Читать книгу Outback Todesriff - Manuela Martini - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеMoodroo
Moodroo sah dem Rauch nach. Der Wind der letzten Tage hatte sich gelegt. Jetzt war es fast windstill. Er hatte sie an den Augen erkannt. Als sie plötzlich mit diesem Weißen vor ihm gestanden hatte. Dabei war sie schon nicht mehr dagewesen, als er geboren wurde. Ihre Augen waren Känguru-Augen, groß, braun und ängstlich. Moodroo sah hinauf in den Himmel. Die dicken Wolken hingen über der Stadt. Hinten, wo die kleine Straße von der Hauptstraße abzweigte, war er geboren worden. Dort, wo jetzt der Parkplatz war. Die Minengesellschaft hatte damals doch nichts gefunden. Wenn Moodroo länger hinsah, konnte er sie immer noch erkennen: die Hütten, seine Mutter, die Tanten und die anderen Kinder. Sie waren noch da. Es war Land der Ahnen und damit auch sein Land.
Warum mussten sie ausgerechnet dort ein Motel mit Spielautomaten hinstellen? Als hätten sie anderswo nicht genug Platz dafür. Der Geist geht dahin zurück, woher er gekommen ist. Der Parkplatz war zum Danger-Platz geworden. Warum war niemand mehr da, der Bescheid wusste?
Sie war mit dem Weißen gekommen und hatte gefragt, ob sie für ein paar Wochen bei ihm, Moodroo, wohnen könnte. Sie hatte ab und zu gekocht. Sie redete nicht viel, sie war anders. Wie eine Weiße. Verstand ihn nicht. Sie hatte mit Schwarzen nichts zu tun. Sie malte wie die Weißen. Sie hätte nie zurückkommen dürfen. Hier war ihr Danger-Platz. Doch sie konnte die Zeichen nicht erkennen, weil sie das Dreaming vergessen hatte.
Alles hat seinen Grund. Auch dass Töten. So ist das Gesetz.
Er sah dem Rauchring nach, der nicht hinaufstieg, sondern tiefer sank und schließlich von einem vorbeifahrenden Mitsubishi mitgerissen wurde. Er ließ den Zigarettenstummel vor seine Füße fallen. Dann steckte er seine großen Hände in die ausgeweiteten Taschen seiner Cordhose und ging davon.
Shane
„Und niemand hat was gemerkt? Nee, das glaub ich nicht. Die irren sich auch mal, die Wissenschaftler“, sagte Kate während sie die Zapfhähne polierte. Noch lief keine Musik und niemand spielte an den Automaten, am frühen Nachmittag war meist wenig los.
„Wie soll denn so was gehen?“, schaltete sich Jeff vom Outback-Radio ein. Der einzige Gast außer Paddy, seinem rothaarigen Assistenten Webster und Shane.
„Wer soll das überhaupt gewesen sein, ich meine, der Tote? Hier wird doch keiner vermisst, oder?“ Paddy lehnte an der Theke, biss in eine Fleischpastete.
„Wer sagt denn, dass das nicht doch ein Grab von den Blackfellows war?“, warf Kate ein und begann, das Spülbecken abzuwischen.
„Oh, Kate, hast du schon mal gehört, dass die ihre Leute enthaupten, bevor sie sie begraben?“, erwiderte Jeff.
„Was weiß ich!“ Kate verdrehte die Augen und ging in die Küche. Jeff schüttelte den Kopf.
„Also, Detective, jetzt schalten Sie doch sicher das Missing Persons Bureau ein, und die kriegen vielleicht raus, wer das sein könnte, richtig?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Tja, bis dahin können Sie unsere schöne Gegend genießen! Übernächste Woche findet ´en großes Rodeo statt, da haben Sie sicher Ihren Spaß! Und in Charleville ist morgen ´n Pferdrennen. Sie werden sich bestimmt nicht langweilen!“ Jeff grinste. „Und Sie halten mich auf dem Laufenden, ja? Ich Sie auch. Vielleicht hat einer meiner Leute ja was mitgekriegt oder hat `n Tipp. Also, ich muss los, meine Hörer sind schon ganz unruhig!“ Jeff lachte, legte Geld auf den Tresen und ging.
„Ich frag mich, warum man Sie dafür hier braucht“, meinte Paddy beiläufig und schüttete den Rest Bier hinunter. „Könnten wir auch selbst machen, was, Webster?“
Webster, der sich an einem Glas Orangensaft festhielt, warf einen scheuen Blick auf Shane und errötete. Im selben Moment kam Kate mit einer weiteren Fleischpastete für Paddy zurück.
„Hätte nichts dagegen. Ehrlich gesagt, gibt es aufregendere Orte“, antwortete Shane und trank den Rest seiner Cola.
Im Büro fand er auf dem Schreibtisch eine Nachricht: Er solle den für die Region zuständigen Detective Philipp Russell in Charleville zurückrufen. Der Kollege hat sich schließlich also doch bequemt, sich mal zu melden. Am anderen Ende der Leitung hörte er wenig später ein kurzes Brummen, dann erklang Russells monotone Stimme, die seinen Überdruss am Job verriet.
„O’Connor? Ich hab die Nachricht, dass sich dieser Bauarbeiter, der den Unfug mit den Stromkabeln verzapft hat, am 22. September in Sydney vor den Bus geworfen hat. Seine Frau hat ihn übrigens mit der dreijährigen Tochter am Tag davor verlassen.“
„Aha ...“ Shane erinnerte sich an jenen Abend an dem Kim mit Pamela an der einen Hand und einem Koffer in der anderen ausgezogen war. Kurz danach hatte sie die Scheidung eingereicht.
„Hallo, sind Sie noch dran?“, fragte Russell.
„Ja, ja“, sagte Shane rasch. „Wir sollten uns treffen, heute Abend.“
„Heute Abend? Geht nicht. Ich muss nach Longreach ...“
„Morgen.“
„Am Samstag?“
„Genau, am Samstag. Neun Uhr.“ Shane legte auf. Russell schien genauso kooperativ wie Paddy zu sein. Er versuchte, seine Wut herunter zu schlucken. Webster kam zurück, schüttete Wasser in die Kaffeemaschine. Er wirkte immer etwas ungelenk in seinen Bewegungen als fürchte er ständig, zurechtgewiesen zu werden.
„Wie gefällt es Ihnen hier eigentlich?“, fragte Shane. Webster wurde knallrot, schluckte – und zuckte die schmächtigen Schultern.
„Ich hab es gern ruhig.“ Er blinzelte mit seinen rotblonden Wimpern.
„Keine Freunde? Freundin?“
„Na, ja. Aber mir gefällt es hier.“ Webster lachte nervös.
Shane wollte ihn nicht weiter quälen. Da war er wieder, dieser Gedanke, dass man ihn loswerden wollte. Coocooloora, das Ende seiner Karriere. Als Webster ihm eine Tasse Kaffee hinstellte, riss sich Shane zusammen und machte sich an die Arbeit. Je zügiger er vorankam, desto schneller wäre er wieder in Brisbane.
Am Nachmittag quälte sich das Fax aus der Maschine. „Sagen Sie nichts gegen die alte Matilda, funktioniert immer, ohne Mucken“, hatte Paddy auf Shanes herablassende Bemerkung gesagt. Warum er das Faxgerät Matilda, die Kaffeemaschine Babe und die Schreibmaschine Eleanor nannte, erklärte er nicht näher. Das Auto, der Computer und die Pistole waren männlich. Das Auto hieß Charly, der Computer Teddy und die Waffen Mickey. Sicher nannte Paddy seinen Schwanz Willy, dachte Shane noch bevor er sich dem Fax widmete.
Ob der Tod durch die Dekapitation eingetreten war, ließ sich leider nicht mehr feststellen, schrieb Eliza Lee. Eine Verletzung setzte blitzschnell Produktion und Wanderung von Leukozyten in Gang, die an der verletzten Stelle die eintretenden Bakterien angriffen. Wäre also im lebendigen Zustand die Enthauptung vorgenommen worden, hätten sich diese Leukozyten an den durchtrennten Gewebeteilen befunden. Der Tote war etwa fünfundvierzig Jahre alt, einsneunundsiebzig bis einsfünfundachtzig groß und zirka fünfundsiebzig Kilo schwer. Der Kopf musste mit einem kräftigen Schlag eines scharfen und schweren Gegenstandes, einer Axt womöglich, abgeschlagen worden sein. Nach dem Winkel der Knochenbeschädigung zu urteilen, war der Schlag direkt von oben durchgeführt worden. Offenbar hatte der Kopf also auf einer ebenen Fläche gelegen als die Enthauptung vorgenommen worden war. Auffallend war ein alter Bruch des Waden- und Schienbeins, typisch für einen Beinbruch beim Skifahren, wie Eliza anmerkte. Die Ergebnisse der DNA-Untersuchung würde noch eine Weile brauchen. Bei der Leiche war nichts gefunden worden: Keine Uhr, kein Ring, keine Gürtelschnalle, keine Schuhe – nichts, was näher Auskunft über die Identität des Toten hätte geben können. Sie hatte Röntgenaufnahmen gemacht, die gegebenenfalls mit vorhandenen verglichen werden konnten. Sofern es irgendeinen Anhaltspunkt dafür gab, um wen es sich überhaupt handelte. Eliza würde ihn selbstverständlich auf dem Laufenden halten und schickte ihm viele Grüße.
Jetzt wartete er nur noch auf die Auswertungen der Fotos und der Spuren, die die Kollegen aus Charleville gesichert und nach Brisbane geschickt hatten.
