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Kapitel 4

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Shane

Um sieben Uhr abends rollte er endlich vor die Polizeistation in Coocooloora. Er rechnete damit, dass er eine Stunde brauchen würde, um seinen Bericht zu schreiben und wunderte sich, als er Paddy am Schreibtisch sitzen sah.

„Haben Sie heute etwa auch Dienst?“, fragte Shane und schaltete den Computer an. Paddy knurrte etwas Unverständliches. Shane richtete seinen Ordner und die Datei ein.

„Wissen Sie, wer neulich die dreitausend Dollar bei der Pferdewette in Charleville gewonnen hat?“

Paddy zuckte die Schultern.

„Kommen Sie, Paddy, ich denke, Sie kennen hier jeden!“

„Na ja, die meisten kenn ich auch, also“, er kratzte sich am Kopf, „soweit ich weiß, war das ein Schafscherer aus Augathella, Herb ... Herb Richards.“

„Wissen Sie, ob er noch lebt?“

„Herb?“ Paddy lachte donnernd. „Den hab ich letzte Woche im Pub gesehen. Da war er noch quietschfidel.“

Es wäre auch zu einfach gewesen, wenn sich Herb als der unbekannte Tote herausgestellt hätte.

„Sind Sie eigentlich hier aufgewachsen? Können Sie sich an den großen Hagelsturm erinnern?“, fragte Shane weiter. Paddy war in Plauderlaune, das musste er ausnutzen.

„Klar, kann ich mich daran erinnern. So was vergisst man sein Leben nicht. Ich wäre beinah draufgegangen. War mit John Morgan unterwegs, den kennen Sie noch nicht.“

„Hab ihn heute kennengelernt. Sympathischer Typ.“ Shane sah ihn wieder vor sich, die blitzende Gürtelschnalle und das siegessichere Lachen – und seine Frau.

„Genau der. Wir haben uns in ´ner Höhle von den Blackfellows verkrochen.“ Paddy lachte und war wohl ganz in der Erinnerung versunken. „Meine Mum hat Ängste ausgestanden, bis ich endlich wieder zu Hause war. Kniehoch lag der Hagel auf Erde.“

Jetzt ist der richtige Moment, dachte Shane und sagte: „Paddy, was wird hier gespielt?“

„Wie meinen Sie das?“

„Warum hat Billy Henderson so seltsam reagiert, als Sie die Morgans erwähnten?“

„Hat er das?“ Die kleinen Augen starrten ihn an.

„Was meinte er mit alten Geschichten? Wenn ich eins ganz sicher nicht vertragen kann, dann ist es das, wenn jemand ernsthaft glaubt, er könnte mich verarschen, Paddy!“

„Aber ich weiß beim besten Willen nicht, was ...“

„Billy Henderson und die Morgans, kommen Sie, Paddy, raus damit!“, fiel Shane ihm ins Wort.

„Ach, das ist irgendeine alte Geschichte, wie Billy schon gesagt hat.“ Paddy winkte ab. „Außerdem hat das eher was mit Billys Vater Ian zu tun. Das muss Sie gar nicht interessieren.“

„Was mich interessiert und was nicht, das entscheide ich immer noch selbst.“

„Sie und Ihre Wortspiele!“, murrte Paddy und seufzte. „Ich weiß nicht, was da passiert ist. Irgendeine Frauengeschichte. Zwei Freunde verlieben sich in ein und dieselbe Frau und bekriegen sich seitdem. Wie im Film.“ Paddy fing an, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Aber so einfach ließ Shane ihn nicht davon kommen.

„Also, der alte Ian Henderson und der alte Morgan haben sich in dieselbe Frau verliebt? Und wer war das?“

„Ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich da festbeißen wie ein Hund an einem Gummiring“, brummte Paddy.

„Das ist das Einzige, was er hat, dieser Hund“, sagte Shane, „los, werfen Sie ihm schon ein Stück Fleisch hin, und er gibt Ruhe!“

Paddy starrte Shane an als hätte er sich gerade tatsächlich in einen knurrenden Hund verwandelt.

„Kommen Sie, Paddy, packen Sie aus.“

„Ich weiß nichts, außerdem hab ich jetzt Feierabend“, sagte Paddy, nahm seinen Hut von der Ablage, brummte was von Mickey, steckte seine Waffe ein und ging. Wahrscheinlich war es Sentimentalität, gestand Shane sich ein, die ihn dazu brachte, noch einmal in die Akte von Betty Williams zu sehen. Malerin sei sie gewesen, erinnerte er sich. Die Fotos zeigten den mit T-Shirt und Shorts bekleideten Körper einer Frau in einer Badewanne, und blutig gefärbtes Wasser, das über den Wannenrand lief. Der Wasserhahn, so stand im Bericht, war nicht zugedreht gewesen. Das Wasser war über den Boden gelaufen und hatte sogar in der Küche gestanden. Wieso hatte sie das Wasser nicht abgedreht? Auf dem nächsten Foto waren die aufgeschnittenen Handgelenke zu erkennen. In der Spüle in der Küche, hatte sich laut Bericht eine Pfanne mit angebrannten Rühreiern befunden, auf der Ablage schmutziges Geschirr und der Abschiedsbrief, eine Schüssel mit Hackfleisch und ein zusammengeknülltes Geschirrhandtuch mit Hackfleischresten und Blutflecken. Im Protokoll stand, dass ihr Bruder Moodroo sie gefunden hatte. Shane hatte sich schon öfter vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn damals er anstelle der Putzfrau seine tote Schwester Christine gefunden hätte. Er sollte aufhören, sich mit diesem Selbstmord zu befassen.

Andy

Als er wieder nüchtern war, wurde ihm klar, dass er in etwas hingeraten war, in das er nicht hatte hineingeraten wollen. Zurück in Coocooloora ließ er sich am Café absetzen und sah dem Wagen von Brady und Mike nach, wie er mit brüllendem Auspuff über die Hauptstraße davonschoss. Andy brauchte Zeit zum Nachdenken.

Er lief über die Straße und betrat Best’s Coffee Shop. Eine Neonröhre erhellte den großen Raum. Hier hatte man schon lange nicht mehr renoviert oder besser: hier hatte man noch nie renoviert, seitdem vor zwanzig Jahren das Café eröffnet worden war. Die Wände waren vergilbt und die Kunststoffschicht der Tische abgeplatzt. Die Speisekarte enthielt das Übliche und es roch wieder nach Bratfett.

Hinter der Theke standen zwei Frauen, und Andy fiel ihre Ähnlichkeit auf. Wahrscheinlich waren es Mutter und Tochter. Drei der fünf Tische waren besetzt. Andy erkannte die Frau mit den Leggins und dem Kinderwagen wieder, die ihn vor ein paar Tagen beinahe umgefahren hätte. Ein jüngeres Pärchen sah wie hypnotisiert in den Fernseher über der Theke, während ihr Kind schokoladenverschmiert unter dem Tisch herumrobbte. Niemand schien von dem Überfall auf Miller’s Bottle Shop in Charleville Notiz genommen zu haben. Andy bestellte einen Kaffee und Fleischpastete, die in Plastik verpackt auf der Theke lag, setzte sich an einen Tisch in der Ecke und verbrannte sich am heißen Kaffee die Zunge.

Die ältere der beiden Frauen hinter der Theke erinnerte ihn an seine Mutter. Als sein Vater kein Opal fand, schuftete sie in einem Imbiss. Wenn sie abends nach Hause kam, brachte sie meistens Hamburger mit. Er erinnerte sich an den Geruch seiner Mutter nach Bratfett. Ob sie wirklich inzwischen ein Bed & Breakfast hatte? Er hatte ihr Gesicht vergessen. Vielleicht würde er auch bald das Gesicht seines Vaters vergessen. Ob sein Vater auch ihn vergessen würde? Wie es ihm wohl jetzt ging? Sollte er nicht zurückfahren und nachsehen? Aber wie stünde er dann vor seinem Vater da?

Von seinem Platz aus konnte er fast die ganze Straße sehen. Den Pub, den Videoshop. Nur den Lebensmittelladen konnte er nicht sehen, er war nur wenige Hauser nebenan. Was tat sie gerade? Warum hatte sie ihn geküsst?

„Ist das nicht schrecklich?“, sagte die jüngere der beiden Frauen und räumte den Nebentisch ab. „Das da mit dem Killer!“ Sie zeigte zum Fernseher hoch. Fotos von vier Frauen erschienen auf dem Bildschirm. Sie senkte ihre Stimme.

