei - oder waren es vier? –Wochen Kim begegnet war, bei Woolworth vor der Eiscreme-Truhe. „Wie geht es Pamela?“, hatte er gefragt. Sie quälte aus ihrem blassen Lotusblumengesicht ein Lächeln hervor. Ihre Mutter stammt aus Taiwan.

„Gut. Sie will zur Polizei“, und dabei sah sie ihn vorwurfsvoll an. Als könnte er etwas dafür! Aber so war sie schon immer.

„Zur Polizei?“, sagte er, „dann muss ich ja doch einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen haben!“ Er grinste unbeholfen. Ihr Blick glitt von ihm zu den Tiefkühlgerichten und wieder zurück. Sie kennt ja diese Sprüche, fiel ihm ein. „Ich hoffe, sie sieht dir immer noch ähnlicher als mir“, spaßte er weiter und war irgendwie erleichtert, als sie endlich den Einkaufswagen losließ, an den sie sich die ganze Zeit geklammert hatte. Sie knipste ihre Handtasche auf, zog ein Foto aus dem Portemonnaie. Er betrachtete das lächelnde, dunkelhaarige Mädchen mit der hellen Haut und den Mandelaugen.

„Sie hat die letzten Schul-Tennismeisterschaften gewonnen.“

„Warum wird sie nicht Tennislehrerin?“, fragte er. Er wollte etwas Lustiges sagen, anstatt zu fragen, warum sie ihm das nicht selbst gesagt hatte. Aber Kim steckte das Fotos zurück und schloss die Handtasche.

„Ich muss jetzt los“, meinte sie, und er sah ihr nach, wie sie sich wieder an den Einkaufswagen klammerte, hinter den Süßigkeiten verschwand, eilig, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wie lange will sie ihn noch büßen lassen?

An der Kasse merkte er, dass er fast alles vergessen hatte, was er hatte einkaufen wollen.

Er war inzwischen in der Roma Street angekommen und steuerte den weißen Toyota Corolla in die Tiefgarage des Police Headquarters. In der Eingangshalle musste er sich durch lange Schlangen junger Menschen zwängen. Er befürchtete eine Demonstration, sah aber dann im Vorbeigehen das Schild: Bewerbungen hier. Ihr wollt alle Cop werden?, dachte er. Wisst ihr, dass Cops eine weit unter dem Durchschnitt liegende Lebenserwartung, Alkohol- oder Drogenprobleme und gescheiterte Ehen haben? Einer aus der Schlange lächelte ihn an. Mann, Junge, such dir was anderes, so lange du noch kannst, wollte er sagen, aber er zuckte nur die Schultern. Dann nickte er dem Pförtner zu, grüßte den Sicherheitsbeamten, hielt seine Erkennungsmarke an die elektronische Schranke und fuhr mit dem Aufzug hinauf.

Jack schluckte hastig einen Bissen Sandwich herunter, als hätte Shane ihn bei etwas Verbotenem erwischt.

„Ich mach dir keine Diätvorschriften, Jack“, sagte Shane, „ich bin nicht Ann.“ Jack stöhnte und klopfte sich auf den Bauch. Er war ein bulliger Kerl mit raspelkurzem Haar, kräftigem Kiefer und schlechten Manieren, der aber seine Frau Ann in den Himmel hob.

„Wie soll ich bis Weinachten zehn Kilo abnehmen, he?“ Er stopfte den Rest Sandwich in den Mund und deutete auf Shanes aufgeplatzte Lippe.

„War wohl ne scharfe Nummer, was?“

Shane ließ sich hinter seinen Schreibtisch auf den Drehstuhl fallen. „Oder ist wieder mal dein südländisches Blut hochgekocht?“, fügte Jack grinsend hinzu und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

„Halt die Klappe, Jack!“, brummte er übelgelaunt. An die letzte Nacht wollte er nicht auch noch erinnert werden. Und an seine Mutter auch nicht unbedingt. Seit sie diesen neuen Typen hatte, war sie völlig abgehoben. Will hier und Will dort – und sein Vater war nur noch der alte Ex-Bulle, der jetzt völlig den Verstand verloren hatte und seit Jahren an einem Buch über Wale schrieb.

„Und, was sagt Howard?“, holte ihn Jack wieder zurück. Shane stöhnte. „Er war’s wohl wieder.“ Und dann unterrichtete er ihn über die neuen Fakten.

Jack stand auf und ging breitbeinig zur Pinnwand, an die sie die Fotos der Opfer und die wichtigsten Informationen und Ortsangaben gesteckt hatten. Eine grausige Collage, dachte Shane.

„Wir haben gerade einen Hinweis von Kathy aus dem Missing Persons Bureau bekommen“, sagte Jack und steckte eine weitere rote Nadel auf die Landkarte. „Scheint, als hätten wir eine weitere Leiche identifiziert: Eine gewisse Jennifer Miller, zweiundvierzig, wurde von ihren Eltern vor einem halben Jahr als vermisst gemeldet.“ Er drehte sich zu Shane um: „Und jetzt pass auf: Sie beschrieben ihre Kleider folgendermaßen: Violettes T-Shirt, schwarzer Rock.“ Er steckte das Foto einer Frau mit Sommersprossen und rotem, üppigen Haar zu den Fotos der anderen Opfer auf die Landkarte Queenslands.

„Wann, sagt Howard, ist sie ermordet worden?“, fragte Jack.

„Vor einem halben Jahr vielleicht“, antwortete Shane. Jack trat zwei Schritte zurück. „Also, ein Gebiet von etwa tausend Quadratkilometern. In diesem Umkreis muss der Täter irgendwo wohnen oder arbeiten.“ Er strich sich über seinen rasierten Schädel und verzog das Gesicht. „Mein Gott, hier sind acht Leute damit beschäftigt, und wir kommen einfach nicht weiter! Und Al verliert langsam die Geduld. Hättest ihn gestern mal erleben sollen!“ Er verdrehte die Augen. „Die Presse heizt ihm ganz schön ein.“ Shane brummte, seine Kopfschmerzen wurden nicht besser und seine Lippe riss bei jedem Wort wieder auf.