Aus der Forensik in Brisbane teilte man mit, dass der Unbekannte nicht länger als ein halbes Jahr tot war.
„Wir haben Glück gehabt, dass der Körper vergraben war, sonst wäre wahrscheinlich nichts mehr übrig außer ein paar abgenagten Knochen“, fügte der zuständige Sergeant zu.
Shane forderte eine Liste und Fotos aller im letzten halben Jahr im der Gegend zwischen Longreach, Charleville und Roma als vermisst gemeldeten männlichen Personen an. Auf der Suche nach allen innerhalb des vergangenen Jahres begangenen Verbrechen in der Umgebung von Charleville und Coocooloora durchforstete er die Datenbank. Er fand Hauseinbrüche, Autodiebstähle, mehrere Einbrüche in den Bottle Shop, Delikte wie Körperverletzung, Vergewaltigung – das Übliche.
Shane blätterte weiter, er wusste nicht, was er suchte. Irgendetwas, das einen Hinweis auf den Toten geben konnte. Irgendetwas. Weitere Überfälle auf die Heinemann’s Country Bakery, auf einen Elektronikladen in der Wills Street, auf E.W. Wilkinson’s Schmuck- und Blumenladen, auf das China-Restaurant Ming Court und den Modeladen Pall Mall. Mehrere Selbstmorde, ein paar Messerstechereien und Schießereien, aber nichts, was Shane in irgendeiner Weise als Hinweis betrachten konnte. Dann aber berührte ihn etwas: Am ersten Mai Suizid einer Frau namens Betty Williams, Teilaborigine, neununddreißig Jahre alt, Malerin, wohnhaft in Brisbane. Sie war auf Besuch bei ihrem Bruder Moodroo Graham. Der fand sie mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne. In ihrem Abschiedsbrief stand:
Warum quälst du mich? Ich habe dir nichts getan. Wenn man um die Liebe gebracht wird, ist es aus.
Die Kopie des Briefes lag bei den Akten. Die Handschrift hätte von einer Dreizehnjährigen stammen können. Er schluckte, und sein Magen fühlte sich plötzlich an, wie damals auf dem Schiff.
„He, vertragen Sie die Luft hier nicht?“ Paddy, der gerade hereinkam, warf ihm einen musternden Blick zu. „Ich sag Ihnen, es wird noch viel heißer, das ist erst der Anfang.“
„Kannten Sie Betty Williams?“, fragte Shane und hatte sich wieder im Griff.
„Wie kommen Sie denn auf die?“ Paddy kratzte sich am Kinn. „Naja, ist hier als Kind aufgewachsen, war lange weg und kam dann auf Besuch, um sich umzubringen.“
„Seltsam, oder?“
Paddy zog die Schublade auf und holte eine Tüte heraus. „Hab schon Seltsameres erlebt.“
„Ihr Bruder hat sie gefunden“, beharrte Shane.
„Versteh gar nicht, warum Sie sich dafür interessieren“, sagte Paddy mit vollem Mund. Er hielt einen Donut in der Hand.
„Können Sie mir keine normale Antwort geben?“, fuhr Shane ihn an. Paddy hörte auf zu kauen und musterte ihn. „Sie verlieren schnell die Nerven, was? Das ist die Stadt. Der Lärm, der Dreck, die vielen Menschen. Sie sollten sich wirklich überlegen, ob Sie sich nicht ein ruhigeres Plätzchen suchen, ich meine ... man hat ja nur ein Leben, und ich kenn ein paar solcher Typen wie Sie. Mit fünfzig hatten die ihren ersten Herzinfarkt und ihren Fünfundfünfzigsten haben Sie mit Petrus und den Engeln gefeiert. Nicht, dass Ihnen ...“
„Meine Schwester hat sich umgebracht“, fiel Shane ihm ins Wort ohne dass er es gewollt hatte. Und Paddy verstummte augenblicklich.
„Hat sich in ihrem Abschiedsbrief für das schlechte Timing entschuldigt. Es war Weihnachten“, redete Shane weiter. Irgendwie konnte er jetzt nicht aufhören.
Paddy blickte zu Boden.
„Bitte vergebt mir meinen miserablen Sinn für den richtigen Zeitpunkt, hat sie geschrieben.“ Shane kannte die Worte auswendig.
„Tut mir leid“, brachte Paddy schließlich hervor und legte den angebissenen Donut zurück in die Tüte. „Wollen Sie `n Rum?“ Ohne Shanes Antwort abzuwarten nahm er eine Flasche Bundaberg Rum und zwei Gläser aus dem Schreibtisch und goss ein. Es war das erste Mal, dass Shane Sympathie für den dicken Polizisten empfand.
„Coke ist mir ausgegangen“, sagte Paddy.
Sie tranken den Rum pur und schwiegen. Dann verabschiedete sich Paddy, murmelte: „Charly wird schon ungeduldig“ Shane brauchte einen Moment, um sich wieder daran zu erinnern, dass Charly ja das Auto war und Paddy zu seiner Kontrollfahrt aufbrach.
Shane lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und hätte gern einen weiteren Rum getrunken. Heute Abend würde er nicht mehr viel in die Wege leiten können. Hoffentlich fand Eliza endlich etwas Brauchbares heraus. Dieser Fall schien sich sonst irgendwo im Nebel zu verlieren. Er bemerkte, dass Kathy McKenzie vom Missing Persons Bureau ihm eine Mail geschickt hatte:
Zwei Personen waren von ihren Angehörigen in Charleville als vermisst gemeldet worden. Doch die Beschreibungen passten nicht auf die Leiche. Shane schickte eine Mail an Kathy und bat sie in einem weiteren Umkreis nach Vermissten zu suchen. Er wusste: alle achtzehn Minuten wurde im ganzen Land eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Fünfunddreißigtausend Menschen verschwanden jährlich – und das bei kaum fünfundzwanzig Millionen Einwohnern. Die Hälfte der Vermissten waren Jugendliche, die ausrissen, sich aus Abhängigkeiten befreiten, ein neues Leben oder überhaupt ihr Leben beginnen wollten. Und nicht immer wollten sogenannte „Vermisste“ wieder gefunden werden.
Vielleicht, dachte er, war der Tote aber auch woanders ermordet und dann erst nach Coocooloora geschafft worden. Dann stünde er nicht auf der Liste. Es könnte natürlich auch möglich sein, dass der Tote niemals als vermisst gemeldet worden war, weil er weder Familie noch Freunde hatte, keinen Beruf, kein Bankkonto, kein Auto. Doch an diese Möglichkeit wollte Shane nicht denken, jetzt noch nicht. Wer also war der Tote?
Sein Gespür sagte ihm, dass hier einige Leute mehr wussten als sie zugaben. Der Fall würde sich noch eine ganze Weile hinziehen – wenn er ihn überhaupt lösen könnte. Mit dem nächsten Telefonat ließ er sein Zimmer im Pub für eine Woche reservieren.
Andy
Andy war mit Brady zur Tankstelle gefahren, hatte aber nicht gewagt, ihn zu fragen, warum er in der letzten Nacht so seltsam wegen der Axt reagiert hatte. Am Nachmittag würde er auf den Schwager des Tankstellenpächters warten, der in Lambina gewesen war. Danach würde er entscheiden, was er tun wollte. Allmählich machte er sich immer mehr Gedanken über sein Vorhaben. Am Anfang war alles noch so einfach gewesen. Er hatte sich zu Bernie ins Auto gesetzt und war losgefahren. Jetzt aber, gerade mal zweihundert Kilometer weiter, hatte ihn der Mut verlassen.
Seit zwei Tagen wartete er. Nein, eigentlich wartete er seit Jahren. Auf die Kommandos seines Vaters, auf einen Opal-Fund, auf den nächsten Tag, auf das Glück. Gestern hatte er auf den gewartet, der ihn mitnehmen sollte, und jetzt auf den Schwager eines fremden Tankstellenpächters. Das alles gefiel ihm nicht.
Andy schlenderte am Pub vorbei und überlegte was wohl passieren würde, wenn er da noch mal hineingehen würde. Auf der anderen Seite sah er im Schaufenster des Lebensmittelladens Jo. Sie klebte Plakate mit Sonderangeboten auf die Scheibe. Andy winkte ihr zu, doch sie schien zu erschrecken.
Dennoch ging er in den Laden. Die Türglocke bimmelte und Jo stieg aus dem Schaufenster. Ihr Gesicht war rot, bemerkte er jetzt. Die Vorstellung, dass sie geweint hatte, machte ihn verlegen.
„Ich dachte, du bist längst weg“, sagte sie und wich seinem Blick aus.
„Sie sagen, dass es keinen Sinn hat, nach Lambina zu gehen.“
„Was hat schon Sinn?“ Sie sah ihn an, bis er sich losriss.
„Ja, dann ... Auf Wiedersehen“, sagte er und drehte sich um. Er öffnete die Tür als ihn das Geräusch eines dumpfen Schlages herumfahren ließ. Jo riss die Tür zum Büro auf und stürzte die Treppe zum Büro hinauf. Andy stand da und wartete – auf irgendetwas.
Sie rief nicht, sie schrie. Und er rannte die Treppe hinauf, darauf gefasst, etwas Schreckliches zu sehen. Er stolperte über einen dicken Teppich auf ein rötliches Licht zu, das aus einer Tür fiel.
