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Der Nussbaum

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Im Wald vor ungewünschten Blicken geschützt, saßen Hönnlin und Clara an einem gemütlichen Lagerfeuer. In der Nacht konnte es doch noch empfindlich kalt werden, zumal wenn man, wie Clara, es nicht gewohnt war im Freien zu schlafen. Zum Glück mussten sie keinen Hunger leiden, denn die Äbtissin hatte für reichlich Proviant gesorgt. Zudem verstand sich Hönnlin darin, aus Wenig eine schmackhafte Suppe zu kochen. Durch das viele Reisen war das zu einer Gewohnheit geworden, weil nichts besser wärmte als eine warme Suppe. Clara war gegen Abend hin doch müde geworden, auch wenn sie sich wesentlich besser geschlagen hatte, als Hönnlin hätte hoffen können. Aber gleich wie erschöpft sie sein mochte, so hatte sie kein Wort der Klage von sich gegeben. Hönnlin hatte nur bemerkt, wie ihre Schritte schwerfällig wurden und so den Entschluss gefasst, ein Lager aufzuschlagen.

Hönnlin ging zu seinem Esel und brachte einen neugefüllten Sack Wallnüsse zum Vorschein. Eine nahm er heraus und pflanzte sie in der Mitte der kleinen Lichtung nicht unweit vom Feuer.

„Wieso machen sie das?“ Clara folgte Hönnlin interessiert mit ihren Blicken, war aber, nun da sie saß, zu müde um aufzustehen.

„Viele sagen es wäre an Gott, sich um alle zu sorgen. Doch das glaube ich nicht. Vielmehr denke ich, dass Gott uns die Welt zur Verfügung gestellt hat. Es ist die Natur, die dafür sorgt, dass alle satt werden, und wir mit unserer Arbeit.“

„Aber warum pflanzen sie einen Baum mitten in den Wald?“, rätselte Clara. „Hier sieht ihn doch niemand.“

„Niemand, der in den Dörfern und Städten lebt.“

„Dann helfen sie den Abtrünnigen?“, wunderte sich das Mädchen.

„Ein ziemlich böses Wort um die zu beschreiben, die du nicht kennst. Findest du nicht?“

„Aber es sind doch welche“, wagte sie es nicht nochmal, das Wort in den Mund zu nehmen. Zeitlebens hatte sie nur dieses Wort für die Menschen gehört, die so lebten.

„Aber kennst du ihre Geschichte?“

Clara wollte mit einer Antwort ansetzen, überlegte und schüttelte dann nachdenklich den Kopf.

„Nun, wie würdest du einen Familienvater nennen, dessen Frau schwer krank wird und er seine Steuerschuld nicht zahlen kann, weil er sie pflegen und sich alleine um zwei junge Kinder kümmern muss und dadurch sein Landrecht verliert und nichts mehr zum Leben hat?“

Clara zuckte mit den Schultern.

„Wie nennst du einen jungen Mann, der mit verdrehten Armen zur Welt gekommen ist, nicht arbeiten kann und von seiner Familie verstoßen worden ist?“

Abermals zuckte Clara mit den Schultern und musste kräftig schlucken.

„Wie nennst du eine Frau, die von ihrer Familie in ein Kloster gesteckt wurde, weil diese keine Verwendung für sie hat, die Frau aber aus dem Kloster flieht, weil sie nicht für dieses Leben gemacht ist?“

Clara starrte Hönnlin an. Dann blickte sie neben sich auf die Erde und schwieg. Hönnlin setzte sich neben sie ans Feuer und las in einem seiner Bücher.

„Dann sind sie nicht böse?“, fasste Clara nach einiger Zeit ihre Verwirrung zusammen.

„Sie sind nicht alle gut, und du solltest keinem vorschnell trauen. Aber viele sind zu dem geworden, zudem wir sie gemacht haben. Richte nie über einen Menschen, dessen Geschichte du nicht kennst.“

Wieder schwieg Clara und Hönnlin las weiter.