„He, Shane! Aufwachen!“, sagte Jack und stemmte die kräftigen Arme in die Seiten, „ erinnerst du dich an den Fall Hancock? Vier ganze Jahre haben wir gebraucht, um den Kerl zu fassen! Aber, wir haben’s geschafft!“

Shane winkte ab. Er konnte sich nur allzu gut an den Fall erinnern. Der Fall Hancock hatte ihm die Beförderung gebracht. Kim war unendlich stolz auf ihn gewesen, und er hatte endlich das Gefühl gehabt, etwas erreicht zu haben In den darauffolgenden Monaten arbeitete er noch härter, weil er seiner Beförderung gerecht werden und beweisen wollte, dass er sie verdient hatte. Sein Privatleben reduzierte sich auf ein paar Stunden Schlaf, ein hastiges Frühstück und einen flüchtigen Kuss. Seine Tochter bekam er kaum noch zu Gesicht. Entweder schlief sie noch, wenn er zur Arbeit musste, oder sie schlief schon, wenn er irgendwann nachts nach Hause kam, erschöpft und mit Bildern ermordeter Menschen vor Augen und Lügen der Verbrecher im Ohr. Oft schreckte er nachts auf und trank dann ein paar Bier - später härtere Sachen, und Kim reichte schließlich die Scheidung ein. Okay, da waren auch ein paar Frauengeschichten ... Jedenfalls ... nachdem sie mit Pamela an der einen Hand und mit einem Koffer in der anderen, eines Morgens das Apartment verlassen, hatte, trank er noch mehr und fing mit Pferdewetten an.

Schließlich hatte er sich gesagt, dass es so nicht weitergehen konnte, versuchte, weniger zu wetten, weniger zu trinken und sich auf seine Karriere zu konzentrieren. Was ihm alles nicht allzu gut gelang.

„Hallo Al!“, sagte Jack und Shane sah zur Tür. „Hallo Jungs!“ Al Marlowe, das auch noch, dachte Shane. Al, Koordinator in der Homicide Squad, ein ungeschlachter Mann, dessen schiefe, grobe Nase, seine Vergangenheit als Ringer glaubwürdig machte, stand in der Tür. Wie immer war sein Hemd zu eng und seine Hose zu kurz – als müsste er immer noch die Sachen eines älteren Bruders auftragen.

„Shane, wie siehst du denn aus?“, sagte Al und verzog das Gesicht. „Reden wir von was anderem, Al!“, wehrte Shane ab. Nein, die Geschichte wollte er jetzt wirklich nicht erzählen.

„Ich hab dich für die Leitung der Teams bei diesen verdammten Serienmorden vorgeschlagen“, fuhr Al fort und schob das Kinn vor, was ihn noch brutaler aussehen ließ. Shane nickte. Vielleicht ging’s mit seiner Karriere weiter bergauf.

„Jack, du bist sein Stellvertreter.“

„Ist recht“, murmelte Jack und nahm das läutende Telefon ab. „Für dich“, er reichte Shane den Hörer. „Der Commissioner“, sagte er noch mit einem bedeutungsvollen Augenrollen.

„Shane, kommen Sie mal rüber!“, bellte der und es klang nicht gut.

Der Commissioner hielt ihm die Tages-Zeitung vors Gesicht. Die Schlagzeile war nicht zu übersehen:

Serienkiller-Detective in Schlägerei verwickelt

Und darunter war sein Bild. Scheiße, dachte er, wieso war da auch noch ein Fotograf gewesen? Der Commissioner, ein drahtiger, stets sorgfältig gekleideter und frisierter Mann in den Fünfzigern, drehte die Zeitung um und las:

„Kein Wunder, dass es keinen Fortschritt im Frauenserienkiller-Fall gibt. Einer der maßgeblich an den Ermittlungen beteiligter Detective ist ein brutaler Schläger und Trinker.“ Er sah Shane über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. „Wollen Sie auch das Bild sehen? Damit keine Zweifel aufkommen, ist Ihr Name abgedruckt.“

Shane stöhnte.

„Und, haben Sie etwas dazu zu sagen?“

Shane warf einen Blick auf das Foto. Ein wütend dreinschauender Typ mit graumeliertem, lockigen Haar – und immerhin einer schmalen geraden Nase, hatte einen entsetzt blickenden gut angezogenen Herren am Kragen gepackt und presste ihn gegen eine Mauer.

„Sie werden verstehen, O’Connor, dass in unserer momentanen Situation alle erwarten, dass wir diesen Serienkiller-Fall endlich lösen. Das verstehen Sie doch, oder?“ Ich bin nicht blöd, wollte Shane sagen, aber er nickte, sonst würde diese ganze Geschichte hier noch länger dauern.

„Also“, der Commissioner räusperte sich und lehnte sich zurück. „Wir haben eine neue Leiche. Wieder ohne Kopf. Aber keine Frau. Diesmal ist es ein Mann. Gefunden in“, er nahm ein Papier vom Schreibtisch und hielt es näher an seine Augen, „Coocooloora. Noch nie gehört. Ist neunhundert Kilometer von hier entfernt.“ Er ließ das Papier sinken und lächelte. „Da haben wir Sie weit genug aus dem Schussfeld.“

Shane war erst mal sprachlos, dann sagte er: „Warum schicken Sie nicht Jack? Marlowe hat mich gerade zum Teamleiter ernannt – Sie wollen sich doch nicht im Ernst von diesen ... diesen Zeitungsfritzen in Ihre Ermittlungen reinreden lassen! Und das, was da passiert ist, das hat überhaupt nichts mit ...“

„O’Connor, Ihre Maschine fliegt in drei Stunden.“ Er lächelte wieder sein Saubermannlächeln und Shane stand auf. Arschloch, wollte er sagen, aber das brachte er dann noch nicht.

