Читать книгу Die verborgenen Geheimnisse - Marc Lindner - Страница 5
Ells Vater
ОглавлениеIsmar war spät dran und er wusste das. Ebenso wie er um den Ärger wusste, der ihm drohte, da er beim Abendessen nicht erschienen war. Aber zumal im Sommer vergaß er abends schnell die Zeit, weil es nicht früh dunkel wurde. Nach seinem Unterricht war er gleich hinunter zu Caspar gelaufen, weil der sich um die Erweiterung des Stalles kümmerte. Die steinernen Wände des Erdgeschosses waren fertig und jetzt arbeitete er daran, die hölzerne Decke zu verlegen. Darauf wollte er noch ein niedriges Obergeschoss aus Holz bauen, damit sie hier eine kleine Werkstatt bekamen, nur um Geschirr und Sattel zu pflegen. Seid Caspar vom Pferd getreten worden war, suchte er sich gerne andere Arbeit, auch wenn er keine Angst vor Pferden hatte. Wahrscheinlich legte er deshalb selbst soviel Hand beim Bau des Stalles an.
Zwar behauptete er fleißig, der Schreiner würde Wucherpreise fragen, aber keiner kaufte ihm das ab. Dennoch machte es Ismar höllisch Spaß, Caspar zu helfen, vielleicht auch deshalb weil der Schreiner und Caspar bisweilen unterschiedliche Sichtweisen besaßen, wie gebaut werden sollte.
Eigentlich war es reiner Zufall gewesen, dass Ismar daran gedacht hatte, nach Hause zu müssen. Schreie hatten ihn und Caspar aus ihrem Eifer gerissen. Bei dem Gedanken, wer dort Ärger bekam, fühlte sich Ismar an jenen erinnert, der ihm nun drohte. Dabei, ganz so schlimm war es nicht, denn er hatte bereits zweimal diese Woche Strafen bekommen und die arbeitete er eben bei Caspar ab. Aber dennoch, das musste nicht sein. Ismar fürchtete, dass sein Vater bald dahinter kommen würde, dass dies keine Strafe war.
Er beeilte sich nach Hause zu kommen, deshalb fiel ihm nicht gleich auf, welche Hektik auf den Straßen herrschte. Ständig rief ein Anderer und Menschen liefen kreuz und quer. Das war mehr als merkwürdig an einem Abend eines so gewöhnlichen Tages. Ismar wollte wissen, was da los war, doch er wagte nicht langsamer zu werden. Doch dann wurde ihm das Treiben zu bunt. Die Menschen, die ihm entgegen strömten benahmen sich sonderbar.
Plötzlich sah er Wilbolt, Ells Vater, auf ihn zulaufen. Da musste etwas passiert sein. Ells Vater lief nie. Ismar wollte ihn ansprechen, doch Wilbolt kam ihm zuvor. Er machte hektische Gesten als wollte er Ismar verscheuchen. Verdutzt blieb Ismar stehen.
„Komm“, hauchte Wilbolt. „Du musst hier weg.“ Er griff im Laufschritt Ismars Arm und zerrte ihn mit sich fort.
„Was ist los? Ich muss nach Hause!“
„Jetzt nicht“, presste Wilbolt zwischen den Zähnen hindurch und versuchte so wenig wie möglich Aufmerksamkeit zu erregen. Er blickte sich prüfend um, als suchte er etwas, oder jemanden.
„Ich erklär es dir unterwegs“, beschwichtigte Wilbolt, als er Ismars Widerstand spürte. „Du musst mir vertrauen!“
Eigentlich müssten die Beiden weithin auffallen, doch in der ganzen Aufregung nahm keiner von ihnen Notiz.
„Du darfst nicht gesehen werden! Vertrau mir.“ Wilbolt hielt mit eiligen Schritten auf das Stadttor zu. Wilbolt hatte ihm noch nie das Gefühl vermittelt, ihm vertrauen zu müssen. Zumal Ismar ihn meist verärgert hatte, weil er Ell vor ihm geschützt hatte. Dennoch klang Wilbolt ehrlich besorgt. Entweder das, oder der Umstand, dass alle so aufgeregt waren, sorgte dafür dass Ismar sich fügte und mit Wilbolt die Stadt verließ.
„Was ist los? Warum sind alle so durchgedreht?“, verlangte Ismar zu wissen als sie in einiger Entfernung zur Stadtmauer waren. Sie waren nicht alleine auf der Straße, aber außer Hörweite der Anderen.
Wilbolt zögerte und zog Ismar weiter.
„Komm weiter. Ich erklär es dir, aber du musst weiter gehen“, lenkte Wilbolt ein, als Ismar abermals versuchte stehen zu bleiben.
