Читать книгу Vergiftete Hoffnung - Mara Pfeiffer - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеWährend sie die belebte Straße mit den vielen Cafés und Kneipen entlangschlendern, betrachtet Jo die Stadt zum ersten Mal mit den Augen ihres Sohnes. Sie weiß, dass es ihm hier gefallen würde, schon allein deshalb, weil vor jeder Taberna Schilder stehen, die Kartoffeln in allen nur denkbaren Darreichungsformen bewerben: Kroketten, Pommes, Tortilla und kein Ende. Luca liebt Kartoffeln, wenn er sich das Abendbrot immer selbst zusammenstellen dürfte, würde es bei ihnen grundsätzlich Beilage mit Beilage geben.
Auch die Nähe zum Meer, an dem sie mit Adam schon einige Tage verkuschelt hat, würde Luca bejubeln, und natürlich hätte er seinen Spaß an all den fliegenden Händlern, die bunte Strandtücher und kalte Getränke ebenso anbieten wie Massagen, Sonnenbrillen und aufgemalte Tattoos. Für den Sohn hätte sie vermutlich sogar ihre Höhenangst überwunden und die berühmte Seilbahn bestiegen, die vom Hafen aus auf den Berg zuführt. So hatte sie sich verweigert und mit klopfendem Herzen zugeschaut, als Adam aus wackligen Höhen in die Richtung winkte, in der er sie vermutete. Als er zu ihr zurückkam, hielt sie ihn so fest und atemlos im Arm, als sei er wochenlang weggewesen. Dann waren sie Hand in Hand zurück ins Hotel gelaufen, um miteinander zu schlafen.
In jener Nacht träumte Jo, Adam sei mit der Gondel abgestürzt und vor ihren Augen zerschellt. Als sie zurückkehrte nach Mainz, war Hans fortgelaufen und Luca in ihrer Abwesenheit verhungert. Sie war schließlich aus dem Schlaf hochgeschreckt und ins kleine Bad geflüchtet, wo sie lange auf dem Klodeckel kauerte, die Knie bis ans Kinn gezogen, und leise weinte. Es war, als wollte ihr Traum sie bestrafen, auch wenn sie wusste, wie unsinnig diese Annahme war, und dass ihr schlechtes Gewissen aus der verstörenden Folge von Bildern sprach, die ihr Unterbewusstsein ungnädig in Gang gesetzt hatte. Was sollte sie bloß tun? Die Frage hämmerte wieder und wieder in ihrem Kopf, prallte von seinen Innenwänden ab und verursachte ein solches Getöse, dass sie glaubte, innerlich taub davon zu werden. Es dauerte lange, bis sie in dieser Nacht in den Schlaf zurückfand und dann plagten sie erneut Albträume.
„Huhu, jemand zuhause?“
Jo stolpert aus ihren neuen Flip-Flops, als Adam sie anspricht. „Fuck. Aua. Was?“
Er lacht. „Hör’n Se mal, junge Frau, von wem träumen Sie denn?“
Jo grinst schief. „Immer noch von Frühstück.“
„Das trifft sich hervorragend. Ich habe nämlich gerade versucht, deine Aufmerksamkeit hierauf zu lenken.“ Adam deutet auf den Supermarkt am Ende der Strandpromenade, in dem sich auch ein kleiner Bäcker befindet. Sie haben hier bereits an ihrem ersten Tag gegessen, weil sie die Frühstückszeit verschlafen hatten.
Jo seufzt erleichtert. „Oh ja, darauf habe ich Lust. Mir ist langsam echt schon ein bisschen schlecht vor Hunger.“ Sie fasst sich an den Rücken und zieht dabei die Schultern nach hinten.
„Wo wird dir denn schlecht, im Steißbein?“, neckt Adam.
„Nein, der aufrechte Gang schafft Platz im Magen.“ Jo grinst.
Im Supermarkt bestellt Adam in flüssigem Urlaubsspanisch zwei Baguettes mit Tortilla und schwarzen Kaffee. Jo ist verliebt in die Idee der Spanier, Tortilla als Brotbelag zu benutzen – und sie ist verliebt in Adam, der jedes Wort so sorgfältig wählt und über seine schönen Lippen schubst, als ginge es um viel Bedeutsameres als ihr Frühstück. Wenn sie ihn von der Seite beobachtet, fürchtet sie, er könne die Sternchen in ihren Augen erkennen, also schaut sie schnell weg und legt die Hand auf ihr klopfendes Herz. Sie fühlt sich wie eine 17-Jährige; und sie tut es doch nicht, weil diese Verliebtheit eine fest entschlossene Ernsthaftigkeit in sich trägt, die sie damals noch nicht kannte.
„Erde an Jo. Erde an Jo. Bitte um Lastenverteilung.“ Adam wedelt mit den Baguettes vor ihrer Nase und deutet dabei auf die beiden Kaffeebecher, die dampfend auf der Theke stehen.
„Sorry.“ Jo zieht eine Grimasse.
Er beugt sich zu ihr. „Wir sollten das Hotelzimmer echt nicht ungefickt verlassen, du kannst dich ja gar nicht konzentrieren.“
„Bild dir nur nichts ein, Romeo, das ist der Unterzucker.“ Jo drückt ihren Unterleib gegen seinen, als sie nach dem Kaffee greift. Adam seufzt leise, woraufhin die Verkäuferin eine Augenbraue so weit hochzieht, dass es aussieht, als würde sie ihr auf den Hinterkopf wandern. Kichernd wie zwei Schulkinder stürmen Jo und Adam ins Freie, wo sie sich einen Platz an der Promenade suchen.