Jo stand vor zugezogenen Vorhängen, unfähig etwas zu tun. Und dann sah er ihn. Im Schlafanzug auf dem Teppichboden auf dem Bett, daneben ein umgekippter Rollstuhl. Zuerst dachte Andy wirklich, der Mann sei tot und beugte sich über ihn. Da bemerkte er, dass sich der Brustkorb hob und senkte.
„Er wollte ins Bett“, sagte sie und kniete sich neben ihn. Andy nahm die Sache in die Hand. Er fühlte sich ungewöhnlich stark. Er schob den Rollstuhl zur Seite, griff mit einem Arm unter die Schulter und mit dem anderen unter die Kniekehlen des Mannes und hob ihn hob. Er war schwerer als er dachte. Andy legte ihn aufs Bett. Sie deckte ihn zu. Schuldbewusst, wie er fand.
„Danke“, sagte sie zu Andy und er dachte, dass es ganz schön hart für sie sein musste, den Laden zu führen und ihren Vater zu pflegen. Doch da fiel Andys Blick im Hinausgehen auf eine Fotografie. Dort hatte der Mann seinen Arm um Jo gelegt, er sah darauf viel jünger aus und sie lachten beide in die Kamera.
Langsam stieg Andy die Treppe hinunter. Als er sich unten umdrehte stand sie hinter ihm. Ihre Hände umfassten sein Gesicht, zogen ihn zu ihrem Mund. Es geschah so schnell, dass er sich nicht wehren konnte – aber das wollte er auch gar nicht. Er erschrak ein bisschen, aber dann überwältigte ihn ein ganz neues, unbeschreibliches Gefühl als er ihre weichen, warmen Lippen auf seinen spürte, und ihre Zunge seine berührte ... Heftig verscheuchte er das Bild ihres hilflosen Mannes eine Etage über ihnen. Andy wusste plötzlich, dass es richtig war, hier zu bleiben, richtig gewesen war, seinen Vater zu verlassen. Das Glück ist jetzt und hier, oder nicht? Er würde es festhalten. Ganz fest .
„Hi!“
Andy drehte sich um. Neben ihm fuhr ein roter Pick-up an den Straßenrand. Am Steuer saß einer der Männer aus dem Pub.
„He, du wolltest doch nach Süden. Ich kann dich bis nach Charleville mitnehmen.“
Für einen Moment stand alles still. Andy wusste, dass er jetzt nur Ja sagen müsste, und er wäre frei. Frei von den Meinungen und Bedenken anderer, frei von ihr, frei – einfach das zu tun, was er für richtig hielt. Er müsste nur in dieses Auto steigen.
Aber sie hatte ihn geküsst. Das hatte alles verändert.
„Danke, aber ich bleib noch ´n paar Tage.“
Er sah dem Auto nach, wie es sich entfernte und fühlte sich gut.
Moodroo
Er musste in die Wüste. In den Sternenhimmel sehen. Die Milchstraße und die Sieben Schwestern. Jetzt gleich. Konnte sie nicht mehr ertragen, die hässlichen Häusern mit ihren Fliegentüren und Gittern vor den Fenstern und den schäbigen Caravans in den Vorgärten. Brauchte sie sofort, die Stille, samtig wie ein Katzenfell. Die Stille, in der er wieder den Lizard hören konnte, wie er über die Sandkristalle huschte. Vielleicht hatte er ja das Dreaming doch nicht ganz verlernt, das Wissen, wie alles zusammenhing.
Die Ahnen riefen zum Inquest auf, zur Befragung nach der Schuld. Sie wollten den Schuldigen. Der Schuldige musste getötet werden.
Und er, Moodroo, musste ihrem Ruf folgen.
In die Plastiktüte vom Lebensmittelladen warf er alle neun Bierdosen aus dem Kühlschrank und ging aus der Tür. Ohne Schlüssel und ohne Schuhe.
Andy
Er war noch völlig durcheinander von Jos Kuss und merkte erst jetzt, dass er vor einem Videoshop stehen geblieben war. Er wusste nicht so recht, was er tun sollte und da kam ihm der Laden gerade recht. Hoffentlich haben sie auch ein paar neue Filme, dachte er als er die mit Filmplakaten zugeklebte Tür aufzog. Der kleine Raum bestand praktisch nur aus Regalen, vollgestopft mit Videos. Ob Brady und Mike einen Player hatten?
Ein Mädchen schob einen Plastikvorhang zur Seite und strahlte ihn an. „Kann ich helfen?“, fragte sie. Verglich er jetzt alle Frauen mit Jo? Sie sah gewöhnlich aus, mit ihrer blassgrauen Haut, dem mittelblonden, glatten Haar und dem großen Busen, der sich unter ihrem engen roten Shirt deutlich abzeichnete. Auf sein Alter schätzte er sie, vielleicht auch ein bisschen jünger. Bei Mädchen konnte er das immer schwer sagen.
„Nein, ich seh mich nur ein bisschen um“, sagte er und fing an die Titel zu lesen.
„Neu hier?“
„Bin auf der Durchreise.“
„Ah, ist ja auch nichts Besonders hier.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Und wo geht’s hin?“
Gestern hätte er die Frage noch ohne Zweifel beantworten können.
„Der Lebensmittelladen da drüben ...“, fing er an und deutete durch das staubige Fenster auf die andere Straßenseite. Jo war nicht so sehen. „Ist nicht leicht für die Frau, was?“
Sie zog ihr enges T-Shirt straff.
„Jo Hill? Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ Ihr Mund verzog sich und ihre Augen blitzten. Sie hatte jetzt etwas Gehässiges. Sie beugte sich über die Theke und kam seinem Gesicht nahe. Er sollte einfach gehen, doch da sagte sie schon:
„Alle warten nur darauf, zu sehen, mit wem sie’s treibt! Und mit wem sie abhaut! Die ist ja zwanzig Jahre jünger als er! Und nicht aus der Gegend. Mit dem Leben hier kam sie auch vorher nicht klar. Vor dem Unfall.“ Sie richtete sich wieder auf und sagte schnippisch: „Naja, jeder hat eben sein Schicksal. Ich heiße übrigens Nicole.“
Doch Andy war schon an der Tür.
„He, und wie heißt du?“, rief sie ihm nach, aber er tat so, als hätte er die Frage nicht mehr gehört. Was sollte das heißen? Hat der Kuss ihr nichts bedeutet?
Die dicken Äste loderten endlich auch. Das verbeulte Blech einer alten Kühlerhaube, das Brady als Windschutz hinter das Feuer gestellt hatte, reflektierte die orange-gelben Flammen. Andy schaufelte die glühende Holzkohle heraus und legte sie auf den gusseisernen, fest verschlossenen Topf, den er in ein Erdloch gestellt hatte. Sorgfältig verteilte er die Glut um den Topf herum und hörte das Fleisch darin brodeln.
Lambina, hatte der Schwager des Tankstellenpächters erzählt, war der Reinfall meines Lebens. Ging mit ´en paar tausend Dollar hin und kam mit nichts zurück. Hat nur ´n paar Monate gedauert. Die haben mich sabotiert. Jeden Tag war was anders an den verdammten Maschinen kaputt. Und nachts haben die von der Nebenmine in meine reingegraben. Ich hab nämlich wirklich was gefunden. Aber ich war zu blöd und hab nicht unten mit `ner Knarre in der Hand gepennt. Was willst du machen, wenn du allein bist? Die wollten meinen Claim. Haben sie schließlich auch gekriegt. Du bekommst sowieso keinen Claim mehr. Alles weg. Und neue sind nicht in Sicht. Das Land gehört den Aborigines, die verkaufen erst wieder was, wenn sie Geld brauchen. Such dir was anderes, Lambina ist verlorene Zeit.
Jetzt kochte Andy mit seinen Freunden Rinderfilet, das Brady während einer Reparatur aus dem Kühlwagen gestohlen hatte. Sie hatten die Sessel und Schaukelstühle von der Veranda heruntergeholt und um das Feuer herum gestellt. Zikaden zirpten und hin und wieder schrie ein Vogel auf. Am schwarzen Himmel leuchteten die Sterne. „Wenn du so ein Moralapostel bist, musst du halt was anderes essen“, hatte Brady auf Andys Einwand hin erwidert. Er hatte dabei die Augen zusammengekniffen und das Kinn vorgeschoben. Andy war wieder aufgefallen, wie verschlagen er aussah. Er hatte die Bedenken weggeschoben. Endlich hatte er Freunde gefunden. Typen, die sich einfach nahmen, was sie wollten und nicht wie er selbst ihr ganzes Leben mit Warten verbrachten. Vielleicht war ihre Art zu leben gar nicht so schlecht. Und, was machte es schon, sich ein bisschen was zu essen zu nehmen?
„Wir sind ein Superteam!“ Brady steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund. Mike, der im Ohrensessel lümmelte, nickte und kaute. Andy schnitt sich ein weiteres Stück ab.
„Mike hat das Bier beschafft, ich das Fleisch, und Andy hat gut gekocht!“, fuhr Brady mit vollem Mund fort. Als Brady erwähnte, dass Mike das Bier „besorgt“ hätte, wurde Andy klar, es war geklaut. Mike hatte keinen Job und klaute, was sie so zum Leben brauchten.
„Gib mir noch ein Stück Fleisch!“ Brady hielt Andy den Teller hin. „Könnten doch mal wieder was unternehmen.“
„Cool!“ Mike schüttet das Bier hinunter.
„Und du, was meinst du, Andy?“
„Mhm“, machte Andy und nickte. Er hatte keine Ahnung, was sie so unternehmen sollten.
„Okay, und was?“ Brady sah in die Runde.
