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Bruder Johannes' Mission

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Hönnlin ritt ohne Eile weiter nach Westen. Er hatte unterwegs viel erlebt und viel gelernt. Das Leben, das er früher geführt hatte und das nun auf ihn wartete, würde er nicht weiter führen können. Dort würden sie ihn Bruder Johannes nennen, doch den Namen hatte er irgendwo auf der Rückreise abgelegt. Zwar trug er noch sein Mönchgewand, doch hatte das eher praktische Gründe. Auf seinen Reisen hatte er seinen Glauben gefunden und gefestigt, aber das führte dazu, dass er sich von seiner Religion würde trennen müssen. Hönnlin wollte den Menschen dienen und seinem Glauben treu sein. Er wollte keine Lügen leben oder leere Worte predigen wie seine Brüder. Im Gegensatz zur Kirche wollte er sich fremden Wissen nicht verschließen. Wüsste die Kirche um sein Wissen und um seinen Besitz, soviel war gewiss, würde er als Ketzer brennen. Hönnlin wusste nicht alles, eigentlich war er sich bewusst, dass er recht wenig wusste, aber es reichte, um die Mechanismen der Kirche zu durchschauen. Sie diente sich selbst und nicht wie sie predigte Gott und erst recht nicht den Menschen, die sie dumm und abergläubisch zu halten pflegte. Hönnlin war auf seiner Reise viel Wirken seiner Kirche begegnet. Wirken, das schon lange vergangen war, und jenes, das noch andauerte.

Nein, Hönnlin war sich sicher. Die Wege seiner Kirche und der seine würden sich trennen, doch erst noch würde er in seine Heimat reisen. Dort würde er dann auf seine Weise Gott, und vor allem den Menschen dienen. Aber zuvor musste er noch etliche Tagesreisen hinter sich bringen und dabei wollte er den Schutz seines Ordens nicht aufgeben, schließlich hatte er die Reise auch in deren Interesse auf sich genommen. Bloß die Antworten, die er gefunden hatte, waren nicht die gewesen, die zu finden seine Mission gewesen war. Aber dies war nun einmal die Gefahr, wenn man nach Antworten suchte, und sicher nicht sein Fehler.

Bis Norditalien hatte er es bereits zurückgeschafft, doch die Spuren des Winters waren hier noch zu spüren. Deshalb hatte er es auch nicht eilig, da er wusste, dass er die Alpen erst mit Beginn des Sommers würde überqueren wollen. Deshalb wollte er am folgenden Tag auch ein Kloster aufsuchen und für wenige Wochen rasten.

Der Abend brach herein und so suchte Hönnlin sich ein geschütztes Plätzchen in einem Waldstück abseits des Weges.

An einer lichten Stelle grub er ein Loch. Dabei legte er die Erde auf einer Decke ab, da er keine Spuren hinterlassen wollte. Er vermied es, das Loch groß werden zu lassen und grub stattdessen in die Tiefe. Doch die zahlreichen Wurzeln erschwerten sein Bemühen. In unregelmäßigen Abständen hielt er inne und überprüfte ob sich keiner näherte.

Schließlich nahm er einen Teil seines gut verstauten Gepäckes, legte es fest in Leder verschnürt in die Erde und schloss das Loch. Die überschüssige Erde trug er fort und verteilte sie unauffällig. Über der Grabstelle entzündete er ein gemütliches Feuer und richtete sich für die Nacht ein. Er sparte diesmal nicht mit dem Holz, mit dem er das Feuer unterhielt.

Er kochte sich Wasser für einen Tee und stand nochmals auf, um wie fast jeden Abend eine Walnuss zu pflanzen. Erst dann aß er zu Abend und nutzte die letzten hellen Minuten zum Lesen, und legte sich dann früh schlafen.

Am Morgen darauf war die Feuerstelle abgekühlt. Sorgsam überprüfte er, dass die Asche die Spuren seines Versteckes kaschierte, und prägte sich die Stelle gut ein, für den Fall, dass er unerwartet doch länger fern bleiben würde.

Eine halbe Tagesreise trennte ihn von dem kleinen Städtchen mit dem vertrauten Kloster. Auch deshalb war es eher ungewiss, dass einer sich hierher verlief.