„Und wenn er unter uns ist?“

Für Horrorgeschichten hatte sich Andy noch nie interessiert. Morgen, sagte er sich, würde er gehen.

Als er aus dem Café kam, war die Sonne gerade untergegangen. Noch immer regnete es nicht. Vielleicht würde es auch überhaupt nicht regnen, weder heute noch morgen. Wenn jetzt ein Auto anhielt, würde er einfach einsteigen und mitfahren, egal, wohin.

Doch die Stadt war wie ausgestorben.

Shane

„Heute ist aber nicht viel los!“, stellte Shane fest, als er die Tür zum Pub aufstieß und in einen leeren Raum blickte. Als Kate ihn bemerkte drehte sie die Musik leiser und zapfte ein Bier.

„Ich hab’s manchmal gern laut. Besonders wenn nix los ist. Die sind alle drüben in Augathella, da machen sie einmal im Monat `n größeren Abend im Pub.“ Sie hatte getrunken.

„Da verpass ich ja was!“, meinte Shane und griff zum Bier.

„Ich glaub, darauf können Sie gern verzichten. Ist nicht so wie bei Ihnen in der Stadt. Clubs und was es da alles so gibt.“

Shane lachte. „Seh ich aus, als ginge ich in Clubs?“

Sie musterte ihn von oben bis unten und grinste dabei.

„Sie können sich wahrscheinlich kaum vor Angeboten retten, hab ich Recht? Jetzt weiß ich auch, warum man sie hierhergeschickt hat. Damit Sie mal ruhig gestellt sind.“ Sie prustete los.

Er lachte wieder und dachte, dass sie damit ins Schwarze getroffen hat.

„Noch ein Bier?“

„Nur wenn Sie eins mit mir trinken“, sagte er.

Sie lächelte anzüglich und wechselte das leere gegen das volle Glas aus. Vielleicht bekam er so etwas aus ihr heraus.

„Erinnern Sie sich an das Rugby-Spiel zwischen Broncos und ... jetzt hab ich die andere Mannschaft vergessen. Jedenfalls war es am ersten Mai.“

„Oh, Jesus, brauch ich jetzt ´n Alibi?“ Sie setzte eine Unschuldsmiene auf.

„Ich würde gern wissen, ob Sie sich an die zwei Bauarbeiter erinnern, die den Parkplatz geteert haben.“

„Klar, erinnere ich mich an die. Einer war ziemlich knackig.“ Sie lachte kehlig.

„Waren die beiden an dem Abend hier?“

„Herrje ...“ Sie schien sich Mühe zugeben, sich zu erinnern. Schließlich schüttelte sie den Kopf „Also, nein, beim besten Willen ... ich hab ´n furchtbares Kurzzeitgedächtnis.“ Sie beugte sich ein wenig über die Theke und fügte in vertraulichem Ton hinzu: „Und Rugby hat mich noch nie interessiert. Das sind doch alles Fleischklöße. Ich hab lieber die Schlankeren.“ Sie lachte wieder und Shane lachte mit und fragte gleich:

„Das Stück Land, das Billy Henderson gekauft hat – darauf haben tatsächlich die Aborigines Anspruch erhoben?“

Sie nahm einen Lappen und begann das Spülbecken zu polieren, zapfte dann ihm und sich ein weiteres Bier.

„Niemand hat mehr davon geredet, bis die Leiche dort gefunden wurde. Da kommt doch alles wieder hoch.“ Sie trank und leckte sich den Schaum von den Lippen.

„Was meinen Sie damit?“

„Na, das mit der Vergangenheit und so. Aber ich sag Ihnen, dieses ganze Gerede von der Reconciliation, der sogenannten Versöhnung zwischen uns und den Schwarzen, das bringt doch alles nur böses Blut! Man sollte endlich mal einen Strich unter alles ziehen.“ Sie kam hinter der Theke hervor, um einen Tisch abzuräumen. „Wissen Sie“, sie stapelte die Teller übereinander, „´ne richtige Aussühnung kann’ s ja nie geben. Die kommen mit unserem Leben nicht zurecht - und wir nicht mit ihrem.“ Sie nahm vom Nebentisch den Aschenbecher mit und ging hinter den Tresen. „Ich will mit denen nix zu schaffen haben. Hab mal ´ne Schlägerei erlebt, da hat es beinah einen Toten gegeben. Und das war mein Freund. Nur weil so ein dreckiger, versoffener Blackfellow ausgerastet ist und ihm ´ne Flasche auf dem Kopf zertrümmert hat! Mein Freund musste genäht werden, und ´ne Gehirnerschütterung hatte er auch – das versoffene Schwein haben sie nach ein paar Tagen Kittchen wieder laufen lassen. So geht das doch immer. Die sollte man alle in Reservate in die Wüste schicken ...“

Nun kann sie wohl doch nicht mehr ihre Zunge im Zaum halten, dachte Shane. Sie sah kurz nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass außer Shane niemand zuhören konnte, dabei waren sie seit einer halben Stunde allein.

Sie flüsterte: „Ich glaub ja, dass das ein Toter von denen ist.“

„Warum?“, fragte Shane erstaunt.

Wieder sah sie sich um. „Na, die haben den Platz verhext, damit er uns Unglück bringen soll. Er heißt bei denen Danger Platz.“ Sie machte eine ausladende Geste über den leeren Raum. „Sehen Sie sich doch um, wenn irgendwo `ne Goldmine gefunden oder was gefördert wird, das Geld bringt, haben plötzlich ausgerechnet da ihre Ahnen geträumt!“ Bei den letzten Worten verdrehte sie genervt die Augen. „Wundert mich nicht, dass da manch einem von uns der Geduldsfaden reißt!“

„Wem?“

Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, sagte aber dann: „Man bemüht sich ja erst mal. Schließlich sind wir ja Christen – aber auch wir sind nur Menschen. Ich sag Ihnen jetzt was, Shane.“ Ihre Augen waren glasig. „Shane, ich mag sie. Wirklich. Sie sind so anders als die Kerle hier.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen. „Aber versprechen Sie mir, dass Sie nicht sagen, dass ich Ihnen was ...“

„Sie können sich drauf verlassen“, fiel er ins Wort.

„Wirklich?“ Sie sah ihm dabei tief in die Augen.

„Wirklich.“ Er nickte.

„Gut ... dann erzähl ich es jetzt.“ Sie räusperte sich und holte Luft, „ also ... vor einem halben Jahr oder so kam hier eine Aborigine an, eine Halbaborigine, Malerin. Es heißt, dass ihre Mutter von einem Weißen aus der Gegend vergewaltigt worden ist - die Malerin also das Ergebnis einer Vergewaltigung war.“ Sie trank von ihrem Bier und legte dann die Hand auf seinen Unterarm. Er überlegte, ob er sich jetzt verabschieden und aus dem Staub machen sollte, schließlich wusste er schon von der Malerin, als der Griff ihrer Hand fester wurde. Shane tätschelte sie und schob sie dann von seinem Arm.

„Und von wem sollte ihre Mutter vergewaltigt worden sein?“ Für einen Moment schien Kate abzuwägen, wie viel sie ihm noch anvertrauen durfte, oder ob sie vielleicht einen Preis dafür herausschlagen durfte. Dann aber redete sie doch weiter.

„Vom alten Morgan, heißt es. John Morgans Vater Alfred.“

„Wer sagt das?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Man munkelt es.“

„Wer?“

„Man munkelt es, mehr weiß ich nicht.“ Sie kicherte plötzlich. „Und jetzt muss ich mal für kleine Mädchen.“ Sie schob sich an der Theke vorbei zur Tür, hinter der ein langer Gang zu den Toiletten führte.

„Behauptet das vielleicht dieser Journalist, mit dem Betty Williams gekommen ist und der ein Buch über sie schreiben wollte?“, rief er Kate noch nach. „Wo ist er eigentlich?“

Sie drehte sich noch einmal um. „Abgehauen, mit so `ner Schlampe. Wie die Männer das eben so machen.“ Sie zog die Tür auf. „Und sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, wegen dieses Kerls ... Und jetzt Pipi!“ Die Tür schlug hinter ihr zu.

Er rief Jeff an. „Frank Copeland hieß der Journalist. Copeland, wie der Begründer unseres Radiokanals, hab ich mir deshalb gemerkt. Shane, tut mir leid, aber ich bin auf Sendung. Muss Schluss machen!“

Frank Copeland – dachte Shane – bist du der unbekannte Tote?