„Könnten nach Eulo in den Puff“, schlug Mike vor und puhlte Fleisch aus den Zähnen. Brady lachte.
„He, Andy! Eulo musst du doch kennen!“
„Wieso?“ Brady schlug seinem Bruder auf die Schenkel. „Ist das wahr? Unser Andy kennt Eulo nicht, die verfickte Hure von Eulo.“
Mike lachte genauso laut und schlug Brady ebenfalls auf die Schenkel.
„Also komm, klären wir unseren Freund mal auf.“ Brady beugte sich vor.
„Ja, klären wir ihn mal auf“, wiederholte Mike.
„Also, da war `ne Frau, `ne verdammte Hure genauer gesagt“, fing Brady an.
„`ne Hure im Puff“, warf Mike ein. Brady nickte und fuhr fort. „Genau, ´ne Hure im Puff in Eulo. Die war besonders scharf auf Opalgräber-Schwänze!“ Mike wollte etwas sagen, doch Brady redete weiter: „Denen hat sie die beschissenen Opale abgefickt. Die mussten mit Opalen bezahlen. Die alte Schlampe ist stinkreich dabei geworden.“
Mike grölte und nickte unablässig, bis Brady ihm den Rest Bier aus der Flasche überschüttete und vor Lachen brüllte. Mike erstarrte. Andy fürchtete eine Schlägerei zwischen den besoffenen Brüdern. Doch dann fing Mike ebenfalls an, vor Lachen zu brüllen.
„Die Hure von Eulo – vielleicht hat die deinem Alten auch die Opale abgewichst! Und der hat dir einfach gesagt, er hat keine gefunden!“ Brady schlug sich wieder auf die Schenkel.
„Und wann fahren wir?“ Mike japste aufgeregt nach Luft.
Brady schüttelte den Kopf und lallte: „Mann, du weißt doch, dass so was `en Haufen Kohle kostet! Und Opale haben wir ja nicht, stimmt’s, Andy?“
Andy lachte unbehaglich mit. „Nein, keine Opale.“
„Da hörst du es. Keinen einzigen verfickten Opal! Wir müssen uns andere Weiber suchen. An der Küste, da gibt’s richtig scharfe Bräute!“
„Wieso bist du dann noch hier?“, fragte Andy. Brady verzog das Gesicht.
„Ach, natürlich sind die süß, rennen doch jeden Tag an den Strand. Kannte mal eine, die hatte vielleicht Titten.“ Er beschrieb mit den Armen einen weit ausladenden Bogen. „Und erst die Beine.“ Brady lachte und Mike fiel in sein Lachen mit ein.
„Sag schon, warum bist du nicht dort?“, beharrte Andy.
„Wo soll ich denn da wohnen, he? Hier hab ich ´n Haus, ´n Job und ´n ruhiges Leben. Und ab und zu mal was mit der Schnecke aus dem Videoshop. Und was glaubst du, was so eine von der Küste für Ansprüche hat! Die seh ich mir lieber von weitem an!“ Dann fügte er noch hinzu: „Bis ich mal genug Kohle hab, dann hau ich hier vielleicht ab, geh an die Küste und kauf mir `n Boot. So `ne lange Yacht. Dann laufen mir die Weiber nur so nach!“ Er brüllte wieder vor Lachen. „Mike, Bier ist alle!“
Sein Bruder stand auf, um Nachschub aus dem Haus zu holen. Und Brady sah Andy an.
„Weißt du, Mike und ich sind froh, dass du unser Freund bist. Es ist nicht leicht, Freunde zu finden.“ Brady kaute an einem Stück Fleisch. „Man muss Vertrauen zueinander haben. Mike und ich haben Vertrauen zueinander, weil wir Brüder sind. Okay, es gibt auch Brüder, die haben kein Vertrauen zueinander, aber wir haben es. Wir machen alles zusammen. Manche denken, wir sind Zwillinge. Das stimmt nicht. Mike ist ein Jahr später geboren als ich.“ Er puhlte eine Fleischfaser zwischen den Zähnen hervor. „Und weißt du, das beste Gefühl im Leben ist? Wenn man sich auf jemanden verlassen kann. Dann kannst du jemandem vertrauen. In jeder Situation, weißt du? Dann lässt er dich nicht im Stich, fällt dir nicht in den Rücken, egal, was ist. Verstehst du, was ich meine?“ Brady war ganz nah an Andy gerückt und verlangte eine Antwort. Andy fühlte sich plötzlich unwohl. Brady legte eine Hand auf seine Schulter. Schwer und breit. „Verstehest du, was ich meine?“
Andy nickte hastig. Brady war betrunken, und Betrunkene waren unberechenbar. „Klar, schon!“, antwortete er. „Aber ...“
„Was aber?“, fragte Brady heiser und die Hand auf Andys Schulter wurde schwerer.
„Ich meine ... ich meine ... wenn ... es nicht richtig ist ... was der andere tut ...“
„Siehst du, genau das ist es, was ich gerade gesagt habe. Man vertraut darauf, dass der andere das Richtige tut. Er wird schon seine Gründe dafür haben. Du wirst es schon noch kennen lernen, dieses Gefühl, sich auf den anderen verlassen zu können, egal, was man tut.“ Brady klopfte ihm auf die Schulter.
„Egal, was man tut?“, wiederholte Andy nicht ganz überzeugt.
„Egal, was man tut“, sagte Brady nickend und nahm endlich seine Hand von Andys Schulter.
Shane
Am Samstag bestellte sich Shane zum Frühstück Eier mit Speck, Toast, Kaffee und Orangensaft, weil er glaubte, einen langen Tag vor sich zu haben. Nach dem Meeting in Charleville mit Detective Russell und Kollegen wollte er zum Pferderennen.
„Du verspielst dein ganzes verdammtes Gehalt“, hielt ihm Jack immer wieder vor. Aber Shane erklärte ihm, dass er sich ja sonst nichts gönnte. Urlaub hatte er seit der Scheidung nicht mehr gemacht, er fuhr einen Dienstwagen, sein Apartment zahlte er bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr in kleinen Raten ab, und die Unterhaltszahlungen für Pamela hielten sich in Grenzen. Also, warum sollte er sparen und sich den einzigen Spaß nicht gönnen?
Schon um acht Uhr morgens flimmerte der schwarze Asphalt der Straße. Das verfluchte Auto, das ihm Paddy besorgt hatte, besaß noch nicht mal einen CD-Player. Er schaltete das Radio ein, Jeffs Outback-Sender, etwas anderes schien man hier sowieso nicht empfangen zu können. Auch wenn er die Countrymusik nicht mochte – es war immerhin besser, als während der einstündigen Fahrt bis Charleville nur das Brummen des Motors zu hören. Gleichmäßig surrte der Wagen dahin. Ab und zu kam Shane ein anderes Fahrzeug entgegen. Mal ein Truck mit Rindern, mal ein Milchauto oder ein Lieferwagen, hin und wieder ein Nissan Patrol oder ein Toyota Landcruiser.
Er dachte, wenn er auf der einundsiebzig einfach weiterführe, wäre er morgen in Sydney, am Ozean. Am Wochenende fuhr er öfter an die Gold Coast, spielte ein bisschen im Casino in Surfers Paradise und traf sich mit Louis, einem Ex-Cop, den sie vor drei Jahren zum Krüppel geschossen hatten und der seine hohe Versicherungssumme in ein Apartment in Broadbeach investiert hatte. Nachdem er nur noch an Krücken gehen konnte, hatte ihn seine Frau verlassen. Seitdem saß er allein in seinem Dreihundertfünfzigtausend – Dollar – Apartment und ersoff sein Hirn. Manchmal, in seinen selbstkritischen Stunden, sah Shane sich selbst wie Louis – als einsamen Alkoholiker in einem verwahrlosten Apartment.
Sogar durch die Scheibe konnte er spüren, wie die sengende Sonne die Rinde der Bäume beizte, und die allerletzten Tropfen Feuchtigkeit aus den Blättern presste. Er entdeckte ein paar große, graue Kängurus, die rasch wieder hinter den Büschen und Termitenhügeln verschwanden. Er musste plötzlich an die Delfine denken, die er und Kim so gern beobachtet hatten, wenn sie das Wochenende an der Küste verbrachten. Kim liebte Delfine, und manchmal, wenn sie nahe genug am Strand entlangzogen, beeilte sie sich, ins Wasser zu kommen und schwamm ihnen entgegen. Das alles war schon so lange vorbei, dass es kaum noch zu ihm gehörte.
Draußen war Mulga-Land. Silbergraue Büsche auf roter Erde. Mulga bedeckt zwanzig Prozent des australischen Kontinents, das hatte ihm schon sein Vater erklärt, der ihn, Shane, lieber als Naturforscher gesehen hätte. Gerade glaubte Shane, wieder ein Känguru zu sehen, als er sah, dass es ein Mensch war. Er trat auf die Bremse.
Der Mann mit den schwarzen Haaren und einer braunen Hose stapfte mit einer Tüte in der Hand barfuß über die heiße, rote Erde. Shane drosselte weiter die Geschwindigkeit. Aber der Mann schien keine Hilfe zu brauchen, er nahm noch nicht einmal Notiz von dem Auto. Schließlich drehte Shane die Musik lauter und gab wieder Gas. Ein Schwarm rosa-weißer Galah-Papageien flog von der Straße auf, viel zu spät für die Geschwindigkeit des Wagens. Reflexartig zog Shane den Kopf ein, als zwei der auffliegenden Vögel gegen die Windschutzscheibe zu klatschen drohten. Doch sie hatten Glück, sie entkamen dem Tod im letzten Augenblick.