„Aber der eine Baum wird nichts ändern.“

„Nein, vielleicht nicht. Aber wenn er in den kommenden hundert Jahren nur einen vor dem Verhungern rettet, dann war er es wert.“

Clara blickte zum Esel hinüber und erinnerte sich an den gefüllten Sack.

„Aber es ist nicht der eine Baum?“

„Eine Nuss an jedem Abend an dem ich unterwegs bin.“

Clara versank in Gedanken.

„Aber es ist verboten ihnen zu helfen“, sprach Clara den Konflikt aus, der in ihr immer wieder auftauchte.

„Ja, ist es“, gestand Hönnlin offen.

„Aber warum?“

„Weil Angst eine Waffe ist.“

„Das verstehe ich nicht.“ Clara war an diesem Abend so verwirrt wie noch nie zuvor.

„Um arme Menschen unter Kontrolle zu halten, muss du eine Situation schaffen, wo sie noch weniger haben können und vor der sie Angst haben. Genau das ist die Aufgabe der Abtrünnigen. Je schlechter es diesen geht, je mehr sich die Menschen vor ihnen fürchten, umso eher sind sie bereit alles Andere zu erdulden.“

„Aber das ist ungerecht!“, protestierte Clara. „Warum tut die Kirche nichts dagegen?“

Hönnlin sah Clara innig an, antwortete aber nicht.

„Oder weiß sie es nicht?“, klammerte sie sich an die einzige Schlussfolgerung, die für sie Sinn ergab. „Sie müssen es ihr sagen.“

„Ich muss es ihr nicht sagen. Sie weiß es.“

„Aber“, setzte sie an und fand keine Worte.

Es war eine unruhige Nacht für Clara. Nicht nur, weil ihr die Geräusche des Waldes im Dunkeln unheimlich waren, sondern vor allem wegen ihrer Gedanken. Sie beschäftigte weit mehr Fragen, als sie gewagt hatte zu stellen. Sie hatte sich nie so benommen, wie die Nonnen es von ihr gewünscht hatten. Risse erschienen in dem Gerüst, indem sie sich bewegte und in dem sie dachte. Wollte Hönnlin sie nur testen. Log er, um ihren Glauben auf die Probe zu stellen. Aber was wenn er Recht hatte? Und was bedeutete es für sie, wenn sie wusste was Hönnlin offenbar wusste? Würde Hönnlin es in Frankreich verraten, wenn sie nun infrage stellte, was nicht infrage zu stellen war? Dabei fühlte es sich richtig an, mit ihm offen zu reden. Sie fühlte sich ihm näher als allen, die sie kannte. Selbst ihrer Mutter, die sie zweimal besucht hatte, fühlte sie sich nicht so nahe.

Hönnlin war längst wach, als Clara etwas wiederwillig die Augen öffnete. Er hatte das Feuer angefacht und einen Tee gekocht.

Es war bereits eine Weile hell, doch die feuchtkalte Luft der Nacht hatte sich in ihre Decke und ihre Kleider geschlichen. Deshalb richtete sie ihren Oberkörper auf und setzte sich näher ans Feuer. Hönnlin reichte ihr eine selbstgeschnitzte Holztasse mit wärmendem Tee.

„Wie hast du geschlafen?“, fragte Hönnlin dem aufgefallen war, wie unruhig Clara gelegen hatte. Sie zuckte unschlüssig mit den Schultern.

„Deine erste Nacht im Freien?“

Nach anfänglichem Zögern schüttelte sie den Kopf.

„Nein?“

„Ich bin einmal aus dem Kloster weggelaufen“, blickte Clara schuldbewusst drein.

„Und?“

„Nach drei Tagen bin ich zurück gegangen, weil ich Hunger hatte“, grinste Clara verlegen.

„War jemand böse zu dir?“ Hönnlin verurteilte sie nicht dafür.