„Kann diese verdammte Aircondition nicht ein einziges Mal weder zu kalt noch zu warm sein?“, brüllte Shane los, zurück im Büro. „Ich frag dich, ist das zu viel verlangt? Wenn man hier zehn Stunden am Tag, fünf Tage die Woche schuftet? He, Jack, sag’s mir! Ist das zu viel verlangt?“

„Shane, ein Sandwich, ich hab noch eins übrig.“ Jack schwenkte eine Tüte vor seiner Nase.

„Steck dir dein verdammtes Sandwich sonst wohin, häng es dir meinetwegen um den Hals.“

„Shane, wen du Probleme hast, du weißt, mit mir kannst du reden, ich bin dein Freund.“ Unter normalen Umständen hätte Shane über sein gespieltes Therapeutengefasel gelacht. Stattdessen knurrte er:

„Coocoolorra – schon mal gehört? Ich schick dir ´ne Postkarte, soll einen schönen Campingplatz dort geben, reaktionäreViehtreiber und hässliche Frauen. “

Jack sah ihn erstaunt an. „He, die schicken dich dahin? Warum übernimmt das nicht Ross, der ist doch schon da?“

„Weil sie verdammte Arschlöcher sind, darum.“ Shane warf die Tür hinter sich zu. Er hätte jetzt ein Whisky vertragen können.

Andy

Andy starrte durch die Windschutzscheibe, an der gelbes Fliegenblut klebte. Seit Stunden verschluckte die Motorhaube das bis zum Horizont gespannte graue Teerband. Kein Hügel, kein Baum wuchs aus dem Land empor. Nur Gras. Knöchelhoch, kniehoch, hüfthoch. Ohne Straße wäre man verloren. Hin und wieder tauchten ein paar magere Rinder auf, braune Brocken im Grasland. Emus reckten die hässlichen Hälse, begannen dann zu traben. Ihre Körper wippten wie buschige Federboas, wenn sie mit dem Auto um die Wette liefen, dabei blitzschnell Haken schlugen und ins Auto zu rennen drohten.

Auf verkohlten Baumstämmen hockten dunkle Raubvögel und warteten auf tote oder lebendige Beute, rosafarbene Federn überfahrener Papageien mit Blut auf den Teer geleimt, wehten mit ihrem Spitzen im Wind. Am Straßenrand Reste von auf Motorhauben geschleuderter Kängurus - graue Fellhüllen und herausgerissenes Gedärm, gelblich schimmernd und schwarz von Fliegen.

Aber auf dem Himmel klebten weiße Wolken wie Marshmallows auf einer blauen Tischdecke.

Seit zwei Stunden kauerte Andy auf dem Beifahrersitz von Scottys Lieferwagen, rumpelte mit ihm in Richtung Coocooloora. Vor zwei Monaten war er siebzehn geworden. „Sieht er nicht aus wie der kleine Mozart“, hatte Mary Sheller ausgerufen, wenn Andy als Kind in ihren Laden in Quilpie gekommen war, um einen Schraubenzieher, einen Eimer oder Seife zu kaufen. „Woher will die alte Schlampe wissen, wie Mozart aussieht?“, hatte sein Vater gemeint, ein kräftiger, bärtiger Deutscher. So war er eben, sein Vater. Er selbst kam mehr nach seiner Mutter, einer zarten, hellhäutigen und nicht sehr großen Frau, deren Vorfahren vor hundert oder mehr Jahren von Schottland nach Australien gekommen waren.

Nie konnten sie sich der Sonne aussetzen. Ihre Haut verbrannte, ihre hellblauen Augen mussten sie durch breitkrempige Hüte schützen, und dort, wo die Hemden endeten, am Hals, im Nacken, an den Händen und im Gesicht, bildete sich ein Teppich hellbrauner Sommersprossen. Auch das Haar hatte Andy von ihr. Rote, dicke Locken, die er bis zum Kinn trug.

Manchmal träumte er vom wolkigen Norden Europas, von dunkelgrünen Wiesen und grauem Meer, kalter Luft und Menschen, die so aussahen wie er.

Aus dem Radio dudelte Countrymusik, schmalzige Stimmen, die von einsamen Nächten am Lagerfeuer sangen und von der einzigen Frau, die sie wollten, aber niemals bekamen. Scotty sang mit, traf nie den Ton und kannte nur die Refrains. Scotty war wohl um die fünfzig, schätzte Andy. Er war gedrungen und rundlich, hatte eine zu große Brille und zu dünne Beine – und schrecklich gute Laune.

„Wenn du schon achtzehn bist, Kleiner, nehm’ ich dich bis Peter Hills Laden mit“, hatte Scotty am Morgen in Quilpie gesagt, und dass er für Miller’s Bakery Backwaren auslieferte. Hill’s Laden in Coocooloora sei seine letzte Station. Coocooloora läge zweihundert Kilometer von Quilpie entfernt, am Rand des Mitchell Highways. Nach Lambina, wo man tonnenweise Opal aus der Erde holte, waren es fünfzehnhundert Kilometer weiter.

Doch Andy stieg ein, obwohl er ihn „Kleiner“ genannt hatte. Er wollte so schnell wie möglich aus Quilpie fort. Er kramte aus dem Rucksack auf den Knien eine Packung Zigaretten, er wollte nicht unhöflich sein und fragte: „auch eine?“

Scotty lachte. „Jungchen, in deinem Alter hab ich auch gedacht, nichts kann mich umhauen, hab gequalmt wie die Gangster im Fernsehen, und dann ist mein Vater gestorben. Frontalzusammenstoß auf dem Pacific Highway. Von da an hab ich nie wieder eine Zigarette angerührt - und keinen Alkohol.“

„Warum?“ Andy sah keinen Zusammenhang.

„Weil ich in dem Moment kapiert hab, dass man das Leben nicht wie ein Stück Scheiße behandeln soll!“

Andy steckte die Zigarette weg. Nur jetzt nicht irgendwelche Lebensweisheiten! Warum glaubten die Alten immer, sie müssten einem sagen, wo’s langgeht?