Andy
Der Schrei gellte bis in seinen Schlaf. Er stürzte auf die Veranda und sah in der Morgendämmerung, wie Mike mit nacktem Oberkörper und Boxershorts aus dem Haus rannte. Er hatte eine schwarzglänzende Pistole in der Hand, zielte, drückte ab, ein Knall – jetzt erkannte Andy die braune, sich windende Schlange. Mike feuerte wieder und der Schlangenkörper wurde hochgeschleudert und fiel dann schlaff zu Boden. Mike schrie und ballerte eine Kugel nach der anderen auf die längst tote Schlange. Dann griff er mit der bloßen Hand die zerfetzte Schlange und schlug sie immer und immer wieder auf einen Ast, bis sie in Stücke fiel. Als Mike sich umdrehte blickte Andy in dessen weitaufgerissene Augen. Aus seinem Mund lief Speichel.
„Ich hab sie tot gemacht. War ´ne Brownie. Ich wär tot gewesen, wenn die mich gebissen hätte!“
„Das hast du gut gemacht“, hörte Andy eine sanfte Stimme hinter sich. Brady stand in der Verandatür. „Komm jetzt wieder rein.“
Als Mike ins Haus trat meinte Brady: „Setz dich auf die Veranda. Ich mach uns Frühstück.“
„Ich hab sie totmachen müssen.“ Mikes Gesicht war auf einmal blass geworden.
„Ja, natürlich hast du sie töten müssen. Das war gut. Jetzt setz dich dahin und ruh dich aus.“ Brady schob seinen Bruder auf die Veranda in einen Schaukelstuhl. „Pass auf ihn auf“, sagte er zu Andy, „ich geh in die Küche.“
Andy ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und beobachtete Mike, der ihm starr gegenüber saß. Es war noch früh am Morgen, die Sonne war gerade erst aufgegangen, die Gidgea-Bäume verströmten ihren beißenden Geruch und Kookaburras kreischten. Mike atmete hastig.
„Warum hast du so ´ne Angst vor Schlangen?“, fragte Andy. Mike richtete seinen Blick zu ihm. Es dauerte einige Sekunden, bis er antwortete und dann sprach er ganz langsam: „Ich hab keine Angst.“ Andy blickte an ihm hinunter. Sein Oberkörper war sehr weiß, und seine Haut sah zart aus. Man sah ihm an, dass er Fastfood aß und zu viel Bier trank. Seine Kraft wurde festgehalten und gebändigt von dieser Schicht Fett und ... von Angst.
„Klar hast du Angst gehabt. Du hast ja jetzt noch Angst“, Andy lachte. Mikes Augen verwandelten sich mit einem Mal in schmale Schlitze.
„Ich hab keine Angst. Merk dir das. Ich hab vor nichts Angst. Frag Brady!“, sagte er drohend.
„He, jetzt raste nicht gleich aus! Ist schon okay. Natürlich hast du vor nichts Angst!“ Andy lachte immer noch. Wahrscheinlich war Mike unterbelichtet, hatte `ne Schraube locker, war behindert. Er grinste Mike an. Noch im selben Moment sprang Mike auf, warf sich mit dem vollen Gewicht seines kompakten Körpers auf Andy und riss ihn vom Schaukelstuhl. Er griff in Andys Haar und schlug dessen Kopf auf den Boden. Andy versuchte, sich aufzurichten, doch Mike war zu schwer, und dann verpasste Mike ihm einen Schlag in den Magen. Andy blieb vor Schmerz die Luft weg, er konnte nicht mehr atmen. Vor seinen Augen wurde es schwarz.
Als er wieder die Augen öffnete blickte er an gespreizten Beinen über sich hoch. Drohend sah Brady auf ihn herunter.
„Merk dir eins, Kumpel: Du kannst jeden anderen beleidigen. Ist mir völlig scheißegal. Aber wenn du es mit meinem Bruder machst, dann bring ich dich um. Kapiert?“
Andy nickte. Sein Kopf fühlte sich an wie Watte, und im Mund schmeckte er Blut. Sein Magen krampfte sich zusammen. Brady reichte ihm die Hand, half ihm aufzustehen und lächelte plötzlich.
„So, jetzt gebt euch die Hand und vertragt euch wieder!“
Mike streckte ihm wie auf Kommando die Hand entgegen. Andy blieb nichts anderes übrig, als einzuschlagen.
„Freunde!“, sagte Mike und lächelte sogar. „Und jetzt gibt’s was zu mampfen.“ Brady verschwand und kehrte kurze Zeit später mit einer Pfanne Eier und Speck und einer großen Kanne Kaffee zurück.
Shane
Nach einer Stunde Fahrt steuerte Shane den Wagen durch die Straßen Charlevilles. Am Ende der Hauptstraße entdeckte er das Schild Polizeistation. Er parkte direkt vor dem Eingang neben einem Streifenwagen. Er erinnerte sich an Kates Warnung am vergangenen Abend. „An denen in Charleville beißen Sie sich die Zähne aus!“ Und mit einem „Na, dann mal viel Erfolg in Charleville“, hatte sich Paddy von ihm verabschiedet.
Das Dienstgebäude war etwas größer als das in Coocooloora. Shane lief die Stufen hinauf. Detective Philipp Russell, sicher zehn Jahre älter als Shane, ein kleiner, gedrungener o-beiniger Mann mit dunklem Haar musterte Shane aus eng zusammenstehenden Raubtieraugen.
„Sie haben sich ja schon gleich mit Billy Henderson angelegt, hab ich gehört. Zum ersten Mal hier?“ Philipp Russells Stimme klang gelangweilt, so als wäre er dabei immer wieder daran erinnert worden, wie lange er selbst hier schon ausharrte. Shane nickte. „Kannte `n Kollegen von Ihnen. Kevin Morrison“, redete Russell weiter.
„Ja, er ist vor ein paar Jahren aus dem Dienst ausgeschieden“, erinnerte sich Shane, „hatte schlimme Magengeschwüre.“
„Und von euch bekam er `ne Postkarte und seine Frau `n Blumenstrauß, was?“ Philipp Russell schüttelte den Kopf. „So ist das. Nach ein paar Jahren ist man vergessen. Es zahlt sich nicht aus, sich kaputt zu machen.“
„Und deshalb reißen Sie sich auch nicht den Arsch auf, was?“, entgegnete Shane.
Russell schluckte eine Bemerkung hinunter. Doch dann sagte er: „Das ist Senior Constable Andrew Cassidy“, und wies auf einen Kollegen, der Shane um einen Kopf überragte.
„Nett, Sie kennen zu lernen, Detective“, meinte Andrew Cassidy und lächelte verhalten. Shane setzte sich auf die Ecke einer Tischplatte, während die anderen auf Stühlen platz nahmen. Russel lehnte sich an die Wand. Shane fasste kurz die Fakten zusammen, erwähnte die Ähnlichkeiten mit dem Frauenmörder-Fall, erinnerte an die achtundvierzigjährige Kassiererin bei Coles, die ihre Eltern übers Wochenende hatte besuchen wollen und bei Dalby eine Reifenpanne gehabt hatte. Er erwähnte die Dreiundvierzigjährige, die drei Kilometer vor Barcaldine aus dem Auto ihres Freundes ausgestiegen war, und die achtunddreißigjährige Frau, die man bei Tambo gefunden hatte, und schließlich Jennifer Miller, zweiundvierzig, deren Leichnam in einem Creek bei Roma vergraben worden war.
„Aber“, fuhr er fort, „wir haben es in Coocooloora mit einem männlichen Opfer zu tun. Die Bauchverletzung wurde dem Toten nicht beigebracht. Die Leiche wurde vergraben, was bei allen anderen Leichen außer bei Jennifer Miller, nicht der Fall gewesen war – und dabei so vergraben, dass sie unter normalen Umständen niemals gefunden worden wäre. Wir sollten also von einem separaten Fall ausgehen. Vielleicht haben wir es mit einem Nachahmungstäter zu tun. Wichtig ist für uns zunächst, die Identität des Toten zu klären. Daher brauche ich alle Informationen, die Sie auftreiben können.“ Shane sah in die Runde. „Die Leiche wurde an einer Stelle vergraben, die entweder schon am nächsten Tag oder in den darauf folgenden Tagen mit einer Teerschicht versiegelt wurde. Warum hat der Täter den Toten ausgerechnet an dieser Stelle vergraben? Wusste er, dass dieser Platz geteert werden und die Leiche für immer verschwinden würde? Und wer wusste davon?“
Philipp Russell antwortete besonders gelangweilt: „Jeder, der sich dafür interessierte. Spätestens, als die Bauarbeiter anfingen, war es allgemein bekannt.“ Die anderen nickten.
„Stellen wir einen Zeitplan auf“, sagte Shane. „Der Parkplatz wurde geteert am ...“, er sah auf seine Notizen, „am dritten Mai. Der Tote muss also vor dem dritten Mai dort vergraben worden sein. Die Forensik teilte mir mit, dass der Todeszeitpunkt ungefähr ein halbes Jahr zurückliegt. Das kann sechs Monate oder sieben, acht oder fünf. Fünf Monate können wir aber ausschließen, da zu diesem Zeitpunkt der Parkplatz bereits geteert war. Definitiv letzter Todeszeitpunkt kann also nur der zweite Mai sein. Die Arbeiten begannen am siebenundzwanzigsten April. Die Arbeitszeiten der beiden Bauarbeiter: sieben Uhr dreißig bis vier oder fünf Uhr abends. Wenn der Tote dort während der Bauarbeiten dort vergraben wurde, musste das also zwischen fünf Uhr am Nachmittag und sieben Uhr Morgens passiert sein. Allerdings schliefen die Arbeiter in einem Bauwagen direkt an der Baustelle. Das Risiko für den Täter wäre meiner Meinung nach zu groß gewesen. Ich vermute, dass der Tote vor dem siebenundzwanzigsten dort vergraben wurde. Was meinen Sie?“
Alle nickten – bis auf Webster, der rot angelaufen war.