Jo balanciert ihr Baguette auf den Knien, während sie Kaffee aus dem Pappbecher nippt. Zuhause hat sie immer einen Mehrwegcup dabei. Die Vorstellung, wie viel Müll hier am Strand jeden Tag zurückgelassen wird, ärgert sie ebenso wie ihre eigene Unbesonnenheit – schließlich hätte sie den Becher ja mitbringen können. Adam hat schon aufgegessen. Er sitzt mit geschlossenen Augen neben ihr und hält sein Gesicht in die Sonne. Jo greift mit der freien Hand nach seiner und er schließt seine Finger sanft um ihre. Sie betrachtet seine Hand, die ihre hält, als wären beide genau dafür gemacht worden. Noch nie zuvor hat sie einen Mann mit so gepflegten Händen gesehen. Seine Nägel sind sauber gefeilt, die Haut ist unglaublich weich, und wenn er ihr beim Sex mit der ihm eigenen Entschiedenheit die Haare aus dem Gesicht streicht, kann sie die Feuchtigkeitslotion riechen, die er zur Pflege benutzt. Adam öffnet die Augen und Jo lacht über seinen verträumten Blick.
„Was ist so lustig?“
„Nichts. Alles. Keine Ahnung. Ich komme mir mit dir manchmal vor wie in meiner persönlichen Teenie-Rom-Com. Alles ist heillos romantisch und so kitschig, dass jede*r Zuschauer*in vermutlich vor Überzuckerung in den nächsten Mülleimer kotzen würde.“
„Hauptsache, du bist den Unterzucker los, bevor du davon kotzen musst. Und was zur Hölle ist eine Rom-Com, junge Frau?“
„Hast du eine schon leicht abgehalfterte Mittdreißigerin mit Hang zur Übermüdung gerade junge Frau genannt?“
„Lenk nicht ab, Missy. Rom-Com?“
„Ich dachte, du veräppelst mich, Grandpa. Das ist eine sogenannte romantische Komödie. Zeichnet sich durch sehr viel Kitsch und sehr wenig Glaubhaftigkeit aus und ist meist schwer zu ertragen.“
„Das wiederum glaube ich sofort.“
„Scherzkeks.“
„Immer redest du vom Essen.“
„Adam.“
„Jo.“
„Ich will nicht nach Hause. Da ist bald Winter und wir sehen uns viel zu selten.“
„Das könnten wir ja ändern.“
„Du hast magische Jahreszeitenverschiebungskräfte?“
„Witzig.“
„Ist genetisch bei mir. Mainz und so. Kannst du als Wiesbadener natürlich nicht nachvollziehen.“
„Disst du mich gerade für meine Herkunft?“
„Würde ich nie tun. Niemand kann etwas dafür, wo er geboren wurde. Die Frage ist nur: Warum bist du geblieben?“
„Hey. Wiesbaden ist toll. Ihr Mainzer habt bloß Vorurteile, weil ihr einen Minderwertigkeitskomplex mit euch herumtragt.“
„Das würde meine Rückenschmerzen erklären, aber: nein.“
„Jedenfalls. Wir können uns doch einfach öfter sehen. Was spricht dagegen? Die gemeinsame Woche haben wir gut ausgehalten.“ In Adams Blick liegt so viel offene Zärtlichkeit, dass Jo befürchtet, sich doch noch übergeben zu müssen. Was ist sie nur für eine ganz und gar niederträchtige und schreckliche Person. Sie schluckt hart. Adam beobachtet sie nachdenklich.
„Jo. Alles gut. Wir müssen nichts überstürzen.“ Seine Hand, seine wunderbare, weiche Hand, streift ihre Wange.
Jo möchte losheulen und ihm alles gestehen. Stattdessen zwingt sie sich zu einem Lächeln. „Nein. Ich fände das auch sehr schön, wenn wir uns häufiger sehen würden. Ich hoffe nur, dass ich das mit dem Job und meiner Großmutter tatsächlich hinbekomme.“
Adams Hand greift nach ihrer und drückt sie fest. „Keinen Stress wegen mir, okay? Ich bewundere das total, dass du deine kranke Großmutter pflegst. Sowas ist echt nicht selbstverständlich und es zeigt einfach dein großes Herz.“ Er küsst sie auf die Stirn und Jo ist dankbar, ihm in diesem Moment nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Nonna zu einem Pflegefall vermärchent zu haben, ist von allen Lügen, die sie aktuell betreibt, die schlimmste. Aber wie sonst hätte sie Adam erklären sollen, dass sie manchmal von einer Sekunde auf die andere sämtliche Pläne umwerfen muss, ohne von ihrem Sohn zu erzählen? Gerade widert Jo sich selbst an.
Plötzlich ist sie furchtbar erschöpft. Den Kopf an Adams Schulter gelehnt, schaut sie auf das bunte Treiben am Strand und die Bucht, die sich so malerisch vor ihnen erstreckt. Die vergangenen Monate zerren an ihrem ganzen Wesen und Jo hat das Gefühl, sie müsste untergehen und ertrinken, wenn sie jetzt ins Meer laufen würde. Die Vorstellung, einfach von den Wellen verschluckt zu werden, hat etwas ungemein Tröstliches. Dann müsste sie wenigstens nicht die Entscheidung treffen, die unbarmherzig vor ihr steht. Adam oder Hans, Hans oder Adam – oder doch einfach Jo und Luca?