„Ich fahre nachher wieder nach Quilpie zurück, falls du es dir anders überlegst ...“ Scotty blickte durch seine Brillengläser zu Andy herüber. Der ist wie mein Vater, dachte Andy, starrte weiter durch die Windschutzscheibe, sagte: „Nein, ich werde es mir bestimmt nicht nochmal überlegen.“

Die Straße war breit genug für ein Auto. Wenn ihnen ein anderes entgegenkam, mussten beide auf den steinigen Seitenstreifen ausweichen. Aber ihnen begegnete selten ein Auto. Öfter scheuchten sie ein paar Schafe von der Straße auf.

Beinahe wäre er am Morgen wieder umgekehrt, als er seinen Vater vor dem Wohnwagen hatte sitzen sehen, den Blick auf die aufgeschütteten Sandhaufen geheftet. Doch er fuhr ab, und drehte sich nicht mehr um. Sein bisheriges Leben war zu einem einzigen großen Irrtum zusammengeschrumpft.

„Hab auch mal nach Opalen gegraben“, hört er Scotty jetzt sagen, „ist verdammt lange her. Damals in Yowah. Neben meiner Mine haben sie alle was gefunden, nur ich nicht!“ Er lachte. „Das ist nichts für mich. Brauch ´ne richtige Arbeit, bei der ich weiß, was am Ende dabei rumkommt! Und du und dein Vater, habt ihr was gefunden?“

Andy zuckte die Schultern.

„Manchmal.“ Wollte nicht erklären, dass sein Vater und er seit fünf Jahren vergeblich dem zweiten Level Opal suchten, die Schicht, die unter der ersten liegt, die der Vorbesitzer der Lease schon vor zwanzig Jahren gefunden und ausgebeutet hatte. Wollte nicht erklären, dass er nicht mehr an seinen Vater glaubte.

„Opale - das ist doch was für harte Jungs!“ Scotty sah an ihm herunter.

„Ich weiß ´ne Menge und kann mit Maschinen umgehen.“

Doch Scotty fragte weiter: „Warum bist du ausgerechnet heute abgehauen? Bin neugierig, na, komm schon, warum haut so einer wie du ab, Freundin?“ Scotty zwinkerte ihm zu. Andy schüttelte den Kopf, suchte nach einer Antwort, die Scotty zufrieden stellen und ihm die lange Geschichte ersparen würde.

„Ich seh lieber fern. Da gibt es die schönsten Frauen. Und das Beste ist, dass man denen nicht antworten muss!“, sagte er – und so ganz war das ja auch nicht gelogen. Scotty lachte und schlug sich auf die Schenkel. Da lachte Andy auch.

„Also bist du wegen der Weiber abgehauen!“, sagte Scotty, „ach, Junge, in deinem Alter hab ich auch noch ans große Glück geglaubt. Aber nach und nach wird dein Glück immer kleiner und du bist schon froh, wenn du wenigstens noch eine ganz schmale Scheibe davon erwischst.“

Andy sagte nichts. Typisches Geschwätz von Losern, dachte er. Er jedenfalls glaubte ans große Glück und er wollte endlich sein Stück davon abhaben. Und deshalb hatte er an diesem Morgen seinen Vater allein im Camp zurückgelassen.

Moodroo

Moodroo kauerte sich zusammen. Fror. Lag da wie ein toter, schwarzer Embryo. Und dann träumte er wieder den Traum, immer wieder denselben Traum, aus dem er nicht aufwachen konnte, wenn er so viel getrunken hatte.

Im Mund ein krabbelnder Knebel. Schmeckt nach ranzigem Fett und faulem Fisch. Fühler, spindeldürr und spitz, tasten sich über die Zunge, treffsicher bis in die Lunge hinunter. Haarige Beinchen schaben die Mundwände wund. Er weiß es, sie ist es wieder, hat ihn im Schlaf überrascht, sich in ihn gestohlen, die schwarze Kakerlake. Er würgt, hustet, will sie aus sich herausschleudern, doch sie bohrt die gezackten Beinchen mit den Widerhaken in sein Fleisch und ankert in seiner Schleimhaut.

Sein Kopf wirbelt herum. Er bäumt sich auf, er wird ersticken – ersticken an der Kakerlake, die immer größer wird. Er schlägt um sich, bäumt sich auf – und knallt auf etwas Hartes. Und dann das Wagnis, die Augenlider zu heben. Tonnenschwere Lasten schieben sich widerstrebend hinauf. Gleißendes Licht schneidet die Augäpfel in Scheiben. Unkraut, metallisch, sprießt aus aufgerissenen Polstern. Fischaugen-Sicht: Tisch, Sessel, Fernseher, aufgeblasen und prall bis zum Platzen. Stechender Schmerz wird dumpf. Etwas hat seinen Kopf gerammt. Nässe, klebrig und warm auf den Händen. Plötzlich: Tisch, Sessel, Fernseher wieder schlank. Jemand hat die Luft rausgelassen – nein, es war die Flasche mit Schnaps, die Fischaugenflasche vor seinen Augen ist umgefallen. Die Kakerlake ist auch verschwunden.

Er rappelt sich auf, nur ein bisschen, damit er besser sehen kann. Er hat es geahnt. Es geht wieder los. Sie kriecht unter dem Ritz der Badezimmertür hervor, die rote, dunkelrote Lache kriecht auf ihn zu, wird so groß wie ein See. Die Kakerlaken werden es riechen, sich draufstürzen wie auf rohes Fleisch. Er hört sie schon scharren und kratzen. Sie winden sich aus Steckdosen, klopfen in den Wänden, huschen unter dem Teppich hervor, schlüpfen aus dem Fernseher, fallen von der Decke, rutschen die Lampe herunter, krümmen sich in seinem Magen. Er würgt, kotzt ätzende Säure - und Kakerlaken. Die ersten schmatzen schon, schlürfen die rote, zähe Flüssigkeit, die unter der Tür hervorfließt, dabei hat er es doch längst aufgewischt. Ihr Blut.