Am nächsten Morgen saß Paddy schon am Schreibtisch. Er steckte gerade etwas in den Mund und leckte die Finger ab, als Shane hereinkam. Kauend reichte Paddy ihm ein Fax herüber. Shane überflog die Nachricht, dass Detective Russell mit gebrochener Schulter im Krankenhaus in Charleville lag. Er war von der Leiter gefallen, als er eine Lampe aufhängen wollte. Shane knüllte die Nachricht zusammen und warf sie in den Mülleimer.

Als das Telefon klingelte, nahm Paddy ab und maulte: „Ich komm mir schon vor wie Ihre Sekretärin“, und gab Shane den Hörer. Es war Al Marlowe. Auf seinen Anruf hatte Shane gewartet.

„Also, nachdem du mich gestern Nacht zur ungelegensten Zeit noch angerufen hast, hab ich Folgendes für dich herausbekommen“, fing er an. „Gegen Frank Copeland läuft ein Verfahren wegen Veruntreuung. Angezeigt wurde er von Lorraine Reynolds, einer Galeristin in Brisbane. Sie hat ihm einen Vorschuss für ein Buch gezahlt, und er ist damit abgehauen.“ Al musste husten. „Shane“, fuhr er fort, „was hat er mit dem Toten zu tun?“

„Keine Ahnung, Al, vielleicht gar nichts.“

„Hör zu, ich schicke jemanden zu der Galeristin, und du siehst zu, was die Leute in Coocoo ... - Dingsda über Frank Copeland wissen.“

„Mach ich, Al.“

„Guter Junge“, sagte Al und legte auf.

Shane stand auf und goss sich Kaffee ein. Endlich schien sich eine Spur zu zeigen, doch sie konnte sich ebenso gut als Irrweg erweisen, das hatte er allzu oft schon erlebt. Dann kam endlich eine E-Mail. Betreff Frank Copeland. Shane ließ den Kaffee stehen und fing an zu lesen.

Frank Copeland, geboren am 4. April 1966, Journalist, geschieden, kam vor einem Jahr aus London nach Australien, wohnte in einer Pension „The Place“ in Brisbane. Er arbeitete als freier Journalist für Magazine und Tageszeitungen.

Seine Autoversicherung, eine Haftpflichtversicherung und seine Mobilfunkrechnung lässt er abbuchen. Das Kennzeichen seines Wagens, eines beigen Holden Kombi: VBY 749. Die letzte Abbuchung vom Kreditkartenkonto war auf den 8. August datiert, liegt also zwei Monate zurück. Die Rechnung kam von einer Tankstelle in St. George. Auf sein Konto gingen regelmäßige Überweisungen ein, die offenbar von einer Vermietung stammten. Über das Mobiltelefon wurde zuletzt im März eine Nummer in Brisbane angerufen. Von März bis September hat Frank Copeland also sein Telefon nicht benutzt.

Wenn er sich irgendwo an einem abgelegenen Ort im Busch aufhält, kann er damit auch nichts anfangen, dachte Shane. Alles in allem: Nicht gerade sehr persönliche Informationen.

Aber Shane hatte noch eine andere Quelle. Ted Stein, ein Londoner Ex-Polizist, den er vor acht Jahren bei einer Schulung in London kennen gelernt hatte. Inzwischen hatte er jedoch die Polizei verlassen und arbeitete als Privatdetektiv. Stein würde ihm gern einen Gefallen tun. Schließlich hatte Shane damals ihm zuliebe auf eine blonde Langbeinige verzichtet.

Ted Stein war glücklich gewesen und die Affäre dauerte immerhin ein halbes Jahr. Shane sprach ihm auf die Mobilbox. Ans Ende der E-Mail über Frank Copeland war ein Foto angehängt. Shane druckte es aus.

Es zeigte einen unauffälligen Mann, ca. ein Meter dreiundachtzig groß, schlank, durchschnittliches Gesicht, braunes, drahtiges Haar, das an den Schläfen ergraute. Selbst in den graublauen Augen konnte Shane nichts Besonders erkennen. Sie blickten in die Kamera und schienen doch nirgendwohin zu sehen. Allein der Mund drückte etwas Überlegenes aus.

Shane leitete das Foto weiter an die Kollegen in St. George mit der Bitte, an der Tankstelle, an der mit Copelands Kreditkarte gezahlt worden war, nachzuforschen, ob sich jemand an ihn erinnerte.

Eine Viertelstunde später rief der Kollege aus St. George zurück. Niemand an der Tankstelle erinnerte sich an Copeland. Allerdings musste Shane zugeben, dass er selbst sich auch nicht an ihn hätte erinnern können. Nervös trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Er hasste es, ohne Kollegen arbeiten zu müssen, niemanden zu haben, mit dem er sich austauschen konnte.

Dann rief Dr. Eliza Lee an. „Hi, Detective.“ Ihr leicht spöttischer Unterton war nicht zu überhören.

„Um gleich zur Sache zu kommen“, fuhr sie fort, „Al Marlowe rief mich an, und wollte, dass ich ihm Krankenakten und eventuell vorhandene Röntgenaufnahmen eines gewissen Frank Copeland besorge. Haben Sie schon Hinweise, dass er der Tote sein könnte?“

„Nein, außer einem nicht mehr benutzten Mobiltelefon hab ich noch nichts. Ich hoffe, Sie bringen uns weiter.“ Eine kleine Pause entstand am anderen Ende der Leitung.

„Rauchen Sie gerade?“, fragte er. Sie lachte kurz auf.

„Kennen Sie etwa Gerichtsmediziner, die nicht rauchen?“

„Ich dachte, Sie könnten die erste sein.“

„Frank Copeland hatte vor drei Jahren eine Fraktur des linken Waden – und Schienbeins.“ Ihr Ton war umgeschlagen, sie klang jetzt äußerst sachlich. „Die Röntgenbilder aus London sind unterwegs. Allerdings fehlt der endgültige Beweis. Der Kopf mit dem Gebiss. Vielleicht haben Sie ja Glück und Ihr Mann war auch in Australien beim Zahnarzt. Also, schaffen Sie den Kopf herbei!“

Shane holte Luft. Was bildete sie sich ein, so mit ihm zu reden? Schließlich war er nicht ihr Untergebener. „Sonst noch was?“, gab er zurück. Sie antwortete nicht sofort.

„Nein, das war alles.“ Sie zögerte einen Moment. „Es sei denn“, ihre Stimme klang wieder weicher und dunkler, „es interessiert Sie, wie ich das so schnell herausgekriegt habe ...“ Jetzt ließ er sie warten, dann gab er zurück:

„Das können Sie mir mal persönlich bei einem Drink erzählen.“ Du bist kleinlich Shane, dachte er noch und zwang sich, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren.

Wenn der Tote tatsächlich Frank Copeland war, der ein Buch über Betty Williams schreiben wollte, und Betty Williams bei einer Vergewaltigung ihrer Mutter durch den alten Morgan gezeugt worden war, dann wollte der Journalist wahrscheinlich genau das in seinem Buch erwähnen. Konnte das für die Familie Morgan so unangenehm sein, dass man den Journalisten deswegen ermordete?

Im Pub zeigte er Kate Copelands Foto. „Ja, das könnte er sein“, sagte sie etwas zögernd. „Ich kann nicht glauben, dass das der Tote sein soll. Es ist so schrecklich, wenn man ihn kennt ...“

In dem Moment kam Paddy herein. „Kate, ein Bier – oder zwei!“, rief er schon von der Tür.

„Eins – ich nehm eine Cola“, erklärte Shane.

„Sind Sie krank?“, fragte Paddy.

„Auch was zu essen?“, wollte Kate wissen.

„Für mich ein Steak. Hab ich schon seit zwei Tagen nicht mehr gehabt – werde noch zum Vegetarier. Und Sie, Shane, sollen hier bei uns bloß nicht abnehmen. Sonst heißt es noch, die im Outback schlachten nicht nur Leute ab, die lassen auch noch Cops verhungern!“ Gutgelaunt schlug Paddy auf den Tresen, dass das Bier vor ihm überschwappte.

„Es ist dieser Journalist!“, rief Kate von hinten. „Dieser Frank Copeland!“

„Worum geht’s?“, erkundigte sich Paddy. Seine Schweinsaugen glänzten. „Sagen Sie es ihm doch endlich!“, wandte sich Kate an Shane. Shane legte ihm das Foto auf den Tresen. Paddy nahm es und schob den Unterkiefer vor.