„Du musst mir versprechen nicht zu schreien und auf keinen Fall darfst du zurücklaufen!“, begann Wilbolt.
Ismar zögerte. Wenn Wilbolt so anfing, dann würde er mit Sicherheit zurück wollen.
„Versprich es mir!“, beharrte Wilbolt.
„Ich verspreche es“, presste Ismar widerwillig aber ungeduldig hervor.
„Es sind Verräter in der Stadt“, begann Wilbolt endlich. „Sie haben deine Eltern vergiftet.“
„Nein“, rief Ismar und drehte sich um. Wilbolt hatte die Bewegung vorausgeahnt und griff ihn mit seinem starken Arm. Er hob ihn hoch und drückte ihm eine Hand auf den Mund.
„Du kannst nichts tun, Junge. Sie sind auch hinter dir her. Sie dürfen nicht wissen, wo du bist!“
Vorsichtshalber ließ er die Hand auf Ismars Mund. Denn auch er war in Gefahr, wenn sie wussten, dass er Ismar bei sich versteckte. Und das Schlimme daran war, dass er nicht einmal wusste, wer sie waren.
„Wer auch immer das war, er will, was dir zusteht. Ich habe gehört, dass zwei Männer sich nach dir erkundigt haben. Sie dürfen dich nicht finden.“ Wilbolt spürte wie Ismars Widerstand nachließ und so entfernte er seine Hand. Er behielt ihn aber weiterhin auf dem Arm, denn er kannte seinen Eigenwillen zur Genüge.
„Ich bringe dich zurück, sobald es für dich sicher ist.“
„Sind sie tot?“, fragte Ismar und spürte Tränen seine Wangen hinunterlaufen.
„Soweit ich weiß, ja. Ich habe es nicht selber gesehen.“
Ismar sprach seine Hoffnung nicht aus.
„Ich gehe Morgen früh zurück in die Stadt und werde mich umhören. Wen soll ich fragen, was mit dir geschieht?“
Ismars Gedanken überschlugen sich.
„Was ist mit meiner Schwester? Was ist mit Elisabeth?“
„Ich habe sie nirgends gesehen. Aber ich habe auch nur nach dir gesucht.“ Wilbolt dachte nach. „Aber außer deinen Eltern schien keiner vergiftet worden zu sein.“
Wilbolt merkte, dass das wenig beruhigend war.
„Wahrscheinlich hat auch jemand sie versteckt. So wie ich dich.“
Ismar murmelte unverständlich.
Als Ismar am folgenden Morgen in Wilbolts Haus aufwachte, hatte er das Gefühl, kein Auge zugemacht zu haben. Dennoch war er hellwach und wollte unbedingt in die Stadt. Doch Wilbolt ließ es nicht zu, und so blieb Ismar bei Ell und ihrer Mutter zurück, während Wilbolt in aller Früh in die Stadt ging. Er würde versuchen, zu Ismars Hauslehrer zu gelangen und sollte er daran gehindert werden, sollte er sich an Caspar wenden, weil dieser durchgelassen würde.
Obwohl Wilbolt bereits am frühen Mittag zurück kehrte, wurden es lange Stunden für Ismar. Das erste Mal wollte er sich die Zeit nicht durch Arbeit vertreiben und durch nichts was sich Ell oder ihre Mutter einfallen ließen, war er davon abzubringen, beim Fenster stehen zu bleiben.
„Er kommt“, rief er plötzlich. Obgleich er sich vorgenommen hatte, Wilbolt entgegen zu laufen, sobald er diesen sah, blieb Ismar stehen und wandte seinen Blick nicht mehr von Wilbolt, bis dass dieser in der Tür erschien. Ell und ihre Mutter wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten und stellten sich hinter Ismar.
Wilbolt blickte die Drei an und wusste nicht, wie er es sagen sollte. Unterwegs hatte er einige Varianten ausprobiert, doch nun wollte ihm keine mehr einfallen. Jeder der Wilbolt kannte, wusste, dass er kein Mann der Worte war.
„Deine Eltern sind beide tot. Aber deine Schwester lebt und sie ist in Sicherheit“, sagte Wilbolt steif.
Ismar blieb reglos stehen. Wut und Hilfslosigkeit lähmten ihn. Obwohl er versucht hatte, sich keine Hoffnung zu machen, traf ihn der Schlag ein zweites Mal.
Ell griff vorsichtig noch seiner Hand und er ließ es zu.
„Dein Hauslehrer bat mich, dir dies zu geben.“ Wilbolt nahm einen Brief aus seiner Tasche und reichte ihn Ismar. „Er bat mich, dass du noch zwei Tage bei uns bleibst. Er sorgt sich um deine Sicherheit.“ Wilbolt hielt kurz inne. „Aber das wird er dir wohl auch geschrieben haben.“
Ismar wollte aufbegehren, besann sich dann aber anders und öffnete den Brief. Zahlreiche Strafen hatten es ihm abgewöhnt zu schnell zu antworten.