Shane

Shane hasste es, zu fliegen, auf holprigen Pisten zu landen, in weißen Wolkenhaufen nichts mehr zu sehen. Er hasste Turbulenzen und enge Sitze und taub machendes Getöse. Er hasste es, im strahlenden Blau des Himmels nach irgendwelchen Punkten Ausschau zu halten, die in Sekundenbruchteilen größer wurden, auf einen zuschossen und sich als Flugzeuge entpuppten. Und er hasste es, das alles angeschnallt über sich ergehen zu lassen. Liebend gern verzichtete er aufs Fliegen. Und diesmal hätte er ganz besonders gern darauf verzichtet. Es sah nämlich ganz danach aus, als wäre es das tote Gleis seiner Karriere. Ein schlagender Beweis: Der Jet, den die Homicide normalerweise zur Verfügung hatte, stand für ihn diesmal nicht bereit. Es handelte sich ja um nichts wirklich Dringendes. Und so musste er in dieser einmotorigen Bonanza fliegen.

Sein Hirn war noch immer gefüllt mit den Daten des Falles, den man ihm einfach weggenommen hatte.

Das erste Opfer war eine achtundvierzigjährige Kassiererin, die im Coles Supermarkt gearbeitet hatte. Auf dem Weg zu ihren Eltern, die sie übers Wochenende hatte besuchen wollen, hatte sie eine Reifenpanne gehabt. Man fand ihr Auto am Straßenrand, nicht weit von Dalby, zweihundert Kilometer von Brisbane entfernt. Der Wagenheber lag neben dem platten Reifen. Ein Grundstücksmakler, der das Gebiet inspizierte, sah etwas Helles hinter einem Busch und nahm einen süßlichen Geruch wahr. Zuerst dachte er, es handle sich um ein verwesendes Tier – Schafe und Rinder fand man öfter – doch als er näher kam, erkannte er menschliche Hände.

Das zweite Opfer war die dreiundvierzigjährige Deb Johanson, die sich auf der Rückfahrt von einem Wochenendtrip mit ihrem Freund gestritten und darauf bestanden hatte, drei Kilometer vor Barcaldine aus dem Auto zu steigen. Zwei Tage später stolperte ein Familienvater über die Leiche. Er wollte zum Fischen und wählte für seinen Camper einen Platz unter Bäumen, denselben, den auch der Mörder ausgesucht hatte. Die dritte und bisher vorletzte Leiche, die der achtunddreißigjährigen Anita Horwitz, entdeckte eine Reiterin auf ihrem morgendlichen Ausritt, hinter einem gefällten Baum, unweit von Tambo am Mitchell Highway, zwischen Charleville und Longreach.

Bis auf den letzten Fall in Roma waren die Toten stets nach kurzer Zeit gefunden worden. Trotzdem hatten Vögel, kleinere Tiere und Ameisen oft Leichenteile bereits gefressen. Man fand auch Knochen in einem Vogelnest. Offenbar vergrub der Mörder also die Leichen nicht, weil er um deren schnelle Verwesung wusste.

Die Kollegen vom Bureau of Criminal Intelligence (BCI) analysierten die Morde. Die Enthauptung weise auf eine Hinrichtung hin und diene weniger der Absicht, die Identifikation des Opfers zu erschweren, sagten sie. Der Stich in den Bauch war offenbar ein weiteres Ritual, und sie rieten dazu, dieses Detail vor der Presse nicht zu erwähnen, um einem Verdächtigen vielleicht eine Falle stellen zu können.

Shane sah aus dem Fenster. Unter ihm sah das Land aus, als hätte man einen staubigen Kartoffelsack darüber geworfen. Kein Grün, kein Rot, kein Gelb, nur die Straße als ein heller Strich ins Braun geritzt, und bis zum Horizont kein Anzeichen menschlicher Besiedlung.

„Wird gleich ein bisschen ungemütlich“, sagte auf einmal der Pilot, „da hinten kommt ´ne kleine Wolkenfront. Kontrollieren Sie mal Ihren Sicherheitsgurt!“

„Großartig“, brummte Shane. Auch das noch, Turbulenzen kamen mit einem Kater ganz besonders gut. Er tastete unauffällig nach dem Beutel unter seinem Sitz. Als Alptraum war die Fahrt auf einem historischen Segelboot in seinem Gedächtnis gespeichert. Die Yacht war ihm von Anfang an suspekt erschienen, nicht nur, weil sie in diesem, uraltem Softporno mit Brooke Shields vorgekommen war, nein, auch weil er am Hafen beobachtet hatte, wie langbeinige Mädchen die Segel geflickt hatten ... Doch Kim bestand darauf, sie lag ihm den ganzen Nachmittag in Coffs Habour, wo sie während ihrer Reise an der Küste entlang vorbeikamen, in den Ohren, bis er endlich die Tickets für den nächsten Tag gekauft hat. Der Ozean machte einen trägen Eindruck, und er hoffte, die Sache wäre in ein paar Stunden glatt über die Bühne gegangen. Kim strahlte. Die ersten zehn Minuten, nachdem sie abgelegt hatten, bestaunte er noch die polierten Holzplanken, die verzierten, metallenen Knäufe, Hebel und Haken, und freute sich auf die Drinks. Nebenbei stellte er noch fest, dass Kim die schönste Frau an Bord war. In jenen Minuten noch wertete er das Heben seines Magens als kurze Umgewöhnungsphase. Während er gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfte, kreischten über ihm die Möwen und der Schiffseigner plauderte munter über die Dreharbeiten – die ja schon ein halbes Menschenalter zurückliegen mussten. Kim strahlte immer noch und war überzeugt, dass sie gerade einen Wal gesehen hatte, als es aus war: Er flüchtete eiligst unter Deck auf die Toilette. Als er irgendwann als sein eigener Geist wieder hinauftaumelte, schob Kim ihn rasch in die hinterste Ecke des Hecks zu zwei anderen Männern. „Noch achtundvierzig Minuten“, brachte einer hervor, bevor er sich rasch abwandte und sich über die Reling übergab.