„Ja, der war hier“, Paddy nickte, „Journalist. Jetzt sagen Sie bloß, der ist der Tote!“

„Möglich“, erwiderte Shane.

„Wir haben heute Kürbissuppe und auch Fisch!“, rief Kate aus der Küche.

„Nee, nee, ist ja fast so schlimm wie Gemüse!“, gab Paddy zurück, „nein, ich nehm das Steak!“

Kate nickte und sah erwartungsvoll zu Shane.

„Ja, warum nicht mal die Kürbissuppe“, entschied er, worauf Kate zufrieden nickte und in der Küche verschwand. Paddy ließ sich mit seinem Bier schnaufend auf einen Stuhl fallen. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er immer noch das Foto.

„So, der ist es also.“ Er legte das Foto auf den Tisch und griff zum Glas. „Native Title, das war das Blödeste, was die in Canberra haben tun können. Ich hab Tragödien erlebt, sag ich Ihnen, Familien, die seit Generationen eine große Farm hatten – und nicht nur das. Die haben was für das Land geleistet, haben Leute in die Regierung geschickt, setzten sich für die Bildung und das Land ein und dann nimmt man es ihnen weg. Sagt einfach: Danke, das war’s! Zweihundert Jahre lang habt ihr das ganz gut gemacht, aber eigentlich gehört das Land ja den Aborigines, deshalb müsst ihr jetzt gehen. Würden Sie das verstehen?“

„Kürbissuppe!“ Kate stellte den Teller mit Schwung vor Shane hin. „Steak kommt gleich. Also, ich kann’s nicht fassen, dass dieser Tote hier noch als Lebendiger war.“

„Was hat der Native Title mit Frank Copeland zu tun?“, wollte Shane wissen.“ Er probierte die Suppe und griff zum Salzstreuer.

„Der hat mit den Aborigines rumgehangen, mit Bettys Bruder Moodroo, hat sich die alten Geschichten erzählen lassen und hat alles wieder aufgerührt“, sagte Paddy mürrisch.

„Was denn?“

„Ach, kommen Sie, Shane, stellen Sie sich doch nicht so dumm!“ Paddy wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken. „Das mit der Dreamtime und dem Geschwafel über die Vorfahren! Billy Henderson hat Ihnen doch schon erzählt, dass er Probleme hatte, das Land zu kaufen. Die haben gesagt, ihre Vorfahren hätten da geträumt und dass da Heiligtümer seien. Und dieser Frank Copeland hat alles wieder hochgeholt.“

Kate brachte das Steak und Paddy machte sich darüber her als hätte er zehn ältere Geschwister gehabt und bestellte gleich noch ein Bier.

„Also, man muss sich nicht wundern, wenn’s zu Mord und Totschlag kommt. Daran ist die verdammte Regierung schuld!“, behauptete Kate.

„Das heißt also, jemand hat Copeland umgebracht, weil er sich für die Aborigines interessierte und damit den Plänen Billy Hendersons im Weg stand?“, fragte Shane und blickte provozierend in die Runde. Wie ihn das hier ankotzte. Paddy ließ Messer und Gabel sinken.

„Um Himmels willen, nein! Das soll gar nichts heißen!“ Er lief vor Zorn rot an. Wild mit dem Messer gestikulierend sagte er:

„Jetzt passiert nämlich genau das, was immer passiert, und was ich ums Verrecken nicht leiden kann: Ihr aus der Stadt stempelt uns im Busch gleich als Rassisten ab!“ Er säbelte ein Stück Fleisch ab, steckte es in den Mund und redete gleich weiter: „Copeland hatte ein Verhältnis mit Betty Williams. Im Abschiedsbrief stand ja, sie hat sich umgebracht, weil er mit `ner anderen abgehauen ist. Ihr Bruder Moodroo war schon in einige Schlägereien verwickelt.“ Paddy knallte das Glas auf den Tisch. „Ist doch ganz klar, Bettys Bruder wollte seine Schwester rächen. Sie wissen, dass diese Kerle es mit der Rache ziemlich ernst nehmen. So, wie klingt das: Moodroo erwischt also diesen Frank, bringt ihn um und verbuddelt die Leiche an eine Stelle, von der er weiß, dass sie in den nächsten Tagen mit einer Teerschicht planiert wird.“ Paddy steckte endlich den letzten Bissen Steak in den Mund.

Shane wusste nicht recht, was er von dieser These halten sollte. „Und wieso hat er ihm dann den Kopf abgeschlagen“, fragte Shane weiter.

„Hat’s geschmeckt?“, wollte Kate wissen und räumte die Teller weg. Paddy grinste, lehnte sich zurück und kostete seine momentane Überlegenheit aus.

„Kennen Sie nicht den Brauch, dass Aborigines ihre Toten nach einer Weile wieder ausgegraben haben und bestimmte Körperteile, die für den Toten eine besondere Rolle gespielt haben, weggenommen und noch mal woanders bestattet haben?“

Shane schüttelte den Kopf.

„Dacht ich mir. Und was denken Sie, was der Name Coocooloora bedeutet?“

Shane musste passen und über Paddys Gesicht breitete sich ein triumphierendes Grinsen aus.

„Coocooloora ist Aborigine-Sprache und heißt: böser Geist.“ Er wischte sich mit der Serviette den Mund ab. „Aber woher sollten Sie das auch wissen?“

In Shane kochte es. „Worauf warten wir dann noch? Lassen Sie uns zu diesem ... diesem Moodroo fahren!“

„Ist nicht da, ich war schon an seinem Haus, wollte ihn wegen was anderem sprechen. Ist nicht da.“ Paddy verschränkte die Arme über seinem fetten Bauch und unterdrückte ein Gähnen.

„Dann treiben Sie ihn verdammt noch mal auf. Ich will ihn so bald wie möglich sehen!“

Paddy hob müde die Brauen. „Ja, aber nicht zu früh, dann haben die noch nicht ihren Rausch ausgeschlafen und wir machen den Weg umsonst.“

„Und was ist mit der Vergewaltigung?“

Paddy riss mit einem Mal die Augen auf. „Ich geb’ Ihnen jetzt einen guten Rat, Shane“,seine Stimme bekam einen drohenden Unterton, „glauben Sie nicht alles, was man Ihnen erzählt. Es gibt Leute, die wollen Sie nur benutzen.“

Andy

In dem Moment, als er die Türglocke bimmeln hörte, war ihm klar, dass er sein Leben nur noch komplizierter machte. Er hätte auf die andere Straßenseite wechseln, nicht stehen bleiben, nicht durchs Schaufenster sehen und sie beobachten sollen. Aber er hatte nicht die Straßenseite gewechselt, war vor dem Laden stehen geblieben und hatte durchs Schaufenster beobachtet, wie sie Zeitungen einsortierte. Sie trug enge Jeans und darüber ein kariertes Hemd. Ihr Haar hatte sie heute hochgesteckt.

Er ging durch die Regalreihen, nahm eine Dose Bohnen, Eier, Toast und Marmelade. Sie hämmerte wortlos auf die Tasten der Kasse, tippte jeden Artikel ein. „Sieben fünfunddreißig.“ Er kramte das Geld aus der Hosentasche. Sie packte die Sachen in eine Plastiktüte, sortierte die Münzen in die Fächer der Kasse.

„Ich dachte, du seist schon längst weg“, sagte sie endlich und sah ihn an, die Lippen schmal und unter den Augen bläuliche Schatten.

„Aber ich hätte mich doch verabschiedet“, antwortete er. „Es tut mir leid, das mit deinem Mann.“

Ihre Mundwinkel zuckten kurz. Dann schob sie das Kinn vor und meinte: „Tja, Schicksal“, und zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht. Er bemerkte im Ausschnitt ihrer Bluse die weißen Ränder ihres BHs. Ihre Haut dort sah zart aus. Hastig hob er den Blick und sah ihr wieder in die Augen. Ihr konnten seine Blicke nicht entgangen sein. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte sie:

„Ich könnte eine Hilfe gebrauchen. Ich schaff das hier nicht allein. Ich kann dir aber nicht so viel zahlen.“

Er hätte es auch umsonst gemacht.

Shane

Ein merkwürdiges, unangenehmes Gefühl hatte in dem Moment von ihm Besitz ergriffen, als er erfahren hatte, dass Betty Williams’ Bruder Moodroo der Aborigine war, den er öfter vor dem Pub stehen sah – und von dem er sich durchschaut fühlte.