Er erkannte gleich Wigandus' Schrift, auch wenn dieser diesmal sichtlich in Hast geschrieben hatte. Dennoch war der Brief ungewöhnlich lang. Er bestätigte ihm was er bereits von Wilbolt wusste. Obendrein versuchte er ihn zu beruhigen und bat ihn vernünftig zu sein. Wigandus würde versuchen beim Bischof Schutz für ihn und seine Schwester zu erwirken. Der Sitz des Stadthalters würde neu vergeben werden und er wäre der Einzige, der später einen Anspruch äußern dürfte, aber noch war er zu jung.
Er lobte gar Wilbolt für dessen besonnenes Handeln und schwor Ismar ein, ihm zu vertrauen.
„Es gab einen Verräter, der deinem Vater nah stehen musste, sonst hätte das so nicht geschehen können“, schrieb Wigandus. „Auch ich werde bald die Stadt verlassen und einige Andere auch. Gleichwohl wer von dieser Tat seinen Nutzen zieht, die Stadt wird nicht mehr die Gleiche sein“, hieß es einige Zeilen später.
Ismar überflog den Brief erst hastig, dann noch einmal langsam. Keiner sprach ein Wort. Ismars Hände zitterten und Tränen liefen ihm die Wange hinunter. Er wusste was das bedeuten würde, auch er musste die Stadt verlassen. Schlimm genug, dass seine Eltern tot waren, aber nun verlor er auch noch seine Heimat, alles was ihm vertraut war.
„Wigandus wollte, dass ich dir noch etwas sage, das er nicht niederschreiben wollte“, begann Wilbolt als Ismar seinen Kopf hob. „Er möchte dich nochmal sehen bevor er geht.“
„Kann ich jetzt zu ihm?“ Ismar hielt auf die Tür zu.
„Nein, Wigandus hat kurz nach mir die Stadt verlassen. Er hatte bereits gepackt. Er hat mir gesagt, wo ich ihn in drei Tagen finden werde.“
„Ich muss aber etwas tun. Irgendwas!“, schrie Ismar hilflos.
Ells Mutter eilte zu ihm und nahm ihn in den Arm.
„Junge“, setzte Wilbolt an, doch dann merkte er, dass ihm die Worte fehlten.
„Dein Vater war ein gerechter Herr. Wir werden ihn alle vermissen“, sagte er schließlich aus tiefster Überzeugung.
„Wohl wahr“, bestätigte seine Frau. „Du kannst auf ewig stolz auf ihn sein!“
Drei Tage später brachen Wilbolt und Ismar zum Treffpunkt auf. Ismar war völlig erschöpft. Wilbolt hatte versucht ihn mit Arbeit abzulenken und Ismar hatte geschuftet wie ein Berserker.
Der Junge tat Wilbolt leid und er wurde sich aufs Neue bewusst, wie oft er ihm Unrecht getan hatte. Weder sein Vater noch er hatten diesen Verlust verdient, aber vielleicht musste dies das Schicksal all derer sein, die gutherzig waren, schloss Wilbolt wehmütig. Vielleicht war das Gottes Willen um die Menschen zu bestrafen. Wilbolt machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Familie. Er hatte zuviel Schreckliches von Bekannten und Verwandten gehört, die andere Lehnsherren hatten.
Wilbolt ging mit Ismar zur alten Eiche. Das war ein allgemein bekannter Treffpunkt. Die alte Eiche war so windverdreht und verknotet, dass keiner ihr Holz wollte. Sie lag nahe der Weggabelung, die von der Stadt wegführte. Für viele galt der Baum gar als unantastbar. Bereits Wilbolts Vater hatte ihm als kleiner Junge erklärt, dass der Baum heilig war. Viele glaubten in den Knoten Gesichter zu erkennen. Wilbolt zählte nicht zu denen, genauso wenig kam er hierher zum Beten, wenn er ein persönliches Anliegen hatte. Für ihn stand fest, dass man zum Beten in die Kirche ging und dass das hauptsächlich die Aufgabe der Pastoren und Mönche war. Abgesehen vom Tischgebet sagte er meist nur Amen, wenn der Pastor sprach, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, was Gottes Zorn auf ihn lenkte. Ansonsten wurde er nicht müde sich zu bekreuzigen, wenn ihm etwas unheimlich war.
Als die Beiden ankamen, hatten sie eine knappe Stunde Fußweg hinter sich. Dennoch waren sie alleine. Wilbolt hatte sich entgegen seiner Art von Ismars Ungeduld anstecken lassen und war früher als verabredet losgegangen.