„Sind Sie anderer Meinung, Webster?“, fragte Shane. Webster wurde dunkelrot, auf seinem Hals bildeten sich rote Flecken. Shane nickte ihm ermutigend zu. Webster räusperte sich.
„Am Sonntag ... den dreißigsten April wurde das Rugby-Spiel zwischen den Broncos und der Mannschaft aus Sydney ausgetragen. Vielleicht waren die Arbeiter danach im Pub?“
Niemand antwortete. Shane wunderte sich, dass er Webster unterschätzt hatte.
„Kriegen Sie raus, wo die Jungs an diesem Tag waren. Kate weiß es vielleicht. Ansonsten möchte ich, dass wir eine umfangreiche Befragung durchführen, um die Identität des Toten zu klären.“
„Vergessen Sie nicht die Presse. Womöglich erinnert sich jemand an etwas Auffälliges“, meinte Philipp Russell.
„Übernehmen Sie das. Außerdem brauche ich eine Zusammenfassung über die Aktivitäten der Aborigines. Gibt es hier irgendwelche laufenden Verfahren wegen Landrechten und dem Native Title?“
„Was hat denn das damit zu tun?“, fuhr Russell auf.
„Haben Sie vergessen, dass es wegen des Geländes, auf dem der Tote gefunden wurde, Auseinandersetzungen mit den Aborigines gab?“ Shane machte sich nicht die Mühe, Russell anzulächeln.
Russell schnaubte verächtlich. „Ihr aus Brisbane glaubt, nur ihr habt’s drauf, was?“
Shane überhörte die gemurmelte Bemerkung. Er hoffte nur, dass sich die Sache mit der Schlägerei nicht bis hierher verbreitete. Wer hätte dann noch Respekt vor ihm? Nach anderthalb Stunden beendete er die Besprechung und war froh, dass wenigstens das kleine Vergnügen des Pferderennens auf ihn wartete.
Andy
Andy rauchte einen Joint. Bradys Hinterkopf sah aus wie ein haariger Luftballon. Da musste er lachen. Mike drehte sich um, auch ein haariger Ballon mit einer nackten Seite und einer Nase! Andy lachte und trank Bier aus der Dose. „Schon mal in Charleville gewesen, Andy?“ Bradys Frage von heute Morgen schwirrte ihm durchs Hirn. Das musste ein paar Stunden her sein. Er fühlte sich unheimlich gut, da auf dem Rücksitz, unterwegs mit Freunden. Als er die Augen schloss, war er plötzlich im Camp. Wind wehte. Er saß oben im Führerhaus des Baggers und rammte die Schaufel immer wieder in die Erde. Die Baggerschaufel war ein gefräßiger Drache, der über die aufgegrabenen Löcher kreiste, plötzlich auf den harten Boden wie auf Beute hinabstieß und in die Erde biss. Oder er war ein ehemaliger Raumschiffkommandant, der auf einen fremden Planeten verbannt wurde und mit anderen Gefangenen schuften und Uran abbauen musste. Natürlich wurde er der Anführer der Rebellen, die ein Raumschiff kaperten und ins Weltall flohen. Manchmal aber stellte er sich auch vor, dass er auf einen rot glimmenden Kristall stieß, der das ewige Licht der Menschen wäre.
„Ist das nicht ´n netter Laden? So klein und so abgelegen?“, hörte er Brady sagen. Andy rappelte sich auf und sah aus dem Seitenfenster. War das Charleville?
Zuerst nahm Andy an, dass sie einkaufen wollten, doch als Brady den Wagen am Bottle Shop vorbei und in die nächste Seitenstraße steuerte, fragte er sich, was sie hier wollten. Und als Brady unter dem Sitz eine schwarze Strickmütze hervorzog, wünschte er sich, er wäre nicht mitgekommen.
„Bin gleich wieder da.“ Brady drehte sich zu Andy um und zwinkerte ihm zu. „Oder willst du gehen?“, fragte er und hielt plötzlich die kleine, schwarz glänzende Pistole in der Hand, mit der Mike noch am Morgen auf die Schlange geschossen hatte. Andy schüttelte den Kopf. Wie viele Joints hatte er geraucht? Wie viele Bier getrunken? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Warum auch, eigentlich war es egal. Alles scheißegal. Durch den Schleier seiner Wimpern sah er Brady aussteigen. Mike rutschte hinters Steuer und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Irgendwann wurde die Beifahrertür aufgerissen.
„He, alles klar. Los, fahr los, langsam.“ Brady drehte sich nach hinten um und zog unter seinem Pulli zwei Anderthalb-Liter-Flaschen Bundaberg Rum hervor.
„Und zum Wetten?“, fragte Mike. Brady grinste, griff in die Hosentasche und wedelte mit einem Bündel Geldnoten.
Shane
Shane stellte den Wagen auf dem fast voll besetzten Parkplatz vor dem Warrego Racing Course ab. Schon von weitem erkannte er zwischen den Menschengruppen den hochgewachsenen Jeff Peterson.
„Hallo, Shane, hätte nicht gedacht, dass Sie zum Pferderennen kommen!“, rief Jeff als er Shane entdeckte.
„Haben Sie geglaubt, ich könnte was Besseres vorhaben?“
„Ehrlich gesagt, ja.“ Jeff zündete sich eine Marlboro an. „Und, was sagen Sie zu unserer Allwetter-Pferderennbahn? Wir sind mächtig stolz darauf. So was finden Sie in der ganzen Gegend nicht. Sie sollten am siebzehnten Juli, am Matilda Highway Race Day da sein. Da ist hier was los, kann ich Ihnen sagen!“
„Na, wenn sich die Ermittlungen weiterhin in dem Tempo dahinschleppen, werde ich den Cup sicher nicht verpassen“, sagte er und fürchtete, dass es tatsächlich so kommen könnte.
„Haha! Ich hab übrigens im Outback-Radio über den Fall berichtet und um nähere Hinweise gebeten. Bis jetzt hat allerdings bei mir noch keiner angerufen. Morgen werde ich es noch mal bringen.“
„Danke.“
„Aber jetzt zum Wetten. Ich nehm mal an, Sie sind nicht einfach so gekommen?“
„Nein. Ehrlich gesagt, haben mich Pferde an sich auch noch nie so wirklich interessiert. Wer ist denn hier der Favorit?“
„Oh, kommen Sie, schauen wir uns die Pferdchen mal näher an.“ Hinter dem Zaun führten die Betreuer die Pferde auf und ab.
„Was halten Sie von der Nummer drei?“, fragte Shane und zeigte auf einen schwarzen Hengst.
„Hm, wird von Tim trainiert“, meinte Jeff und lehnte sich gegen den Zaun. „Tim ist `n alter Hase, hat immer zwei, drei Pferde laufen, mischt immer ein bisschen mit, aber nie ganz vorn.“
„Die Vier sieht ganz gut aus“, meinte Shane und betrachtete das braune, schnaubende Pferd.
„Misty Might, ja, könnte man wagen. Die Wetten stehen eins zu acht.“
Shane setzte vierzig Dollar auf Sieg von Misty Might.
„Wenn Sie gewinnen, müssen Sie mich auf ein Bier einladen“, bemerkte Jeff. Shane lachte, dann blickte er sich um.
„Kennen Sie die meisten Leute hier?“
„Klar, wenn man wie ich schon Jahre hier lebt, bleibt das nicht aus. Der da drüben ist übrigens Billy Hendersons Vater Ian. Sie wissen schon: Der Mann, dem das Land mit dem Parkplatz gehört. Er ist Vorsitzender der Historical Society.“ Schon war Jeff zu dem stattlichen älteren Herrn Anfang siebzig getreten, der einen hohen, steifen Akubra und ein gebügeltes weißes Hemd über einer grauen Hose trug.
„Tag, Ian!“
„Tag, Jeff, wie läuft’s?“, erwiderte Ian Hendersons. Ein hagerer, schlaksiger Mann, in dessen faltigem Gesicht eine energische Nase hervorstach.
„Prima! Das ist übrigens Detective Shane O’Connor aus Brisbane.“
Shane streckte ihm die Hand entgegen, die Henderson überraschend lasch drückte.
„Mein Sohn Billy hat ja schon Ihre Bekanntschaft gemacht.“ Ian Henderson sah ihn argwöhnisch an.
„Ja, dann kann man mir ja sicher bald verraten, wer der Tote ist und wer ihn umgebracht hat“, entgegnete Shane.
„Tja ... Das hat alles nichts mit uns zu tun. Was meinst du, Jeff?“
„Dafür würde ich nicht meine Hand ins Feuer legen, Ian.“
„Wie auch immer, ich muss mal rüber zu den Jockeys. Nett, Sie kennen gelernt zu haben, Shane.“ Ian tippte mit einem Finger an seinen Hutrand und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten in der Menge.