Gegen Mittag trat er durch das Stadttor. Es herrschte nur mäßiges Treiben auf den Straßen. Wie anderenorts auch waren die Meisten damit beschäftigt, die Arbeiten zu vollrichten, für die beim nächsten Wetterumschwung keine Zeit mehr bleiben würde. In zwei Wochen würde vieles hier anders aussehen. Hönnlin mochte diese Atmosphäre und ging deshalb nicht auf direktem Weg zum Kloster.

Hönnlin brachte seinen Esel zum Stall des Ordens. Dieser verdiente den Namen nicht wirklich, aber der Abt würde es ihm nicht verzeihen, wenn er sein Tier im Stall der Städter unterbringen würde. Hönnlins Esel war heute das einzige Tier im Stall, da das Kloster über keine Eigenen verfügte und nur jene seiner Gäste versorgte. Hönnlin wusste aber, dass dies mehr schlecht als recht geschah und versorgte es gleich selbst.

„Bruder Johannes! Meine Augen haben mich nicht getäuscht“, wurde Hönnlin von der Seite angesprochen, als er seinen Esel striegelte. „Was für eine Freude.“

„Bruder Matthias“, begrüßte Hönnlin seinen Ordensbruder und guten Bekannten. Sie hatten einige kleine Reisen gemeinsam bestritten, bevor der einige Jahre ältere Bruder Matthias hier schließlich hängen geblieben war. Aber von den Abenteuern der Anderen hörte er immer noch gerne und träumte sich dann mit auf Reisen. Wäre sein Rheuma nicht schlimmer geworden, wäre er wohl auch nicht sesshaft geworden.

Lange blieben die Beiden im Stall und tauschten sich aus. Es gab viel zu erzählen.

„Aber was bin ich dir ein Freund“, unterbrach Bruder Matthias sich selbst. „Ich frage dich aus und denk dabei nur an mich. Du hast sicher Hunger und ein wenig Rast wird auch dir nichts schaden. Komm ich bringe dich in die Küche.“

Hönnlin hatte nichts dagegen einzuwenden, und folgte der Einladung gerne. Die Küche war wie gewohnt spärlich ausgestattet und nun nach dem Mittagsessen menschenleer. Bruder Matthias legte ein Stück Holz auf die Glut im Ofen und kochte Hönnlin Haferbrei. Zur Feier des Tages griff Bruder Matthias in ein Gefäß mit den klostereigenen Rosinen und ließ diese im Haferbrei verschwinden.

Bruder Matthias setzte sich mit an den Tisch, aß selbst aber nichts. Stattdessen hielt er nun seinerseits Hönnlin Gespräch und unterrichtete ihn über das Wenige, das sich im Kloster zugetragen hatte, aber auch über das, was ihm von außerhalb zu Ohren gekommen war. Für Letzteres begeisterte er sich merklich inniger.

„Welcher Faulpelz wärmt sich da wieder am Herd“, wurde eine Stimme aus dem Flur herangetragen. „Oh, es wird gar gegessen!“ Die Stimme kam Hönnlin bekannt vor, aber es war das Temperament, das ihm verriet, wer gleich zur Tür hereintreten würde.

„Bruder Matthias, erklärt euch.“ Er sah Hönnlin erst jetzt und sah ihn prüfend an, da er ihn nicht gleich erkannte.

„Vater Andreas, Bruder Johannes ist von seiner langen Reise zurückgekehrt. Die Nächstenliebe verpflichtete mich, unserem Gast Rast und Verpflegung zuteil werden zu lassen.“

„Nun gut, meine Schuldzuweisung war unnötig“, ruderte der Abt zurück, zumal er sah, dass Bruder Matthias nichts vorzuwerfen war.