Am Ende des Ortes bog Paddy in die Straße, die zum Parkplatz führte. Zwei Kilometer weiter befand sich Moodroos Haus. Dort hatten Betty Williams und der Journalist in den zwei Wochen gewohnt, als sie in Coocooloora waren. Und dort hatte Moodroo seine Schwester tot in der Badewanne gefunden. Moodroo verschwendete offensichtlich weder Phantasie noch Arbeit an das von der Regierung gebaute Haus. Auf der Straße war ihnen kein Auto entgegengekommen. Es gab keine Nachbarn weit und breit. Das Erste, das Shane auffiel, war, dass Moodroos Haus von der Straße aus nicht sichtbar war. Zu viele Bäume und Büsche. Das Zweite war die Tatsache, dass man am Parkplatz – und damit am Fundort der Leiche vorbeifuhr, ehe man weiter in die Einfahrt zu Moodroos Haus einbog. Er wusste noch nicht, was er mit diesen Informationen anfangen sollte.

Sie stiegen aus. Niemand schien da zu sein. Hin und wieder sang ein Vogel, krächzte eine Krähe. Im Vorgarten lagen leere Dosen auf dem trockenen Gras verstreut. Langsam ging Shane um das Haus herum, während Paddy am Auto stehen blieb. Vom Rasen war nicht mehr viel übrig. Moodroo gehörte ganz offensichtlich nicht zu den Menschen, die einen Rasenmäher vor sich herschieben oder Unkraut jäten. Shane stand auf der Rückseite des Hauses und bemerkte dort einen weiteren Eingang.

„Moodroo, hallo!“

Als niemand antwortete zog er die Fliegentür auf. Jedes Mal, wenn Shane ein Haus betrat, dessen Tür ihm nicht von innen geöffnet wurde, spürte er dieses unangenehme Gefühl, auf alles gefasst sein zu müssen. Auf Blut, Verwesungsgeruch, Tote, Halbtote, Verrückte, die mit einer Kanone hinter der Tür standen – doch hier schlug ihm nur abgestandener Essensgeruch entgegen.

„Ist wohl ausgeflogen, der Vogel!“, hörte er Paddys Stimme. Er war von der Vorderseite hergekommen. Shane stand in der Küche und blickte geradewegs über die Theke hinweg ins angrenzende Wohnzimmer. Die Küche war voll von Geschirr, das offenbar nie weggeräumt wurde. Im Bericht über Bettys Selbstmord stand, dass sich die Küche in großer Unordnung befunden hatte. Shane zog die Fotos vom Tatort hervor, die er sich ausgedruckt hatte.

Auch damals hatte sich in der Küche auf der Ablage schmutziges Geschirr getürmt. Eine Schüssel mit Hackfleisch, daneben ein Handtuch und in der Spüle eine Pfanne mit angebrannten Rühreiern, geradeso als wäre es Betty beim Kochen eingefallen, sich umzubringen. Der Boden war mit blutigem Wasser aus dem Badzimmer bedeckt.

„Sagen Sie, Paddy“, Shane zeigte auf die Fotos, „ist eigentlich niemandem aufgefallen, wie viele Rühreier Betty briet, bevor sie sich umbrachte?“

Paddy zuckte die Schultern.

„Würden Sie mit einem solchen Bärenhunger spontan zum Messer greifen und sich die Pulsadern aufschneiden?“

Paddy warf einen kurzen Blick aufs Foto. „Wer will schon wissen, was in so einem Menschen vorgeht?“

Der Abschiedsbrief hatte auf der Küchentheke gelegen. Links von der Küche befand sich das Badezimmer, abgetrennt durch eine dünnwandige Schiebetür. Shane schob sie auf. Auf dem grünlichen Linoleum-Boden lagen Kleidungsstücke, Schachteln und Zeitschriften. In einigen der sonst grauen Fugen der Badewannenverkleidung erkannte er dunkle Stellen. Auf dem Foto sah man ein mittelgroßes Küchenmesser vor der Badewanne liegen, auf dem Boden stand ungefähr ein Zentimeter hoch das Wasser. Es hatte den Anschein, als hätte es Betty aus der rechten Hand fallen lassen, nachdem sie sich in die Badewanne und die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Im Bericht stand, dass das Wasser noch immer gelaufen war, als Moodroo Betty gefunden hatte. Im Wohnzimmer hatte der Teppich das Wasser aufgesaugt. Seltsam, sich zum Sterben in eine Wanne zu legen und das Wasser einfach laufen zu lassen, dachte Shane.

Er ging ins Wohnzimmer und ließ seinen Blick über den zerfledderten Ohrensessel, die aufgeplatzten Polster der braunen Velourscouch und den fleckigen und abgetretenen Teppichboden gleiten.

„War wohl umsonst. Ich weiß auch ehrlich nicht, was wir hier wollen.“ Paddy wischte sich den Schweiß aus dem Nacken.

Shane trat näher zu dem Bild über der Couch: eine rahmenlose Leinwand mit erdfarbenen Kreisen und Schlangenlinien, unterschrieben mit Betty Williams.

„Sagen Sie mal ehrlich, halten Sie das für Kunst?“, wollte Paddy wissen. Shane ersparte sich eine Antwort. „Wo kann er sein?“, fragte er stattdessen.

„Überall. Walkabout.“

Plötzlich stand er im Raum. Groß und schwarz und ernst. Das Gesicht so fleischig und rund wie das von Paddy. Er blickte die beiden Männer an.

„Moodroo Graham?“, fragte Shane und klappte seinen Ausweis auf und zu. „Detective Shane O’Connor. Ich hab Ihnen ein paar Fragen zu stellen.“

Der massige Schwarze beobachtete Shane mit glasigen Augen. Er hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt. Shane roch seine Bierfahne.

„Mann, richtig gemütlich hast du’s hier“, meinte Paddy und wandte sich an Shane. „Ich sag Ihnen doch, die lassen alles verkommen.“

Shane hätte Paddy am liebsten vor die Tür gesetzt. Langsam, wie ein alter Elefant schlurfte Moodroo in Gummilatschen zur Küchentheke, bückte sich, tauchte mit einer Dose VB wieder auf und ließ sich in den Ohrensessel fallen. Shane sah zu, wie Moodroo den herausquellenden Schaum abschlurfte. Paddy baute sich vor Moodroo auf.

„Der Officer da ist von der Mordkommission!“

Moodroo wischte sich den Schaum von den Lippen und sah Shane gelangweilt an. Shane setzte sich in den zweiten zerfledderten Sessel.

„Okay, Mister Graham: Betty Williams war ihre Schwester?“ Moodroo blickte auf den Boden. „Kannten Sie Frank Copeland?“ Moodroo antwortete noch immer nicht.

„Hör zu, wir sind von der Polizei, und der hast du gefälligst zu antworten!“, brüllte Paddy.

Moodroo öffnete halb die Augen und gähnte. Shane schüttelte den Kopf. Er hätte ohne Paddy herkommen sollen.

„He, wir bringen den schon zum Sprechen!“ Paddy wollte Moodroo am T-Shirt packen.

„Lassen Sie ihn!“, herrschte Shane ihn an. Paddy zog lautstark die Nase hoch und wich wütend zurück. Moodroo sah müde auf.

„Mr. Graham...“, sagte Shane ruhig. „Wenn Sie uns nicht antworten, müssen wir Sie im Büro befragen. Und das ist Ihnen doch sicher nicht so angenehm wie hier, habe ich recht?“

Moodroo reagierte nicht mehr. Es hatte keinen Zweck. Und es würde auch keinen Zweck haben, ihn aufs Polizeirevier mitzunehmen. Moodroo verdrehte die Augen, die Augenlider klappten zu, und er begann zu schnarchen. Paddy wollte gerade ansetzen, ihn an den Schultern packen und wachrütteln.

„Nein, lassen Sie ihn. Er wird uns jetzt sowieso nicht mehr antworten.“

„Das ist doch sowieso alles keinen Penny wert!“, murrte Paddy, „reine Zeitverschwendung, wie ich gesagt habe.“

Als er sich ins Auto plumpsen ließ, fügte er hinzu: „Die stellen einfach ihre Lauscher auf Durchzug! Die kümmern sich einen Scheißdreck um uns! Nur wir müssen immer nett und freundlich sein! Ich komm deswegen zu spät zu meiner Rundfahrt!“

Zurück im Büro telefonierte Shane mit den Kollegen in Charleville. Was an dem Gerücht dran war, dass Frank Copeland mit einer anderen Frau weggegangen war und Betty sich deshalb umgebracht hatte, konnte niemand sagen. Es blieb ein Gerücht. Tatsache blieb lediglich, dass sich diese Frau bisher weder gemeldet hatte noch irgendein Hinweis auf sie eingegangen war.