„Unter ihrem Sitz sind Kotztüten“, sagte der Pilot, als sie die ersten grauweißen Wattebäusche durchflogen und dabei ordentlich durchgeschüttelt wurden.

„Ich musste noch nie im Flieger kotzen“, brüllte Shane lauter als notwendig. Plötzlich war Bob zu einem anderen Menschen geworden. Vorbei seine Schläfrigkeit - mit wachen Augen verfolgte er die Wolkenberge, kurvte mal nach links, mal nach rechts, stieg mal höher, fiel mal ab, tauchte geradezu virtuos durch den Himmel wie ein Fisch in den Korallen des Barrier Reefs.

Nach drei Stunden deutete Bob aus dem Fenster und behauptete, da unten läge Coocooloora. Shane reckte sich und konnte nicht mehr erkennen, als braunes Land.

Andy

Auf einmal wollte er aussteigen. Seine Mundschleimhaut war trocken wie Pergament und beim Schlucken klebte die Zunge am Gaumen fest. Zum ersten Mal gab Andy es zu: er hatte Angst vor der wirklichen Welt. Seine Welt, das war die Lease in Queensland gewesen, die sein Vater für dreißig Jahre gepachtet hatte, ein fünfzigtausend Quadratmeter großes Stück roter Wüste. Drei Stunden Autofahrt von Quilpie, dem nächsten Ort, entfernt und tausendzweihundert von der Küste.

Die erste Stunde fuhr man über einen geteerte Straße, die in eine staubige, holprige Piste überging. Gras wuchs nur noch in stachligen, struppigen Büscheln auf der gelblichen, lehmigen Erde. Achtzig Kilometer weiter endete die Piste an einem Gatter. Und von da an musste man den Reifenspuren vom letzten Mal folgen. Zwei Stunden Fahrt durch immer gleiche, geröllbedeckte, rotschwarze Ebenen, die immer gleiche, flache Hügel voneinander trennten. Hatte man eine Ebene durchquert begann die nächste. In Andys Fantasie verwandelten sich die toten Baumstämme auf der verkrusteten, rissigen Erde zu Saurierskeletten, die Äste der Stämme sahen aus wie verdorrte Nervenstränge und die runden Felsbrocken wurden zu Eiern, die die Saurier gelegt hatten und aus denen jeden Moment ihre Jungen schlüpfen würden. Die hüfthohen, spitzen Termitenbauten, die in den roten Ebenen emporwuchsen, waren Wohnburgen von Marslebewesen, und die Piste, über die sie fuhren, war die Blutspur, die ein verletzter Urelefant auf seinem Weg zu seinem Friedhof hinter sich hergezogen hatte.

Wenn Regen oder Wind die Reifenspuren vom letzten Mal weggewischt hatten, würde sich auch der beste Pfadfinder nicht mehr sicher sein. Und wenn es regnete, verwandelte sich die Erde in einen roten Morast. Jedes Vorwärtskommen wurde unmöglich. Man blieb ganz einfach im klebrigen Schlamm stecken. Und wenn man ausstieg, um weiterzulaufen, verlor man seine Schuhe.

Gestern Morgen war diese Welt plötzlich wie ein Luftballon an einer Nadel zerplatzt. Diese Nadel war Bernie.

Sonnenstrahlen hatten sich durch das Fliegengitter des aufgeklappten Wohnwagenfensters gezwängt. Bald würde es im Wohnwagen so warm sein, dass man kaum noch atmen konnte. Andy tastete am Boden nach den Jeans, die er am Abend dort fallen gelassen hatte, kramte aus der Hosentasche eine fast leere Schachtel Zigaretten und das Feuerzeug. Hier draußen gab es keinen Geruch – keinen Gestank – keinen Duft – und wenn sie nicht arbeiteten, auch kein Geräusch. Deshalb brauchte er unbedingt eine Zigarette. Er ließ das Feuerzeug klicken, sog den Benzingeruch ein, hörte das Knistern des verbrennenden Papiers und sah den Tabak rötlich aufglühen. Dann schlug er die löchrige Bettdecke zurück, verschränkte die Arme unter dem Kopf und spürte die Morgenluft auf seiner nackten Haut. Er blies den Rauch in die Luft, dachte an seine Mutter, wie sie stets gegen den Willen seines Vater geraucht hatte.

Am Morgen seines elften Geburtstags hatte sie ihm einen Schokoladenkuchen gebacken. Als er dann mit seinen Freunden spielte, schlang sie auf einmal die Arme um ihn, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und sagte leise: „Ich vergesse dich nicht.“ Er wusste nicht, was sie damit meinte. Sein Vater murmelte am nächsten Tag, dass Mary mit einem Mann auf und davon sei. Nach zwei Jahren lag eine Postkarte aus Perth von ihr im Briefkasten: Sie hätte jetzt einen Hund und ein Bed & Breakfast-Hotel. Das lag jetzt vier Jahre zurück. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihr gehört. Flucht nannte sein Vater das, Flucht vor Problemen, die sich immer im Leben stellten. Und Andy lernte, dass man nicht fliehen durfte, sondern ausharren musste, egal, was passierte.

Auf seiner Armbanduhr war es halb sieben, sein Vater war bestimmt schon wach, saß wahrscheinlich schon am Tisch, trank Kaffee und wartete, dass Andy endlich kam, um mit ihm raus zur Mine zu fahren.