„Herzlich willkommen zurück, Bruder Johannes“, begrüßte der Abt Hönnlin reserviert. „War die Reise gesegnet?“ Hönnlin war dem Abt nicht verhasst, aber dieser betrachtete sein Treiben mit Argwohn. Er verachtete das Reisen. Er war vielmehr der Auffassung, dass das Leben eines Mönches innerhalb der Klostermauern vonstatten zu gehen hatte. Hier sollte er beten, schreiben, den Garten unterhalten und sich im Verzicht üben. Er war einer der wenigen Äbte, denen Hönnlin auf seinen Reisen begegnet war, die das ernst meinten und nicht nur ihren Mönchen auftrugen. Da Hönnlin das wusste, nahm er ihm sein kühles Benehmen nicht übel. Den Abt quälte nur ein Laster, wenn man es so nennen wollte, er liebte es neue Bücher lesen zu können, wohl aber nur jene, die mit der Kirche zu vereinen waren. Für ihn galt es als höchste Aufgabe daraufhin die Botschaft des Herrn kopieren oder übersetzen zu lassen und in die Welt hinaustragen zu lassen. Deshalb war dieses Kloster auch weithin bekannt für seine sorgsame Kopierwut. Das war auch der Grund, warum er Hönnlins Treiben widerwillig unterstützte, denn nicht wenige Schätze seiner Bibliothek verdankte er ihm und, wie der Abt es bezeichnete, anderen Abenteuern.

„Ich bin nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. An etlichen Stellen werden auch Kopien für das Kloster erstellt. Ihr könnt stolz auf die hiesige Bibliothek sein. Das Interesse an den Schriften, von denen ich berichten konnte, war groß“, erzählte Hönnlin nicht ohne Freude.

„Stolz ist ein falscher Freund“, belehrte Vater Andreas. „Aber es freut mich, dass die Schriften des Herrn auch in diesen fernen Gegenden Anklang finden.“

„Selbst in der Ferne ist Gott vielen nah“, stichelte Hönnlin, der damit seine Abenteuerlust verteidigte. Der Abt nickte stumm und spielte gedankenvertieft mit seinen Fingern.

„Ruht euch erst einmal aus“, fuhr der Abt fort. „Wenn ihr wollt, könnt ihr mir Morgen genauer von euren Reisen erzählen.“

Hönnlin war dieser Aufschub recht und so nutzte er den restlichen Tag, um durch das Kloster und seinen Garten zu streifen, während er alte Bekanntschaften auffrischte.

Am folgenden Morgen nahm der Abt Hönnlin gleich nach der ersten Andacht in Beschlag. Während die Brüder zum Frühstück gingen, folgte Hönnlin Vater Andreas nach einem kurzen Umweg in dessen Arbeitszimmer. Hönnlin war darauf vorbereitet gewesen und hatte den Ertrag seiner Pilgerfahrt bereitgestellt.

Es war ein etwas merkwürdiger Besuch. Wirklich gut kannten die Beiden sich nicht. Ihre Verbundenheit fußte fast nur auf ihre gemeinsame Ordenszugehörigkeit. Zwar war Hönnlin in all den Jahren öfters hier gewesen, doch meist nur für wenige Tag und zweimal für einige Wochen. Ihre Gespräche waren meist kurz und zweckgebunden. Vater Andreas hatte nie einen Hehl daraus gemacht, das Reisen von Mönchen nicht zu mögen, wenngleich er das Missionieren durchaus begrüßte. Hönnlin wusste nie recht, ob Vater Andreas sich des Widerspruchs bewusst war, oder ob es genau das war, worüber er sich eigentlich am meisten ärgerte.

„Wie lange beabsichtigt ihr zu bleiben?“, fragte der Abt unvermittelt, nachdem er sich alle Bücher und Schriften angesehen hatte und die beiden Bücher, die Hönnlin für dieses Kloster mitgebracht hatte, sorgsam in einem Schrank verstaute.

„Ich gedachte in meine Heimat zurückzukehren und mich ganz dem Klosterleben zu widmen.“

„Das freut mich zu hören. Ihr werdet sehen, eure Seele wird endlich Ruhe finden.“

Hönnlin nickte verständnisvoll. „Aber ich wollte die Alpen nicht vor Beginn des Sommers überqueren, darum wollte ich mich für wenige Wochen den Aufgaben hier stellen und wenn es möglich ist, solange hier bleiben.“

„Ihr seid stets willkommen und eine Bereicherung für das Kloster.“

Hönnlin fand, dass sich der Abt diesmal eigenartig benahm. Er war auch unruhiger als es Hönnlin von ihm kannte.

„Sind die Bücher fertig, um die ich gebeten hatte?“

„So weit ich weiß sind sie bereits seit Monaten fertig. Sie liegen für euch bereit.“ Der Abt war mit seinen Gedanken woanders.