Hatte denn noch niemand diese Galeristin besucht, die Copeland den Vorschuss für das Buch über Betty Williams gezahlt und ihn dann angezeigt hatte, als er angeblich mit dieser geheimnisvollen anderen Frau verschwunden war? Shane rief Marlowe an. „Oh, Shane, hör zu, wir sind hier wegen dieses Frauenmörders verdammt unter Druck. Die Presse macht uns gerade ziemlich fertig. Der Commissioner meint, du solltest, rüberkommen und die Sache selbst übernehmen, falls du in diesem Coocooloora mal abkömmlich bist.“

Shane unterdrückte eine beißende Bemerkung und meinte bloß: „Scheint ja wirklich viel los zu sein bei euch.“

Er flog am Samstagmittag von Charleville ab. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die letzten Minuten vor dem Abflug. Webster hatte ihn nach Charleville gefahren. Beiläufig hatte Shane gefragt, ob er Copeland gekannt habe.

„Er kam mal zu uns mit ´ner Platzwunde überm Auge. Wollte Anzeige erstatten wegen Körperverletzung“, hatte Webster geantwortet.

„Gegen wen?“, hatte Shane gefragt.

„Gegen John Morgan.“

„Frank Copeland wollte Morgan anzeigen? Warum hat Paddy davon nichts erwähnt?“

Webster war errötet. „Paddy hat ihm abgeraten, hat ihm gesagt, Morgan hätte sich auch schon über ihn beschwert. Und wenn er Morgan anzeigen würde, würde auch Morgan Anzeige erstatten. Da ist Copeland gegangen.“

Am liebsten wäre Shane gleich umgekehrt und hätte John Morgan auf den Zahn gefühlt. Warum musste er auch ausgerechnet jetzt nach Brisbane fliegen?

In Brisbane nahm Shane ein Taxi in die Stadt, ließ das Seitenfenster herunter und sog die von Abgasen und Gummigeruch geschwängerte Luft bis in die kleinsten Lungenbläschen. Genau das hatte er vermisst: Stadtlärm, Stadtgestank, Stau, rote Ampeln, Hochhäuser, Radfahrer, Jogger und Brücken mit Stahlträgern. Auf der dreispurigen Straße bremste sie ein Bus aus und der Taxifahrer knirschte mit den Zähnen. Geschäfte, Bars, Cafes glitten vorbei, und Shane empfand im Bauch ein warmes Kribbeln.

Die Tür der Frameless Work Gallery stand offen. Propeller metallisch blitzender Ventilatoren ließen an die Wand geheftete Flugblätter und Broschüren flattern wie Blätter in einem aufkommenden Sturm.

Shane betrat den großen Raum, an dessen hohen Backsteinmauern großformatige Bilder hingen. Bilder mit Punkten, Kreisen, Bögen und Linien, erdfarben, manchmal schreiend bunt.

„Detective?“ Sie musste Mitte vierzig sein und lächelte ihn aus grünen Augen an. Ihre Lippen, schmal und blass, blieben eher unbedeutend. Doch die beiden tiefen, sichelförmigen Falten neben den Mundwinkeln verhinderten, dass man sie unterschätzte. Sie trug einen teuren grauen Hosenanzug, hatte einen modernen Kurzhaarschnitt und vermittelte mit jeder Faser ihres Wesens sowie ihrer Garderobe, dass sie hundertprozentig zu unterscheiden wusste, welche Kunst ihr Geld wert war und welche nicht.

„Lorraine.“ Sie reichte ihm die Hand, streckte dabei ihren Arm weit aus und hielt ihn auf Distanz.

„Ist das alles Aborigine-Kunst?“, fragte er. Sie lächelte nachsichtig. Sie ist arrogant, dachte er, kein Zweifel.

„Nein. Wir möchten von diesem Begriff wegkommen, mit dem man bald doch nur noch drittklassige Bilder in Touristenzentren meint.“ Sie strich sich mit einer grazilen Bewegung eine Strähne hinters Ohr.

„Viele Aborigines haben zweifellos ein besonders Talent, mit Farben und Formen umzugehen.“ Sie ließ ihren Blick durch den hohen Raum schweifen, der etwas von einem Tempel hatte. Ein Ausdruck von Besitzerstolz war nicht zu übersehen. Eine Spur von Gönnerhaftigkeit auch nicht.

„Nehmen wir zum Beispiel Emily Kame Kngwarreye, die alte Dame, die niemals in ihrem Leben ein Kunstmuseum betreten hat. Ihre Bilder können Sie problemlos neben andere moderne Bilder von akademisch gebildeten Künstlern stellen.“

Ihre grünen Augen wurden ein wenig wässrig, stellte er fest, sie schien sich in höhere Sphären hinaufzuschwingen.

„Aber das Problem ist der Markt. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Wenn Bilder inflationär angeboten werden, sinkt der Preis. Clifford Possum zum Beispiel verkauft seine Bilder, egal an wen, weil er immer Geld braucht. Weil er seine Leute unterstützt. Am Ende bleibt kaum noch etwas für ihn. Dann muss er schleunigst das nächste Bild malen.“

Lorraine seufzte, sie schien die Last des gesamten Kunstmarkts auf ihren Schultern zu tragen. „Gute Bilder werden kopiert und kopiert und auf T-Shirts gedruckt. Schicken Sie ein Foto eines Bildes nach China, und Sie bekommen zig Kopien für ein paar Dollars.“ Resigniert fügte sie hinzu: „Man hat zu viele Aborigenes ermutigt, zu malen, um Geld zu verdienen.“

„Ist es denn so verwerflich für Geld zu malen?“

Sie lachte gekünstelt. „Natürlich nicht, wenn die Qualität stimmt.“ Es war Zeit, sie auf den Boden zurückzubringen.

„Was wissen Sie über Frank Copeland?“

Moodroo

Er stopfte sich Pitjuri in den Mund, kaute und blickte durch den Bogen des Höhleneingangs hinaus auf das Land. Die Sonne würde bald untergehen. Auch hier hatte er Angst vor der Nacht. Aber vielleicht würden die Ahnen ihm beistehen.

Weil er schon lange nicht mehr dagewesen war, musste er sich den Mimis wieder bekannt machen, den langen, dünnen menschenähnlichen Gestalten. Geister, die sich selbst an die Wand gemalt hatten. Vor langer, langer Zeit. Niemals hatte er gesehen, wie sie sich nachts aus der Felswand lösten und tanzten oder jagten. Sie jagten nur bei ganz ruhigem Wetter. Wenn es nicht regnete und kein Wind wehte. Denn der Wind würde ihre zarten Knochen brechen. Die Mimis waren leichter als eine Feder. Sie sahen und hörten so gut, dass sich niemals ein Wesen unbemerkt von ihnen nähern konnte. Dann entflohen sie in ihren Felsenhimmel, hauchten an die Höhlenwand, die sich wie eine Tür öffnete und sich hinter ihnen wieder schloss. Er nahm den graubleichen Schädel mit den trockenen Hautresten bedächtig in seine Hände. Sein Finger strich die Knochenwölbung über der Augenhöhle entlang, spürte die Zacken der Knochennähte, fuhr über die scharfen Spitzen der Nasenwände und glitt hinunter zu den Zähnen. Er hörte die Alten sagen: Der Schuldige muss nicht unbedingt der sein, der den Sperr wirft.

Shane

Im Taxi zum Headquarters grübelte er darüber nach, was Lorraine Reynolds wohl vor ihm verbergen mochte. Als er den Namen Copeland erwähnt hatte, war ihm ein Zucken ihrer Lippen nicht entgangen. Sie hatte ihn in ihr Büro geführt, eine Art Lagerraum für hunderte weiterer Bilder, mit einem Schreibtisch voller Papiere und einer kleinen, futuristisch anmutenden giftgrünen Sitzgruppe.

„Gerade aufgegossen. Ich hoffe, Sie mögen grünen Tee.“ Sie goss aus einer filigranen Kanne Tee ein, setzte sich ihm gegenüber und schlug elegant die Beine übereinander.