Nach ein paar Zügen stand Andy auf, zog die Jeans an, wühlte ein verwaschenes T-Shirt aus dem Kleiderhaufen auf dem Tisch und klappte die Tür des Wohnwagens auf. „Elefantenfriedhof“, nannte er das Camp: Drei baufällige Wohnwagen, die einen Ortswechsel nicht mehr überstehen würden und drei Wellblechverschläge für Generator, Dusche und Klo. Dazwischen dürre, verkohlte Bäumchen, auf deren schwarzen Zweigen manchmal kleine, dicke Vögel saßen. Der Himmel strahlte blau. Gegen Mittag, wenn es so heiß werden würde, dass man kaum noch atmen könnte, lagen weiße Schleier über dem Blau.

Andy schlüpfte in die staubigen Gummilatschen, schlurfte am Wohnwagen seines Vaters vorbei, vor dem sie einen moskitonetzbespannten Verschlag errichtet hatten. Sein Vater war doch noch nicht aufgestanden. An den Metallfässern, die hinter dem Wohnwagen lagen, blieb er stehen, hielt einen zerbeulten Blecheimer unter den Hahn, der das Fass verschloss und drehte ihn auf. Bei der nächsten Fahrt nach Quilpie müssten sie Wasser kaufen. Dass er nicht mehr dazu kommen würde, wusste er in diesem Moment noch nicht. Er trug den Wassereimer zur Dusche, dem Blechverschlag, in dem ein Sack mit Zotte aufgehängt war, schüttelte das Wasser in den Sack, zog sich aus, drehte die Zotte auf und zuckte zusammen. Über Nacht war das Wasser kalt geworden.

Als er zurück zum Wohnwagen schlenderte, hockte sein Vater am Tisch unter dem Moskitonetz, seinen blauen Becher vor sich. „Gut geschlafen?“, fragte er Andy, als der an ihm vorbei die Stufen zum Wohnwagen hinaufstieg. Andy brummte. Er schüttete das noch warme Wasser aus dem Kessel auf zwei Löffel Bushells Instant Kaffee, holte drei Scheiben Toast und die süße Marmelade ihrer Nachbarin in Quilpie, Dora Hamilton, aus dem Kühlschrank und setzte sich zu seinem Vater an den Tisch.

„Du erinnerst dich doch an die Geschichte mit Terry“, begann sein Vater und kratzte seinen Bart. Natürlich erinnerte er sich. Er kannte sie in- und auswendig.

„Damals in Andamooka“, holte sein Vater aus, „als deine Mutter und ich angefangen haben zu graben, war da auch dieser Terry Walton. Wo der grub, fand er Opal. Terry war sicher schon zehnmal in seinem Leben Millionär! Und wenn er wieder einen dicken Fund hatte, dann ist er nach Sydney oder nach Las Vegas, hat gespielt auf Teufel komm raus, bis nichts mehr da war. Zweihunderttausend in einer Nacht waren da nichts. Einmal hat er sogar sein Ticket verspielt, da mussten dann ein paar Freunde zusammenlegen und ihm ein Ticket schicken.“ Er lachte, schlurfte Kaffee und sah in die Weite. Andy schob lustlos die Toastpappe in seinem Mund herum. Er wusste, dass die Geschichte noch lange nicht zu Ende war.

„Aber da machte sich keiner Gedanken!“, ging es auch gleich weiter, „alle wussten ja, wenn Terry zurückkommt, dann findet er wieder Opal! Das war auch so. Bis auf einmal. Da war es mit einem Schlag vorbei. Peng. Nix mehr, gar nix mehr, tja, er ist jetzt, soweit ich weiß, in einem Armenasyl in Sydney.“ Sein Vater sah kopfschüttelnd in die Ferne.

„Letztes Mal hat er sich umgebracht“, konnte sich Andy nicht verkneifen, zu sagen.

„Ach ja? Kann sein, hab ich vielleicht durcheinander gebracht mit ... Billy Eisenstein. Der ging doch glatt mit ´ner Taschenlampe und ´nem Schraubenzieher runter in seinen Stollen und kam mit Opal für tausend Dollar wieder raus!“ Er lachte. „Das war ein Bursche, hat seinen Stollen mit Dynamit vermint. Ist ihm auch glatt einer ins Netz gegangen. Ich weiß noch, dem hat es das ganze Bein weggerissen!“

Andy fürchtete eine weitere Story, doch sein Vater schwieg und schaute in seinen Kaffeebecher. Plötzlich hörte Andy ein langsam lauter werdendes Surren. Weit hinten in der roten Ebene quoll eine Staubwolke hoch.

Der Besucher war Bernie Stuart, der ab und zu zur Mine kam, um für ein paar Tage mitzuarbeiten, weil es ihm Spaß machte, wie er behauptete. Er war um einen Kopf größer als Andys Vater aber brachte sicher nur ein Drittel Gewicht auf die Waage. „Ich will doch der Erste sein, wenn du endlich deinen großen Fund machst!“ Bernie lachte und zeigte dabei gelbliche Zähne hinter einem grauen Bart.

Der Motor des klapprigen Caterpillars dröhnte, und die Sandkörner in jeder Ritze ließen die metallenen Gewinde kreischen und knirschen. Andy saß im Führerhaus hinter den Schaltknüppeln und schaufelte den Sand, den ihr Vorgänger aus der Erde geholt und als Abfall liegen gelassen hatte, auf eine sich drehende Siebtrommel. Sein Vater hockte mit Bernie in der engen, fensterlosen Alukabine, in die hinein ein Förderband die dicken Brocken transportierte, die durch die Fliehkraft nicht zerstäubt wurden. Unter Schwarzlicht begutachteten sie jeden Brocken und sortierten die aus, auf denen sie eine schillernde Opalader entdeckten. Später schlugen sie diese Brocken auf, in der Hoffnung, dass die Ader nicht nur ein dünnes Haar auf der Oberfläche war, sondern als dicke, bunte Schicht den ganzen Stein durchzog.