„Dann wird es wahrlich Zeit, dass ich zurückkehre. Ich war nun etliche Jahre fort.“

„Darf ich um etwas Aufschub eurer Heimreise bitten?“

„Wenn es euer Wunsch ist.“ Hönnlin war gespannt, auf was der Abt hinaus war. Auf jeden Fall behagte es ihm nicht, Hönnlin das fragen zu müssen.

„Die Nonnen sind vor dem Winter mit einem Wunsch an mich herangetreten, den ich nicht abschlagen kann“, begann Vater Andreas schwerfällig.

Hönnlin wartete geduldig.

„Sie haben eine Novizin, die nach Frankreich muss. Dort soll sie ihr Französisch festigen, da sie des Italienischen nun mächtig ist.“

„Und jetzt sucht ihr sicheres Geleit?“

„Ja, die Nonnen wollen sie nicht unkultivierten Menschen in Obhut geben, erst recht nicht für eine solch lange Reise.“

„Sie ist wohlmöglich von großem Wert“, schlussfolgerte Hönnlin und aus dem Gesicht des Abtes konnte er lesen, dass er recht hatte.

„Jeder Mensch ist gleich viel wert!“, behauptete Vater Andreas mit gespielter Empörung, da er die Wahrheit weder aussprechen noch hören wollte.

„Die Nonnen können keine solche Reise unternehmen, es wäre für sie zu gefährlich.“

„Es ist für jede Frau gefährlich, erst recht, wenn sie wie Nonnen weithin als solche erkenntlich sind“, bestätigte Hönnlin. Er verstand die Nonnen nur allzu gut. Das Problem das Vater Andreas wegen dem Ganzen empfand, war eigentlich nur, dass er Hönnlin abermals in ein Abenteuer schickte.

„Ich nehme an, ich soll mit ihr alleine reisen und Sorge tragen, dass sie unbeschadet ankommt?“

„So ist es“, sprach Vater Andreas es erleichtert aus, nun da es heraus war.

Hönnlin dachte eine Weile nach.

„Ich bin für ihren Schutz verantwortlich?“, fragte Hönnlin nach.

„So ist es!“

„Als Novizin ist die Reise zu gefährlich. Für sie genau so wie für mich.“

Der Abt mochte das Wort gefährlich noch weit weniger hören als das Wort Abenteuer.

„Ich bin gerne dazu bereit, aber sie wird sich kleiden wie ein Mönch.“

„Das kommt nicht infrage!“, empörte sich Vater Andreas.

„Wenn euch ihr Schutz wichtig ist, werdet ihr dem zustimmen“, blieb Hönnlin ruhig.

Der Abt schüttelte hilflos den Kopf.

„Meinet wegen kann sie die Stadt als Novizin verlassen und als Novizin wird sie ankommen. Aber dazwischen trägt sie Mönchskleidung.“

Der Abt dachte darüber nach.

„Es bleibt unser drei Geheimnis. Es dient einzig ihrem Schutz“, versprach Hönnlin.

„Es ist eine Sünde, ein Leben unnütz in Gefahr zu setzen. Der Herr wird über euch wachen, aber ihr sollt ihn nicht auf die Probe stellen. Clara wird die Stadt als Novizin verlassen. Gott allein weiß was danach passiert.“

„Wann soll die Reise beginnen?“, fragte Hönnlin.

„In etwa einem Monat. Noch ist es zu kühl.“

„Dann bereite ich alles vor“, nahm Hönnlin die Aufgabe an. Für ihn spielte es keine Rolle, dass ihm ein Umweg auferlegt wurde. Dann würde er eben über Frankreich reisen. Hier war das Gebirge ohnehin leichter zu überqueren.

Gute drei Wochen nach Hönnlins Ankunft im Kloster schwang das Wetter um, und es wurde spürbar wärmer. An einem Montagsmorgen standen die Äbtissin und Clara beim Abt im Arbeitszimmer. Hönnlin war dorthin bestellt worden, damit sich die Äbtissin ein Bild von ihm machen konnte.

Neben Clara vertraute sie ihm auch eine fest eingepackte Kiste an. Vater Andreas musste davon gewusst haben, denn er war keineswegs überrascht.