„Ian hatte hier eine große Metzgerei. Henderson & Son Butchery, war ziemlich bekannt hier. Als die Preise für Rinder gefallen sind, hat er verkauft. Das ist schon viele Jahre her. Hat ´n Haus an der Küste, aber ich glaube, er hält sich mehr hier als dort auf. War ein guter Freund von Alfred Morgan, einem großen Farmer in der Gegend. Der ist vor ein paar Jahren gestorben. Sein Sohn John hat die Farm übernommen. Donald, der andere Sohn, ist Politiker in Brisbane.“ Jeff reckte den Hals. „John ist manchmal hier auf der Rennbahn. Wenn er sich mal ´ne Pause gönnt. Ist ´n richtiges Arbeitstier. Es gehört schon allerhand dazu, eine Farm am Laufen zuhalten. Meine Mutter wollte immer eine Farm, aber mein Vater meinte, das sei nichts für ihn. Stellen Sie sich vor, Sie haben sieben Jahre lang Dürre und ein Rind nach dem anderen stirbt ohne dass Sie etwas dagegen tun können. Und mit Schafen können Sie heute kein Geld mehr machen. Einige Leute hier sind deswegen schon ganz schön in die Knie gegangen.“
Der Startschuss knallte.
„Dieser Typ da oben, das ist der Einzige, der kein Fernglas braucht. Der hat so gute Augen, dass er jedes Pferd aus der Entfernung erkennen kann. Dabei ist er schon über sechzig!“ Jeff zeigte auf den Kommentator oben im Turm.
„Und Southern Cross vor Shadow Prince!“ Die Stimme des Kommentators begann sich zu überschlagen. „Dann Misty Might vor Bold County, All or Nothing vor Bourbon Rose, Misty Might kommt von innen, jetzt vor Shadow Prince – Southern Cross vor Misty Might, All or Nothing vor Shadow Prince, Bold County auf Platz drei, gefolgt von All or Nothing. Shadow Prince fällt weiter zurück.“ Die Pferde stoben an ihnen vorbei, die bunt gekleideten Jockeys standen in den Steigbügeln. „Misty Might jetzt vorn, Misty Might, Bold County, All or Nothing geht außen vorbei, holt auf ... Misty Might, Misty Might geht durchs Ziel! Dann Bold County, All or Nothing, Shadow Prince, Bourbon Rose. Das war ein Rennen!“
„Gratuliere! Sie haben gewonnen“, stellte Jeff fest.
„Warum haben Sie nicht gesetzt“, fragte Shane und warf die leere Bierflasche in den Mülleimer.
„Ach, hab zurzeit ´ne Pechsträhne.“ Jeff zündete sich wieder eine Zigarette an. „Trau meinem Gefühl nicht mehr. Ist mir mit Aktien passiert und mit Frauen auch. Hier hat übrigens einer vor ein paar Monaten ein paar Dollars auf ´ne alte Mähre gesetzt und dreitausend Dollar gewonnen. Ist seitdem nicht mehr aufgetaucht.“
„Und wie hieß der Glückspilz?“
Jeff zuckte die Achseln und grinste dann. „Shane, ich sehe die kleinen Zahnrädchen in Ihrem Kopf rotieren – könnte das der Tote sein? Mord aus Habgier? Ist doch eines der stärksten Motive, oder? Außer Eifersucht!“
„Ich könnte noch einen Assistenten gebrauchen“, bemerkte Shane.
„Nee, danke, bin nicht schussfest! Mach mir jedes Mal fast in die Hose, wenn die Jungs ihre Tontauben abschießen. Ach, wen haben wir denn hier?“ Jeff schob Shane nach rechts. „Das ist John Morgan.“
Vor ihnen stand ein Schrank von einem Mann, größer als Jeff, mit breiten Schultern wie ein Rugbyspieler und einem Lächeln wie George Clooney. Shane schätzte ihn auf Ende vierzig. Er hatte graues Haar, ein markantes Kinn und blaue Augen – und bestimmt keine Probleme mit Frauen.
„Hi, John, das ist ...“, begann Jeff, doch der Farmer fiel ihm mit einer rauen, sonoren Stimme ins Wort. „Detective Shane O’Connor, richtig? Hab schon von Ihnen gehört.“ Er schüttelte Shane die Hand. Sein Händedruck war fest. Shane musste zu Morgan aufsehen. Er trug Jeans und eine große, blinkende Gürtelschnalle, glänzende Boots und ein kariertes Hemd, dessen Ärmel er aufgekrempelt hatte, so dass seine muskulösen, behaarten Unterarme und eine blitzende Uhr zur Geltung kamen.
„Wenn Sie sich für Rinder interessieren, kommen Sie mal rüber zu uns. Wir treiben in den nächsten Tagen das Vieh zusammen. Sind ein paar verdammt prächtige Exemplare dabei!“
„Danke, aber ehrlich gesagt interessieren mich Rinder erst als Steaks“, antwortete Shane und John lachte laut.
„Sie sind zwar aus der Stadt, aber wenigstens kein verdammter Vegetarier! Sagen Sie, Detective, wie viel zahlen Sie beim Metzger in der Stadt für ein gutes Filet?“
„Ich weiß nicht, meistens gehe ich essen.“
„Aha, nicht verheiratet, was? Also, kommen Sie mal vorbei. Ich bin sicher, wir können Ihnen klar machen, dass dieser Tote hier nichts mit uns zu tun hat, oder Jeff?“ John fuhr fort: „War ein verdammt dummer Zufall. Aber wenn noch nicht mal jemandem aufgefallen ist, dass der Mann verschwunden ist, dann frag ich mich, was der für ein verdammtes Leben geführt haben muss. Wenn ich plötzlich verschwinde, vermissen mich sicher zwanzig Leute.“
„Dann können Sie ja beruhigt sein“, erwiderte Shane. John stutzte einen Moment und lachte dann wieder. „Ihr Humor gefällt mir!“ Mit den Worten tauchte er in der Menge wieder unter.
„Sehen Sie, da hinten!“ Jeff zeigte auf eine blonde, hochgewachsene Frau mit gebräunter Haut. „Das ist seine Frau, eine exzellente Reiterin. Hat früher Preise im Campdrafting gewonnen.“
Shane beobachtete die Frau, wie sie ihrem Gesprächspartner, einem kleinen Dicken mit flachem Hut, ein charmantes Lächeln schenkte.
„Vielleicht finde ich ja einen Grund sie zu verhören.“ Shane wandte sich wieder Jeff zu. „Wissen Sie, Jeff, um ehrlich zu sein, weiß ich überhaupt nicht, wo ich anfangen soll, zu ermitteln.“
„Da beneide ich Sie nicht. Aber um Ihren Sieg! Vergessen Sie nicht, Ihren Gewinn abzuholen.“
Shane ging zum Wettschalter. Er fühlte sich gut, wenn er gewann. Er war genau in der richtigen Stimmung, er musste sie nur noch ausfindig machen ... Da war sie schon, an der Bar. Shane drängelte sich durch die Menge.
„Mrs. Morgan?“ Die Frau drehte sich um, ihre Haut glänzte feucht. In dem Augenblick beneidete er John Morgan. Wie er dieses einsame Leben hasste.
„Shane O’Connor, Detective“, stellte er sich vor.
„Oh? Hab ich was verbrochen?“ Sie lachte ein offenes Lachen, ihre Züge waren gleichmäßig, ihre Nase, ihr Mund, ihre Augen – alles passte harmonisch zusammen und ließ sie sympathisch erscheinen.
„Haben Sie?“, fragte er amüsiert und wusste, dass er bereits eine Grenze überschritt. Sie lachte und ihre Lippen spannten sich über gleichmäßigen weißen Zähnen.
„Finden Sie’s raus.“
Shane lachte wieder und wurde dann ernst. „Ich hab gerade mit Ihrem Mann gesprochen.“
„Und er hat Sie sicher eingeladen.“
Shane nickte.
„Wenn Sie Lust haben“, sagte sie, „dann kommen Sie doch einfach zu uns raus. Reiten Sie?“
„Hab ich verlernt ... aber ich überlege es mir. Noch viel Spaß heute ... haben Sie schon was gewonnen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich wette nie.“
„Ja dann, alles Gute.“ Er drehte sich um als sie noch sagte:
„Übrigens, Detective, Reiten verlernt man nie.“
Shane riss sich von ihrem Anblick los und ging endlich zum Wettschalter, um seinen Gewinn abzuholen.
„Das reicht wohl nicht ganz für eine Schlagzeile, aber für einen Luch im Corones“, meinte Jeff.
Kaum saß Jeff auf dem Beifahrersitz in Shanes Wagen, schaltete er das Radio an und rutschte so tief in den Sitz, dass seine langen Beine ans Armaturenbrett stießen. „Fahren Sie geradeaus, die Hunter Street runter.“ Er fummelte am CD Player herum.
„Funktioniert nicht“, erklärte Shane. „Nur das Radio. Aber es gibt sowieso nur zwei Sender, Ihren und noch einen. Machen Sie um Himmels willen dieses Ding wieder aus! Singen Sie mir lieber was vor.“
„Ich hab tatsächlich mal gesungen, im Kirchenchor. Meine Mutter bestand drauf.“ Jeff grinste.