„Frank, ich meine Frank Copeland, kam aus London. Ich habe ihn auf der letzten Vernissage von Betty kennengelernt.“ Sie holte Luft. „Wir hatten Differenzen, Frank und ich. Ich war gegen das Buch. Aber Betty wollte es dann schließlich auch. Sie haben mich überredet. Und ich habe mich schließlich dazu bereit erklärt, es herauszubringen. Den Vorschuss von dreitausend Dollar habe ich gezahlt.“ In ihren Augen bemerkte er einen leichten Schleier. „Sie reisten nach Coocooloora, Frank und ... Betty – und dann erhielt ich die Nachricht von ihrem Selbstmord.“

„Und dann haben Sie Copeland angezeigt, weil er sich nicht mehr meldete und die dreitausend Dollar Vorschuss von Ihnen hatte.“

Sie nickte und deutete durch die offen stehende Tür des Büros hinaus auf ein großformatiges Bild.

„Das Bild ist von Betty.“ Shane sah ein breites erdfarbenes Band, das sich über grünlich und rötlich schattierte Flächen schlängelte.

„Bemerken Sie den roten Schatten des durchschimmernden Dreiecks? Es demaskiert die Farben und Formen in ihrer Oberflächlichkeit.“

Shane nickte nur.

„Ich stelle Bettys Bilder seit fünf Jahren aus. Sie haben sich sehr gut verkauft.“ Da war sie wieder, die Geschäftsfrau, sie gewann an Selbstsicherheit. Zeit, eine Frage zu stellen.

„Hatten Frank und Betty ein Verhältnis?“

Lorraine schenkte Tee nach, obwohl weder er noch sie mehr als einen Schluck getrunken hatten. Täuschte er sich, oder zitterten ihre Hände ein wenig?

„Wie war noch einmal ihre Frage?“ Ihr Lächeln war angestrengt, und die Falten um ihre Mundwinkel vertieften sich. Shane wiederholte die Frage.

„Wenn man Bettys Abschiedsbrief ernst nimmt, muss man wohl mit Ja antworten.“ Sie klang schnippisch.

„Aus dem Brief geht hervor, dass sie verlassen wurde. Sind Sie sicher, dass Betty damit Copeland meinte?“

„Wen um Himmels willen soll sie denn sonst gemeint haben?“ Lorraine wurde offensichtlich ungehalten, und seine Fragen wurden ihr lästig.

„Sie war eine Frau in Ihrem Alter, warum sollte sie nur diesen einen Mann geliebt haben? Und welche Frau könnte das gewesen sein, um derentwegen Frank Betty verlassen hat?“

Lorraine betrachtete ihre Hände mit den sorgfältig manikürten Nägeln. Sie trug am Ringfinger der linken Hand einen breiten Silberring.

„Empfanden Sie etwas für Frank Copeland?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“ Ihre sonst angenehme Stimme war schriller geworden. „Und wenn, wieso sollte ich ihn dann anzeigen?“

„Vielleicht waren Sie ja eifersüchtig auf Betty Williams, die Ihnen Frank während der Arbeit an dem Buch ausgespannt hat. Vielleicht waren Sie ja deshalb gegen das Buch.“

„Was soll das eigentlich?“ Sie stand auf, ging zum Schreibtisch, hob Papiere hoch, verschob Bücher und hielt endlich eine Schachtel Zigaretten in der Hand. Sie zündete sich eine an. Sie wandte sich von ihm ab und schaute auf das bis zur Decke reichende Regal, in dem hunderte von Gemälden wie Bücher nebeneinander gereiht waren. Warum sprach sie nicht weiter? Schnelle Schritte näherten sich vom Ausstellungsraum. Eine junge Aborigine in Tarnhosen und einem olivfarbenen Top stand in der offenen Tür zu Lorraines Büro.

„Hi, Lorraine!“ Sie nickte Shane zu. „Bin gleich wieder weg, aber Martin Oxley hat wegen heute Abend angerufen, es sei wichtig.“

„Sag ihm, ich rufe ihn gleich zurück.“

„Okay.“ Shane sah ihr nach.

„Ihre Assistentin?“

„Tracy, ja.“

„Könnten Sie mir nicht auch so eine Assistentin besorgen?“ Er lächelte. Doch Lorraine ging auf die als Auflockerung gedachte Bemerkung nicht ein. Sie hatte sich wieder vollends unter Kontrolle.

„Sind Ihre Fragen nun beantwortet, Detective?“

„Was war das für ein Buch, das Copeland über Betty schreiben wollte?“

Lorraine betrachtete ihn, als wäge sie ab, ob er es wert sei, ihn in die persönliche Geschichte Bettys einzuweihen. Offenbar entschied sie sich dafür, denn sie zog eine Schublade auf und holte einen dünnen Stapel Papier hervor.

„Er hat mir kurz vor Bettys Tod den Anfang des ersten Manuskriptentwurfs geschickt. Er wollte meine Meinung wissen.“

Shane streckte die Hand aus, doch Lorraine machte keine Anstalten, ihm die Seiten zu überreichen.

„Es ist das Orginal“, erklärte sie. Der Umschlag war am fünfundzwanzigsten April in Coocooloora abgestempelt. Betty Williams hatte sich am dreißigsten April umgebracht. Die Arbeiten am Parkplatz hatten am siebenundzwanzigsten April begonnen, geteert worden war am dritten Mai. Vorausgesetzt, dass es sich bei dem Toten wirklich um Frank Copeland handelte, wovon Eliza Lee ja auf Grund der Röntgenaufnahmen mit ziemlicher Sicherheit ausging, hatte Frank also noch am fünfundzwanzigsten April gelebt. Falls er und nicht jemand anders das Kuvert zur Post gebracht hatte.

„Haben Sie danach noch mit Frank gesprochen oder telefoniert?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Hat er mal den Namen John Morgan erwähnt?“

„Nein, soweit ich mich erinnere...“

„Was wissen Sie sonst noch über Frank Copeland?“

Sie zuckte die Schultern.

„Freunde? Familie? Könnte es jemand auf ihn abgesehen haben?“

Sie wirkte abwesend. Shane stand auf, er wollte gehen. Da sah sie ihn an.

„Warum hat jemand es auf einen anderen Menschen abgesehen?“ Sie stockte und zuckte erneut die Schultern. Die Glut der Zigarette würde gleich ihre Finger verbrennen.

„Geben Sie Acht“, warnte Shane und streckte seine Hand bereits nach ihrer aus. Lorraine schreckte auf und drückte hastig die Zigarette aus. Sein Blick fiel auf eine Broschüre mit dem Foto einer Frau. Darunter stand: Betty Williams. Auf den Tatortfotos war ihm das goldblonde Haar aufgefallen. Jetzt bemerkte er ihre fremde, geheimnisvolle Schönheit.

Bettys blondes Haar, das sie straff nach hinten gebunden trug, stand in besonderem Kontrast zu ihrer hellbraunen Haut. Ihr Gesicht war schmal, die vollen Lippen waren unverkennbar ihr Aborigine-Erbe. Selbst auf dem Foto noch schien sie dem Betrachter bis tief in die Seele schauen zu können.

„Sie sieht nicht so aus, als hätte man ihr etwas vormachen können“, bemerkte er.

Offenbar überraschte er Lorraine mit der Bemerkung. Sie lächelte nervös. „Nein, Betty Williams war eine außergewöhnliche Künstlerin.“ Ganz sachlich fügte sie hinzu: „Ich habe sie nie mit dem Label Aborigine-Malerin verkauft. Sie thematisierte nicht Aborigine-Sein und den damit verbundenen Konflikt, wie es Robert Campbell jr., Richard Bell oder auch Gordon Bennett tun, die auch in Brisbane arbeiten. Sie war losgelöst, sie schuf Universelles.“

„Für wie viel verkaufen Sie Bettys Bild da draußen?“, wollte er wissen. Lorraine sah durch ihn hindurch und antwortete leise: „Es ist unverkäuflich.“

Dass er ging, schien sie nicht mehr zu bemerken.

„Wiedersehen“, sagte er, als er an Tracy vorbeilief, die am Boden kniete und ein Bild auspackte. „Bye“, sagte sie, ohne aufzusehen.

Das Erste, was er sah, als er die Tür zu seinem und Jacks Büro öffnete, war ein glattrasierter Junge, der an seinem, Shanes, Schreibtisch saß.

„Shane, das ist Spencer, mein Assistent.“

„Hi, schon viel von Ihnen gehört!“, sagte Spencer.

„Na, Jack, du machst ja jetzt Karriere! Eigener Assistent ...“ Shane hörte seinen gönnerhaften Ton, der nichts anderes als Neid verriet.

„Tut mir leid, dass mit dir, aber du wirst sehen, die rehabilitieren dich schon wieder.“

„Sicher.“ Es klang bestimmt nicht sehr überzeugend.