„Darin ist ein Brief für die Äbtissin. Auch sind Bücher darin für deren Bibliothek. Gebt gut darauf Acht.“

Hönnlin versprach Clara und die Bücher vor allem zu schützen, soweit es in seiner Macht lag, den Rest würde er Gott anvertrauen. Hönnlin konnte sich nun sicher sein, dass Clara aus einer reichen Familie stammte. Die Bücher waren die Bezahlung der Ausbildung. Vielleicht hatte auch die Äbtissin selbst entscheiden, das erhaltene Geld gegen Bücher einzutauschen.

Am Morgen danach reisten sie ab. Doch es würde länger dauern als Hönnlin gedacht hatte. Clara war es untersagt worden, zu reiten und so verließen sie die Stadt mit nur einem Esel. Zumindest in einer Sache hatte Hönnlin aber Glück. Clara schien keineswegs verängstigt, wie er es von einer Novizin erwachtet hätte. Vielmehr konnte Hönnlin in ihr das Fernweh erkennen und er spürte, dass sie sich auf die Reise freute. Die Mahnungen und Anweisungen der Äbtissin ließ sie geduldig über sich ergehen. Als sich die Nonne umdrehte und mit gemessenem Schritt fortging, glaubte Hönnlin ein Anflug von einem Lächeln zu erkennen. Doch als sie seinen Blick auffing, gefror ihr Gesicht und sie sah zu Boden. Als sie die Stadtmauern hinter sich ließen, verrieten ihre Augen ihr versteckte Vorfreude. Hönnlin musste schmunzeln. Deshalb hatte sie wohl auch so schüchtern den Blick gesenkt gehalten. Sie hatte wohl befürchtet, dass ihre Freude ihr anzusehen wäre.

„Du freust dich aber viel“, brach Hönnlin das Schweigen.

„Ich reise gerne“, gestand Clara nach anfänglichem Zögern.

„Das ist aber selten für eine Novizin.“ Hönnlin sah prüfend zu ihr herab.

„Gott hat sich nicht so viel Mühe gegeben, die Welt zu erschaffen, damit wir alle im Kloster bleiben“, lächelte sie ihn frech an. Das war eindeutig nicht das erste Mal, dass sie diese Antwort gab.

Hönnlin nickte anerkennend und konnte sich lebhaft vorstellen, dass die Nonnen es nicht immer einfach mit Clara gehabt haben mochten.

Hönnlin bemerkte wie Clara den Horizont mit ihren Blicken abtastete. Zwar verbot sie sich wohl ruckartige Bewegungen, doch auch so viel es ihm auf. Ihm selbst erging es nicht anders, wenn er lange an einem Ort verweilt hatte. Alles in ihm sehnte sich dann danach etwas Neues zu sehen und das Weite vor sich zu entdecken.

„Du fragst gar nicht, wie lange wir unterwegs sein werden?“

„Das tut nur, wer es eilig hat“, antwortete Clara sorglos.

„Und du hast es nicht eilig?“, neckte Hönnlin.

„Ich“, begann Clara. „Ich bin Novizin, ich muss nicht alles wissen“, versteckte Clara sich hinter einer Aussage, die nicht die ihre war.

Hönnlin versuchte sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Während der nächsten Stunde sprach keiner ein Wort.

„Warum gehen wir in östlicher Richtung?“, fragte Clara nachdem sie bereits eine Weile abgebogen waren.

„Woher kennst du die Himmelsrichtung?“, wunderte sich Hönnlin.

Clara sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Sie antwortete aber nicht darauf. Wahrscheinlich konnte sie Hönnlin nicht genug einschätzen.

„Na gut“, lenkte Hönnlin ein. „Es ist nur ein kurzer Umweg. Ich habe noch etwas zu erledigen.“

Hönnlin wartete auf eine weitere Frage, doch die blieb aus.

Vom Umweg unbekümmert schritt sie weiter und ließ ihren Blick hin- und her schweifen. Sie merkte aber, dass Hönnlin sie beobachtete und erwiderte einige Blicke mit einem zarten Lächeln.

Hönnlin ging etwas langsamer, als wenn er alleine unterwegs gewesen wäre. Er wollte Clara nicht gleich am ersten Tag überfordern. Er fürchtete Klagen während der restlichen Reise hören zu müssen. Doch auch hierin überraschte ihn Clara.