„Okay, dann wohl doch lieber das Radio.“
„Ach, jetzt ist sowieso Simon dran. Wenn ich auf Sendung wäre, würde ich einschalten.“ Er lachte und fuhr gleich darauf fort: „Der Council hat zehn Millionen Dollar in Charleville investiert. Da staunen Sie, was? Sechs Komma sieben Millionen für den Schlachthof, zwei Millionen für das Department of Natural Resources und für den Wiederaufbau des Veteranenclubs. Hat übrigens stolze siebenhundert Mitglieder. Wenn Sie Spesen sparen wollen, da gibt’s ein Mittagessen für zwei Dollar.“
„Und das überlebt man?“
„Schauen Sie mich an.“
„Na ja, also eher nicht.“
„Sie sind ein richtiger Witzbold, Shane. Hat Ihnen das schon mal einer gesagt?“
„Nein.“
„Sehen Sie, Sie müssen nur mal in den Busch kommen, dann erfahren sie ihr wahres Wesen. Jetzt links in die Parry Street!! Außerdem gibt es ein Observatorium.“
„Entpuppt sich ja als richtiges Touristeneldorado, Ihr Charleville“, murmelte Shane.
„Ihr von der Küste habt eben keine Ahnung, was es bedeutet, hier draußen zu leben.“
„Warum müsst ihr eigentlich dauernd betonen, wie besonders euer Leben hier ist?“
„Okay, Shane, kein Wort mehr über unsere Fähigkeiten zu überleben, unsere sternklaren Nächte und unseren schönen Frauen ...“
„He, hören Sie auf damit, sonst kauf ich mir eine Farm und lass mich hier nieder.“
„Muss nicht das schlechteste Leben sein. Hier rechts rein, in die Wills Street! Da drüben, das ist das Cobb&Co. Denkmal, wenn Sie mir noch den kleinen historischen Vermerk erlauben.“
„Nur zu.“
„Wussten Sie, dass die hier die Kutschen für das heiße, trockene Klima gebaut haben? Zuerst haben sie sie an der Küste, in Brisbane gefertigt und mussten dann feststellen, dass das Holz in der Trockenheit platzte. Tja, und da haben sie beschlossen, hier eine Fabrik hinzusetzen. Stand bis in die Zwanzigerjahre, bis es Autos gab, und später ist sie abgebrannt.“
„Wollen Sie damit andeuten, dass es den Menschen wie den Kutschen geht? Wer hier nicht geboren ist, geht unter?“
„Das haben Sie jetzt gesagt!“
Der Himmel war weiß vor Hitze, als sie aus dem gekühlten Auto stiegen. Heißer Wüstenwind wehte durch die ausgestorbenen Straßen. Sie betraten das pompöse Gebäude und setzten sich an die Bar. Ein paar Männer kannten Jeff, nickten ihm zu, schläfrig von Hitze und Bier.
„Na, gefällt es Ihnen? Ist im Stil der Zwanziger- und Dreißigerjahre restauriert worden“, erklärte Jeff.
„Also, hier hätte ich lieber ein Zimmer als in Coocooloora.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Zwei Bier vom Fass. Wenn sie einen Happen essen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Und was ist mit Ihnen? Sie sehen so aus, als fielen Sie bald vom Fleisch.“
„Ach, ich hab es nicht so mit dem Essen. Meatpie können Sie bestellen.“
„Alles außer Meatpie! Ich nehm die Chops“, entschied Shane. „Ist der Schnee da echt?“ Shane war aufgestanden und betrachtete die Fotos an den Wänden.
„Nein, das sind Hagelkörner. Im Sommer haben wir hier öfter mal Gewitter, Hagel und Windstürme. Neunzehnhundertsechzig gab es einen verrückten Sturm. Am dreiundzwanzigsten Oktober kamen große grüne Sturmwolken von Nordwesten auf die Stadt zu. Die Leute dachten, es gäbe einen normalen Sturm. Dann fiel der Hagel mit enormem Lärm auf die Blechdächer. Neunzehn Minuten lang! Größer als Golfbälle waren die Hagelkörner. Das berichteten diejenigen, die es wagten, aus dem Fenster zu sehen. Die Hagelkörner haben Fenster und Dächer durchschlagen. Viele Haustiere und Ziegen sind umgekommen. Vierhundert Hühner sind allein auf einer einzigen Hühnerfarm erschlagen worden. Dreißig Zentimeter dick soll die Schicht Hagelkörner gewesen sein. Glaser und Dachdecker konnten sich eine goldene Nase verdienen.“
Shane betrachtete eines der Fotos.
„Ja, das ist ein schönes Foto. Die kleinen Schwarzen sehen lieb aus“, sagte Jeff und nahm einen Schluck Bier. „Das ist übrigens da, wo die Leiche verbuddelt wurde.“
„Dann stehen die Kinder also auf dem heutigen Parkplatz.“
„Exakt. Der da lebt noch.“ Jeff zeigte auf einen kleinen Jungen, der ein Blechspielzeug in der Hand hielt. Er hatte dunkle, traurige Augen. „Moodroo wohnt immer noch in Coocooloora. Steht meistens am Pub rum. Seine Schwester hat sich vor kurzem die Pulsadern aufgeschnitten. Er nahm einen weitern Schluck Bier. „Wie das eben so geht manchmal im Leben.“
„Sprechen Sie von Betty Williams?“
„Ja, kennen Sie sie?“
„Hab zufällig ihre Akte gelesen.“ Warum quälst du mich, ich habe dir nichts getan. Wenn man um die Liebe gebracht wird, ist es aus.
Er kannte noch den Wortlaut des Abschiedsbriefs. Jeff zeigte auf das Foto daneben. Zwei Arbeiter auf altmodischen Bulldozern lachten ins Objektiv des Fotografen.
„Da hat man gedacht, hier gibt es Bodenschätze, tja, wenn sie was gefunden hätten, wäre Coocooloora jetzt so was wie Broken Hill.“
Shane hörte jemanden sagen: „Miller’s Bottle Shop haben sie heute Morgen überfallen. Und keiner hat was beobachtet.“ Shane interessierte sich nicht dafür, das war nicht sein Revier. Plötzlich fiel ihm etwas ein.
„Ach, Jeff, warum ist eigentlich Billy Henderson nicht gut auf die Morgans zu sprechen? Er hat eine alte Geschichte erwähnt.“
„Da hab ich keine Ahnung“, antwortete Jeff.
Auf der Rückfahrt nach Coocooloora musste Shane an den Aborigine denken, der mit einer Tüte durch die Wüste gewandert war.
Moodroo
Einst war die Erde flach und ohne besondere Gestalt, und es gab keine Blumen, keine Nahrung, keine Menschen. Dann irgendwann, irgendwie, aus der Erde, oder aus dem Meer kamen die Schöpfer. Sie wanderten über den Rand der Erde, oder sie stiegen vom Himmel hinab und berieten, was existieren sollte. Wo sie gruben, sprangen Bäche aus der Erde, und dort, wo sie urinierten flossen Flüsse.
Die Schöpfer waren veränderlich in ihrer Gestalt. Manchmal waren sie Mensch, ein andermal Tier, manchmal männlich, dann wieder weiblich. Sie schufen den Menschen und die anderen Kreaturen. Sie verwandelten sich gegenseitig in Bäume und Gebirge. Sie schleuderten einen von ihnen in den Himmel, der dort zum Mond wurde. Oder sie formten eine Frau und warfen sie hoch, um die Süßkartoffeln zu ernten, die dort als Sterne strahlten. Alles auf der Erde, alles, was wuchs, alles, was sich bewegte, und alle Form war von diesen Wesen erschaffen worden. Sie bestimmten Gesetze für Menschen und Tiere und die Zeremonien, die jeder Stamm befolgen musste.
Und schließlich verschwanden sie, manchmal, indem sie sich selbst in geheiligte Dinge verwandelten, indem sie in der Oberfläche eines Steins versanken und einen Abdruck hinterließen, den die Menschen sehen konnten und mit Farbe nachzeichneten.
Moodroo wanderte über das Land, barfuß, mit einer Tüte Bierdosen und lächelte, wenn er auf einem Felsen den Fußabdruck eines Vorfahren erkannte. Lange bevor die Weißen kamen, führte ihr Weg hier vorbei. Der Weg der Ahnen. Die Welt haben die Ahnen gemacht und sind zu den Felsen und zu Flüssen geworden. Früher spielte er unten im Fluss mit den anderen Kindern. Und die Mütter und Tanten fischten. Manchmal sammelten sie auch Wurzeln und Knollen und Beeren und Blätter. Als die weißen Männer mit ihren Bulldozern kamen, kehrten die Frauen mit den Kindern gerade zurück vom Buschnahrungssammeln.
Die Männer mit den großen Hüten und den erhitzten Gesichtern brauchten nicht lange. Sie walzten die Hütten in die rote Erde. Dann war nichts mehr übrig, was an das Leben seiner Familie erinnerte. Die Frauen sahen zu und hielten die Kinder fest. Ihre Männer waren auf der Jagd oder arbeiteten auf den Stations der Weißen als Viehtreiber. Sie kamen nur manchmal nach Hause. Die Frauen waren froh, dass die Weißen mit den Maschinen ihnen wenigstens nicht die Kinder wegnahmen. Aber andere kamen und nahmen ihnen die Kinder mit der helleren Haut weg.
Sie sagten, das seien Mischlinge und sie sollten aufwachsen und erzogen werden wie Weiße. Aber sie logen. Die Jungen wurden Viehtreiber und die Mädchen Dienstmädchen bei den Weißen. Er war froh, dass er ganz schwarz war, obwohl Lily, seine Mutter, hellere Haut gehabt hatte. Aber sein Vater war schwarz gewesen. Besser ganz das eine – oder ganz das andere. Und nichts dazwischen. Da gab es nur Probleme. Er hatte einen Auftrag.