Immerhin brachte das Durchsieben des Abfalls des Vorgängers so viel ein, dass wenigstens die Kosten für die Maschinen und das einfache Leben gedeckt waren. Abfallhügel für Abfallhügel siebten sie durch, während sie an anderen Stellen tief in die Erde gruben. Auf der Suche nach dem zweiten Level, der Schicht Opal, die der Vorbesitzer der Mine nicht gefunden hatte. Jeder Tag härteste Knochenarbeit. Fliegen stürzten sich auf jede feuchte Stelle, saßen haufenweise an den Augen, auf den Lippen, krochen in die Nasenlöcher und Ohren, ließen sich auf dem durchgeschwitzten T-Shirt nieder. Die Sonne brannte vom Himmel, als wäre die Luft ein Brennglas.

Auch dieser Tag war nicht anders. Während Andy versuchte, den Bagger wieder anzuwerfen, weil dieser sich plötzlich nicht mehr von der Stelle bewegen wollte, hörte er wie Bernie und sein Vater miteinander sprachen.

„Ernst“, sagte Bernie, „in Lambina holen sie Opal raus, so groß wie Ziegelsteine. 500.000 Dollar in einer Woche, gute Qualität. Du kannst da doch gar nicht mithalten. Gib es endlich auf!“

Andy konnte beobachten, wie sich sein Vater von Bernie abwandte, über das Land sah und schließlich sagte: „Ich hätte schon tausendmal aufhören können. Aber um was zu tun?“

„Denkst du nicht auch mal an Andy?“, fragte Bernie. „Der Junge kann doch nicht sein Leben lang in dieser Trostlosigkeit nach etwas suchen, das es vielleicht gar nicht gibt!“

„Wir finden den zweiten Level! Ich weiß es! Wir sind ganz nah dran!“

Bernie wurde lauter: „Begreif doch endlich: Es gibt keinen zweiten Level! Sonst hättest du ihn schon längst gefunden – in den fünf Jahren! Hör endlich auf! Andy zuliebe, dass der wenigstens noch ´ne Chance im Leben hat.“

Andys Vater drehte sich wieder zu Bernie um.

„Misch dich nicht in Dinge, die nur Andy und mich etwas angehen. Und dass du mir nichts zu ihm sagst, das mit Lambina und so. Jetzt hilf mir mal, da drüben sind ein paar Brocken, die ich noch nicht aufgeschlagen hab!“ Und damit war für seinen Vater das Thema beendet.

In diesen Minuten fasste Andy einen Entschluss. Er würde nach Lambina abhauen. Tausendfünfhundert Kilometer weiter – und dort reich werden. Und dann würde er zurückkommen, und sein Vater würde einsehen, dass es richtig gewesen war.

Am Abend als sie zusammen am Tisch saßen und ein paar Flaschen lauwarmes Hahn-Bier tranken, fragte Andy, ob Bernie ihn am nächsten Tag nach Quilpie mitnähme. Von da an sprach sein Vater nicht mehr mit ihnen. In jener Nacht konnte Andy nicht schlafen. Am Morgen nahm ihn Bernie nach Quilpie mit. Dort wartete er eine Stunde, bis er in Scottys Lieferwagen stieg. Sein Vater hatte noch nicht einmal mehr Auf Wiedersehen gesagt.

Moodroo

Moodroo blies blaue Rauchringe in die Luft, sah ihnen nach, wie sie unter dem Balkon des Coocooloora-Pubs hervor – und über die Straße schwebten und sich dort langsam auflösten, wenn sie nicht vorher von einem der vorüberfahrenden Autos zerfetzt wurden. Sein Kopf tat ihm weh, sein ganzer Körper war ein Klumpen Schmerzen. Fucking Life. Vor ein paar Jahren waren noch andere da gewesen, mit denen er rauchen und trinken und den Rauchringen hatte nachblicken können. Mit denen er die Songs gesungen hatte, die nicht drei Minuten dauerten, wie die der Weißen, sondern Tage, Monate, ein halbes Jahr. Wenn die Vögel auf ihrer Wanderschaft über Coocooloora hinwegflogen, dann sangen sie den Song drei Tage und drei Nächte, und die, die im nächsten Ort wohnten, über den die Vögel zogen, sangen ihn weiter, und so fort. Und wenn die Vögel zurückkamen, sangen sie ihn auch wieder.

Doch jetzt begann er die Songs zu vergessen. Und wenn er die Songs nicht mehr wusste, hörte er auf zu sein. Wer würde sich um ihn kümmern, wenn er tot war? Die Zeremonien – wer würde sie noch kennen und dafür sorgen, dass sein Geist nicht wieder in den toten Körper zurückkehrte?

Früher war die Welt weit und groß und voller Leben und ohne Zeit gewesen. In jedem Moment war Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft zugleich gewesen. Doch sie hatten die Vergangenheit vergessen, Zukunft gab es nicht mehr, und die Gegenwart war tot. Er gehörte zu den Letzten seines Tribes. Mit ihm würde die Welt sterben.

Am besten war das Leben zu ertragen, wenn er gar nicht mehr wusste, ob sein Arm wirklich sein Arm war und sein Bein sein Bein und sein Kopf sein Kopf. Er war nichts Ganzes, alle Glieder schwebten, flogen herum. Das einzige, was sie zusammenhielt, war das Schwarz seiner Haut.

Fucking Blacks, fucking Whites! Seine Glieder begannen, sich langsam wieder zusammen zuschrauben. Fucking Beer! Er musste was trinken, damit das wieder aufhörte, er wollte schweben – wie der Geist der Ahnen über das Land. Früher.

Der Himmel wurde dunkler, Regen würde einsetzen. Das wusste er noch, alles andere hatte er schon längst vergessen. Das Große Sterben hatte schon lange begonnen. Er rundete seine Lippen, blies einen Ring in die Luft. Ein Windstoß zerriss ihn, bevor er über die Straße schweben konnte.

Er hatte Angst vor der Nacht, die bald kommen würde. Dann kehrten sie zurück, die Geister der Toten, für deren ordentliches Begräbnis er nicht gesorgt hatte. Er musste trinken, dann würde er sie vielleicht nicht bemerken.

Outback Todesriff

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