Noch etlichen Stunden erkannte er das Waldstück wieder, das er sich eingeprägt hatte.

„Hier werden wir den Weg verlassen“, setzte Hönnlin an. Clara blickte ihn neugierig an. „Ich habe hier etwas zurückgelassen, was ich nun wieder abhole“, erklärte Hönnlin, um Clara nicht unnötig zu verängstigen.

Clara nickte stumm und hielt ihre Fragen für sich. Doch es war keine Spur von Angst in ihren Zügen zu erkennen. Wahrscheinlich hatte sie der Äbtissin geglaubt, dass sie ihm vertrauen konnte. Vielleicht war sie aber auch stets so behütet gewesen, dass sie glaubte, jedem vertrauen zu können. Hönnlin nahm sich vor sie später während der Reise darauf anzusprechen. In dieser Welt konnte man nicht vorsichtig genug sein, besonders als junge Frau.

Wie zu erwarten hatte sich der Wald in den wenigen Wochen beachtlich gewandelt und ein neues Kleid angelegt. Zum Glück hatte sich Hönnlin markante Bäume eingeprägt und so fand er zielsicher seine einstige Lagerstelle. Clara achtete nicht auf den Weg. Sie war fasziniert von all den Tieren, denen sie begegneten und die sie aufschreckten. Einige sah sie wohl zum ersten Mal bewusst. Hönnlin freute sich über die großen Augen, die sie dabei machte und erklärte ihr, was er wusste. Auch maß er seine Schritte bedächtig ab, um weniger Lärm zu verursachen. Doch sein Esel erinnerte sich an seinen störrischen Charakter und machte alles zunichte. Ihm gefiel es nicht, ständig stehen bleiben zu müssen und gab das lauthals kund. Unzählige Vögel flogen in den Himmel und weithin nahmen die Waldbewohner Reißaus oder versteckten sich.

„Dummer Esel“, schüttelte Hönnlin den Kopf.

Clara lachte nur.

„Komm, du kannst mir suchen helfen. Hier irgendwo müsste eine alte Feuerstelle sein. Wahrscheinlich sind nun Blätter darüber.“

Mit freudiger Aufregung half Clara beim Suchen. Hönnlin wusste in etwa, wo die Stelle sein musste, doch er ließ Clara sie finden.

„Hier ist sie“, rief Clara mit für eine Novizin unangebrachter Begeisterung.

Als Hönnlin sich umdrehte, waren die Blätter bereits weggewischt. Die Asche war größtenteils weggeweht und nur mehr grobe Stücke und geschwärzte Erde verrieten das einstige Lagerfeuer.

Hönnlin nahm seine kleine Schaufel und wollte ansetzen das Loch erneut auszuheben, doch Clara bettelte förmlich darum, es selbst tun zu dürfen.

Er wollte sie ermahnen vorsichtig zu sein, doch dazu ließ ihm Clara keinen Grund. Clara schien die geborene Schatzsucherin zu sein. Nur vergaß sie schnell ihr Novizinnentracht und so musste Hönnlin deswegen ihre Abenteuerlust zügeln.

Vorsichtig hob Clara das in Leder eingewickelte Paket hervor und wischte vorsichtig, beinahe andächtig, die anhaftende Erde ab. Nach kurzem Betrachten reichte sie es Hönnlin, ohne zu wagen es zu öffnen.

Hönnlin sah sie eine Weile ins Gesicht und auch wenn Clara es schaffte seinen Blick zu erwidern, stellte sie keine Frage, auch wenn ihre Neugier geweckt war.

„Du möchtest nicht wissen, was darin ist?“, neckte Hönnlin, da es ihm egal sein konnte, wenn sie es wusste.

„Doch“, lachte Clara. „Aber sie werden es kaum hier verstecken, wenn sie möchten, dass jeder weiß, was sie haben.“

„Ja, das stimmt wohl“, zeigte sich Hönnlin beeindruckt. „Du hast einen wachen Geist.“

Clara lächelte zufrieden und schloss das Loch.

„Aber ich möchte überprüfen, ob alles unbeschadet ist und ich habe das Gefühl, dass mein Geheimnis bei dir gut aufgehoben ist.“ Clara würde nichts verraten können, denn in Frankreich würde er das letzte Mal als Bruder Johannes einkehren.