„Nicht wirklich.“ Schon wieder so ein verwirrendes Gespräch, dachte sie.

„Nein?“, hackte Hönnlin nach.

„Ich“, zögerte sie. „Mir gefiel es nicht im Kloster. Immer wenn ich etwas wissen wollte, sagten sie mir, ich sei dumm und böse.“ Sie blickte Hönnlin direkt ins Gesicht, doch sie erkannte dort keine Verärgerung.

„Es ist nichts Böses daran, mehr wissen und verstehen zu wollen.“ Hönnlin sah Clara mitfühlend an.

„Aber warum sagen sie das?“, wagte sich Clara weiter vor.

„Angst“, antwortete Hönnlin prompt. „Angst vor Wissen, das mit der Religion nicht zu vereinen ist.“

„Aber ist die Religion nicht richtig?“, fragte Clara erschrocken.

„Der Glaube ist richtig! Der Glaube lässt sich auch nicht von Wissen erschüttern, aber die Religion ist ein Mantel, den die Menschen erfunden haben und über den Glauben gestülpt haben.“

Clara starrte Hönnlin entgeistert an. Dabei hatte sie von Ungläubigen gehört, aber diese Worte aus dem Munde eines Mönches zu hören, schockierte sie. Es brachte Grundfeste ins Wanken von denen sie geglaubt hatte, dass sie unumstößlich seien.

„Aber Sie sind Mönch!“, versuchte Clara an ihrer Weltordnung festzuhalten.

„Ja, das bin ich“, nickte Hönnlin nachdenklich. „Aber ich werde die Mönchskutte bald ablegen“, gestand er, weil er es endlich ausgesprochen haben wollte.

Das war zuviel für Clara und so fiel sie in Schweigen. In ihrem Kopf schossen die Fragen nur so umher. Ebenso flogen die Aussagen der Nonnen durch ihren Kopf. Man müsse den Prüfungen des Teufels widerstehen, sagten sie immer wieder. War dies nun eine solche Prüfung? Musste sie zeigen, dass sie und ihr Glaube stark waren? Musste sie Hönnlin auf den rechten Weg zurück führen?

Selbst eine Stunde nach ihrem Aufbruch, war noch kein unnötiges Wort gefallen. Doch nun brach Hönnlin das Schweigen, auch aus Angst, sie zu sehr verstört zu haben. Er war sich auch schnell bewusst geworden, dass er den Samen des Zweifels in ihren Kopf gesetzt hatte, der ihr die verbleibende Zeit im Kloster unnötig schwer werden ließ. Er hätte besser darüber nachdenken sollen.

Darum wählte er seine Worte nun mit Bedacht und mied verfängliche Themen. Er zeigte ihr Pilze und Kräuter und erklärte ihr, welche man essen konnte und für was sie hilfreich sein mochten. Auch machte er auf die Spuren von Tieren aufmerksam.

Obwohl Clara mehr und mehr sprach, so konnte Hönnlin an ihrer Nachdenklichkeit nichts mehr ändern. Sie war tief aufgewühlt und Hönnlin bereute es, so offen mit ihr gesprochen zu haben. Es war egoistisch von ihm gewesen. Für ihn war es eine Erleichterung, doch für Clara war es eine Last, die zu schwer für sie war. In ihr herrschte Rebellion und zum Teil war es Hönnlins Rebellion, die mit tobte, aber in Clara fand diese zu wenig Widerstand.

Es gab einen Ausweg, aber den konnte er Clara unmöglich antun. Stattdessen versuchte er sie bestmöglich abzulenken und die Reise für sie so interessant wie möglich zu gestalten.

Wirklich schwierig fiel das Hönnlin nicht, da sich Clara von der Natur rasch faszinieren ließ. Auch lernte sie schnell und stellte viele Fragen. Kein Wunder, dass die Nonnen mit ihr überfordert waren, dachte Hönnlin mehr als einmal.

Die verborgenen Geheimnisse

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