„Mensch, Shane, du kannst froh sein, hier raus zu sein. Ist wirklich kein Vergnügen, der Fall“, sagte Jack. „Ich komm überhaupt nicht mehr nach Hause. Ann will unbedingt noch ein Kind und ein neues Haus. Sei froh, dass du dir über so was keine Gedanken machen musst! Kaffee?“

Shane schüttelte den Kopf.

„Ich sag dir“, fuhr Jack fort, „das ist ´n Rummel mit dem Fall. Hellseher rufen auch schon an. Eine hat behauptet, sie hätte ein Foto von einer Vermissten in der Zeitung gesehen, und diese Frau hätte zu ihr gesprochen. Hätte gesagt: Wir sind noch mehr und so ein Zeug. Das war doch damals auch so, als wir den Rucksackmörder gesucht haben.“ Er kramte in den Unterlagen und biss zwischendurch in sein Sandwich. „Und wie läuft es bei dir?“, fiel Jack gerade noch ein.

„Das ist er vielleicht, unser Mann.“ Shane schwenkte das Foto, das er sich eben mit Name und Adresse ausgedruckt hatte.

„Der Mörder?“, fragte Al Marlowe, der gerade hereingekommen war.

„Nein, der Tote“, gab Shane zurück.

„Jack, nimm dir mal ein Beispiel und lass ein Bild vom Mörder raus!“, spaßte Marlowe und kräuselte seine Boxernase. Jack verzog das Gesicht. „Also, Shane, du bleibst an dem Fall in Coo... Wie, verdammt noch mal, heißt das verdammte Kaff?“

„Coocooloora – böser Geist.“

„Was?“, murmelte Jack.

„Du bleibst an dem Fall in Coocooloora dran“, wiederholte Marlowe und strich sich über sein gegeltes Haar. „Wie lange brauchst du noch?“

„Al, ich hab gerade erst angefangen! Du könntest mir mal jemanden zur Unterstützung schicken. Dunegal scheint mich nicht besonders zu mögen.“

„Unmöglich, Shane, das kannst du dir aus dem Kopf schlagen! Wir haben hier alle Hände voll zu tun. Ich kann noch nicht einmal eine Praktikantin entbehren.“ Er zwinkerte.

„Für mich hat er auch keine“, sagte Jack grinsend.

„Also, gib Dampf! Je schneller du bist, umso eher darfst du dich hier wieder blicken lassen. Ach, und morgen früh um zehn erwarte ich dich bei unserem Meeting.“ Marlowe ließ die Tür hinter sich zufallen.

„So ist er halt“, sagte Jack. „He, wann gehen wir mal wieder auf ein paar Drinks und ein Steak ins Breakfast Creek? Was machst du heute Abend?“

„Hab vielleicht was vor.“

„Aha, ne Weibergeschichte, was?“

„Bye, Jack.“ Shane ging hinaus.

Im Auto versuchte er, Eliza Lee zu erreichen, doch im Institut nahm niemand ab. Halb fünf. Zeit genug, um einen Blick in die Pension zu werfen, in der Frank Copeland gewohnt hatte.

Moodroo

Es war schon längst an der Zeit, das puri-puri, die Zauberformel aufzufrischen. Die heißen Finger der Sonne kratzten an den Wandbildern, trockneten die Farbe aus, dass sie bröckelte. Übermalen war gefährlich. Man musste den Geistern erklären, warum man es tat. Das Auto war schon ganz verblasst, und der Hut des Weißen hob sich kaum noch von der rötlichen Höhlenwand ab.

Er nahm den flachen Stein und legte ein Stück Ocker darauf. Rot vom Blut eines heiligen Emus und Ocker von der Leber eines Kängurus. Er ging besonders sparsam damit um. Mit einem anderen Stein zerstieß er das Ocker zu einem feinen Pulver, gab ein paar Tropfen Wasser hinzu und ein bisschen Bienenwachs, das er auf seinem Weg gesammelt hatte. Der weiße Lehm kam aus dem Billabong, dem Zusammenfluss zweier Wasserläufe, und das Schwarz war verkohlte Rinde. Zu allen Farben gab er ein wenig Wasser und manchmal Bienenwachs, auch einen Rest Emufett hatte er aufbewahrt. Emufett mochte er besonders. Es machte die Farben geschmeidig und glänzend. Kein Regen und keine Feuchtigkeit könnten den Bildern so schnell etwas anhaben. Dann nahm er einen der Pinsel aus zarten Zweigen und tauchte ihn in die Farben ein.

Das Auto war bald wieder da, und unter dem Hut kam ein Mann zum Vorschein. Moodroo achtete darauf, dass er dessen Haut ganz weiß malte. Er wiegte seinen schweren Kopf mit den grauschwarzen Locken und begutachtete sein Werk. Diesmal musste das puri-puri wirken.

Zu lange schon war er nicht mehr hier gewesen. Er hatte vergessen wollen. Wie die Weißen. Die wollten auch vergessen. Sie erinnerten sich noch nicht einmal mehr an ihre Großväter und Großmütter. Er hatte vergessen wollen, dass er anders war.

Ganz hinten in der Höhle an der Wand entdeckte er den Abdruck einer Hand. Er kroch durch den Staub dorthin und legte seine Hand auf den Abdruck. Seine Hand überragte ihn um ein Vielfaches. In dem Moment, als seine Hand den rauen Fels berührte, wusste er, wann die Wildorangen reif waren und wo der Ahne sich zum Schlafen hinlegt und im Traum tiefe Rillen in den Fels neben sich kratzt. Und er wusste, wann der blauzüngige Lizard aus seinem Winterschlaf erwachte und wo die Kängurus Wasser tranken. Er hörte an den Vogelstimmen und roch an den Dürften der Bäume, welcher Tag im Jahr war. Und er spürte den harten und doch gepolsterten Rücken einer Ahnin an seinem Bauch, die sich bückte und eine Wurzel ausriss. Er schmeckte die Süße der Honigameise und das weiche Innere der gebratenen Raupe. Der Rauch des Feuers am Abend brannte in seiner Nase und vor seinen Augen tanzten die Funken. Und er blickte in die großen schwarzen Augen seiner Tanten, die ihre mächtigen, weichen Körper wiegten. Die Sonne brannte auf die Baumwurzeln in der flachen Grube im Sand, vor der sein Onkel saß. Er hielt ein leicht gekrümmtes Stück Holz an eine Wurzel, verglich die Krümmung und schlug dann Teile des Holzes ab bis der Winkel der gleich war wie der Wurzel. Er schnitzte das Holz an einer Seite flacher als an der anderen bis er zufrieden war. Dann stand er auf und schleuderte es in den Himmel. Surrend kehrte es zurück.

Die Männer kamen wieder – jedoch ohne ein schlaffes Känguru auf ihren Schultern, ohne in sein weiches Fell gepackte Opposum, ohne den Federberg des Emus. Und wieder aßen sie das, was die Tanten und seine Mutter den Tag über gesammelt hatten. Jeder bekam etwas, auch wenn sie nicht viel hatten. Er dachte an den Abend, als er das erste Mal bemerkt hatte, dass sein Onkel, der das große Känguru erlegt hatte, die kleinste Portion Fleisch bekam. Doch der lachte, umarmte seine Frau und seine kleine Tochter. Den Tag wieder überlebt zu haben und am Abend mit der Familie und den Freunden etwas zu essen zu haben, war das größte Glück. Wer konnte schon in einer Wüste überleben, außer Lizards und Mulga?

Langsam löste er seine Hand von der Höhlenwand – und er war wieder allein. Da legte er sie noch einmal an den Felsen neben die kleine Hand, hielt den flachen Stein mit dem Häufchen Ocker nahe an seinen Mund und blies den gelben Puder auf die Felsen. Er nahm seine Hand weg und blickte auf deren Abdruck. Seine Hand. Er war übrig geblieben.

Vor seine Augen schob sich das Bild von seiner Schwester, wie sie im blutigen Wasser lag. Er zog in Gedanken Linien – Linien von ihr zu dem Schädel da vor ihm im Sand. Doch dann wurden die Linien blasser und er konnte nicht erkennen, wohin sie führten. Der Inquest – das große Verhör – hatte begonnen.

Plötzlich quoll durch den Bogen des Höhleneingangs das rote Feuer der Sonne. Und Moodroo erinnerte sich, dass er vergessen hatte, seine Adern aufzuschlitzen.

Outback Todesriff

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