Es waren rund zwei Dutzend Schriften, die Hönnlin hier vergraben hatte, davon waren aber nur die Hälfte als Bücher zu bezeichnen. Auch zwei Schriftrollen waren darunter und ansonsten waren es notdürftig zusammen gebundene Zeichnungen und Texte.

Abermals konnte er sich an Claras großen Augen erfreuen und er ließ sie bereitwillig hineinschauen.

„Aber das kann man doch nicht lesen, oder?“, wollte Clara verwundert wissen, als sie arabische Texte sah.

„Doch, aber es ist eine andere Schrift wie die unsere. Das ist die arabische Schrift“, erklärte Hönnlin.

„Es gibt mehrere Schriften?“ Davon hatte sie noch nie gehört.

„Ja, viele“, bestätigte Hönnlin. „Aber frag mich nicht wie viele.“

„Aber“, wunderte sich Clara, „es gibt doch schon unterschiedliche Sprachen und alle die ich kenne haben die gleiche Schrift. Wie kann das sein?“

„Nun die Schrift ist wohl an vielen Orten gleichzeitig entwickelt worden und deshalb gibt es in vielen Regionen unterschiedliche Schriften. Bei uns hat sich wohl für viele Länder nur eine Schrift behaupten können.“ So recht wusste Hönnlin hierauf auch keine Antwort.

„Aber es ist schon schwer genug eine andere Sprache zu lernen. Wie soll das gehen, wenn man auch noch eine andere Schrift lernen muss?“, versuchte Clara sich die Mühe vorzustellen. „Können sie das lesen?“

„Ja, aber es fällt mir schwer. Aber nur so kann man ganz neue Dinge lernen.“

„Was für Dinge?“, wollte Clara wissen.

„Andere Kulturen, andere Vorstellungen aber auch Erfindungen in Medizin oder in der Kunst des Bauens.“

Clara machte große Augen und blickte Hönnlin sprachlos an.

„Aber warum haben sie die hier versteckt?“, fragte Clara nach einer Weile, als Hönnlin dabei war sie einzupacken. „Im Kloster wären sie doch viel besser geschützt und da könnte jeder sie lesen.“

„Glaubst du das?“, antwortete Hönnlin mit einer Gegenfrage.

Die Frage machte Clara nachdenklich und so antwortete sie nicht gleich darauf.

„Ich habe dir etwas noch nicht gesagt, weil keiner außer dir es wissen darf.“

Clara runzelte die Stirn während Hönnlin zum Esel ging und in einer Tasche kramte.

„Hier habe ich noch eine Mönchskutte und ich möchte, dass du die während der Reise trägst.“

„Wieso? Was ist an meiner Kleidung nicht gut“, fragte Clara verwundert. Aber sie wirkte keineswegs schockiert, so wie Hönnlin es erwartet hatte.

„Hier draußen ist eine andere Welt als in einem Kloster, oder selbst in der Stadt. Hier ist es gefährlich als Mädchen herumzulaufen. Du bist weithin als einfaches Opfer erkennbar. Als zwei Mönche werden wir weniger Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“

Clara verstand das nicht ganz, aber sie glaubte ihm.

„Na gut, mir gefällt die Novizinnentracht ohnehin nicht“, lachte sie und schlug sich dann die Hand auf den Mund.

„Keine Angst, das bleibt unser Geheimnis“, lächelte Hönnlin belustigt. „Ich schätze ehrliche Meinungen.“

Clara brannte eine Antwort auf der Zunge, aber sie wagte nicht sie auszusprechen. Aber auch so wusste er, was sie sagen wollte und konnte sie nur allzu gut verstehen.

Hönnlin reichte ihr die Kleidung und Clara ging fort, sich umziehen. Als sie zurückkehrte hatte sie die Kapuze aufgesetzt, grinste frech und freute sich diebisch. Wahrscheinlich stellte sie sich das Gesicht der Äbtissin vor, wenn diese sie so sehen würde.

„Wir können nun den Weg zurück zur Kreuzung gehen“, begann Hönnlin und versuchte seinerseits ein Grinsen zu unterdrücken, „oder wir gehen auf direktem Weg durch den Wald. Du entscheidest.“

„Durch den Wald“, antwortete Clara prompt und spielte mit den ungewohnt weiten Ärmeln ihrer Kutte.

„Du bist mir eine Novizin“, lachte nun Hönnlin und konnte sich nicht mehr halten.

Clara versuchte eine Unschuldsmiene aufzusetzen, doch vergebens, und so fiel sie mit in sein Lachen ein. Doch aus irgend einem Grund fühlte sich das richtig an. Hönnlin war nicht so wie die anderen Mönche und erst recht nicht wie die Nonnen, die sie kannte.

Hönnlin schlug nicht den direkten Weg ein. Stellenweise war der Wald zu dicht und so folgten sie den Pfaden von Wildschweinen und anderem Getier. Er schwor Clara darauf ein, dass sie weglaufen sollte, wenn sie ein Wildschwein mit Jungen zu sehen bekämen. Von der Abenteuerlust, die sie nun voll und ganz durchströmte, enthemmt, demonstrierte sie ihm auch gleich ihr Können, was das Klettern anbelangte.

„Etwa so“, strahlte Clara ihm aus vier Metern Höhe entgegen.

„Genauso!“ Hönnlin hatte die Arme in die Seite gestemmt, weil er sich in der Pflicht gesehen hatte zu protestieren, doch er brachte es nicht fertig. Sein resignierendes Kopfschütteln galt genauso viel sich selbst, wie auch Clara. „Wer hat dir das alles beigebracht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das neuerdings im Kloster lernt.“

„Ich musste mich einige Male verstecken“, berichtete Clara mit einer Unschuldsmiene, dass Hönnlin abermals lachen musste. Nein, er war wirklich nicht mehr für das Klosterleben gemacht. Ihm fehlte der notwendige Ernst.

„Das kann ich mir bei dir lebhaft vorstellen, wobei einige Male wohl auch anders zu nennen wäre?“

„Manchmal bin ich auch artig“, protestierte Clara entrüstet.

„Du meinst, dass du dich manchmal nicht hast erwischen lassen?“

„Ist doch das Gleiche!“, stellte sich Clara beleidigt und kletterte geschickt hinab. Unten angekommen verdrehte sie die Augen und ging an Hönnlin vorbei als wollte sie nichts mehr hören.

„Du hast mir wirklich noch gefehlt“, lachte Hönnlin.

Clara blieb kurz stehen, grinste frech und nickte als Bestätigung bevor sie weiter ging.

Hönnlin blieb stehen und lächelte schwermütig. „Armes Ding, was machst du in einem Kloster?“, flüsterte er zu sich selbst. Er atmete tief aus und folgte Clara, die inzwischen etliche Meter voraus war.

Bis zum Abend hatten sie den Rand des Waldes noch nicht erreicht. Es gab für Clara viel zum Staunen und im Gegensatz zum Vormittag legten sie vermehrt Rast ein. Keiner der Beiden hatte es eilig und so sah Hönnlin es auch nicht ein, sich unter Zeitdruck zu setzen. Während Clara das Abenteuer genoss, bot es Hönnlin Gelegenheit, über das Leben nachzudenken, das er bald führen würde. Er hatte schon lange darüber nachgedacht, aber jetzt war es bald soweit. Er war sich seines Entschlusses sicher, aber es lag doch viel im Ungewissen. Und schließlich war es auch nicht so, dass das Leben, das er hinter sich ließ, ihm verhasst wäre. Er hatte viel gelernt, viele bewundernswerte Menschen kennen gelernt, von denen Einige ihn auch nicht unwesentlich geprägt hatten. Aber das Leben, das er bis eben führte, schaffte es nicht mehr ihn zu erfüllen. Stellen in ihm waren leer, während er viel Zeit damit verbringen musste, Dinge zu tun, von denen er nicht überzeugt war. Genau von diesem Ballast wollte er sich lossagen. Aber er würde auch Freunde zurücklassen. Viel Vertrautes und auch Sicherheit würde ihm verloren gehen. Es war nicht so, dass ihm dies Angst machen würde, aber es beschäftigte ihn doch, nun da es bald soweit war. Vielleicht zeigte er sich Clara auch deshalb so offen. Er löste bereits die ersten Bande und bald gab es kein Zurück mehr, denn die Worte, die er sprach, würden ihn irgendwann einholen.

Die verborgenen Geheimnisse

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