Allzu lange mussten sie aber nicht warten. Auch Wigandus kam weit vor Mittag. Dabei hatten sie ihn beinahe nicht erkannt. Vorsichtshalber waren die Zwei in den Wald getreten, um nicht für jedermann sichtbar zu sein. Dabei wusste Wilbolt nicht, ob die Straße an diesem Tag besonders viel genutzt wurde, oder ob er sich das nur einbildete. Wigandus kam aus der Stadt, dabei hätte Wilbolt ein Huhn darauf verwettet, dass er aus einer der beiden anderen Richtungen kommen würde.
Erst als der Reiter an der Eiche vom Pferd stieg und sich suchend umblickte, erkannte Ismar seinen Lehrer. Er sah ganz anders aus als üblich. Dabei fiel Ismar auf, dass er ihn nie in Reisekleidung gesehen hatte und erst recht nicht auf einem Pferd.
„Lehrer Wigandus“, gab sich Ismar zu erkennen. Obwohl er seinen Lehrer mochte, hatte sich Ismar nie so gefreut ihn wieder zu sehen.
„Pscht“, zischte Wigandus gleich seine Erleichterung heraus. „Wir sollten kein Aufsehen erregen.“
Wilbolt trat hinter Ismar aus dem Wald hervor.
„Danke Wilbolt, das werde ich dir nie vergessen“, begrüßte Wigandus Wilbolt, der ihn um über eine Kopfhöhe überragte.
„Gern geschehen“, brummte Wilbolt verlegen.
„Wir sollten gleich weiter“, wandte sich Wigandus gleich an Ismar und machte deutlich wie nervös er war.
Ismar wusste nicht recht, wie er sich von Wilbolt verabschieden sollte. Verlegen reichte er ihm die Hand. „Danke.“ Seine Stimme klang brüchig.
Wilbolt war auch nicht geübt darin, sich zu verabschieden. Nochmals wurde ihm bewusst, dass sich nun vieles ändern würde. Er hätte niemals gedacht einmal nicht froh zu sein, wenn Ismar ihn nicht mehr ärgern könnte.
Ohne darüber nachzudenken zog er Ismar an sich und klopfte ihm auf den Rücken. „Pass auf dich auf.“ Dann hob er ihn hoch und setzte ihn auf das mitgeführte Pferd.
Wigandus bedankte sich förmlich bei Wilbolt und drückte ihm eine Kleinigkeit in die Hand.
„Bitte geh mit einem großen Umweg nach Hause. Es ist besser für uns alle, wenn dich keiner mit Ismars Verschwinden in Verbindung bringt.“
Wilbolt bedankte sich mit einem Nicken. Er sah nachdenklich aus. Diese Miene hatte Ismar so noch nie bei ihm gesehen. Er stellte sich dicht neben die Eiche. Dort blieb er stehen bis die beiden Reiter außer Sicht waren. Erst dann wandte er sich ab und verschwand im Wald.
„Es tut mir leid, was passiert ist“, begann Wigandus nach einer Weile.
Ismar hatte geschwiegen, da ihm die Tränen gekommen waren und er nicht wollte, dass er es hörte.
„Wo ist Elisabeth? Wie geht es ihr?
„Ihr geht es gut und sie ist in Sicherheit. Einer der Wächter war gegenwärtig genug, sie zu verstecken.“ Wigandus erzählte daraufhin, was sich ereignet hatte.
Er hatte Elisabeth gleich mit zum Bischof genommen als er für sie zwei Schutz ersuchen wollte.
Der Bischof selbst war nicht zugegen gewesen, doch sein Stellvertreter hatte die Bedingungen ausgehandelt und schließlich akzeptiert.
Vom Mörder fehlte jede Spur, aber Wigandus hatte sich ohnehin keine Illusion gemacht, diesen zu erwischen und selbst wenn, wäre es wohl nur ein Handlanger gewesen. Wigandus hatte noch nicht gehört, dass jemand Ansprüche auf die Stadt stellte. Aber das war ohnehin zu früh, da es sonst verdächtig sein würde. Aber auch so wusste Wigandus, dass es besser für ihn war, nicht zu bleiben.
Ismars Vater war bei vielen Adligen unbeliebt. Er vertrat eine völlig andere Art zu regieren. Dementsprechend hatte er auch Leute um sich geschart, die ähnlicher Ansicht waren. Es war weithin bekannt, dass er die Sorgen seines ihm anvertrauten Volkes verstand und sich für sie einsetzte. Korruption und Machtmissbrauch gab es nur in kleinem Maße, dementsprechend viele fühlten sich um ihre Privilegien betrogen. Genau dafür würden all jene, die von ihm eingestellt worden waren, die Strafe zahlen müssen. Selbst in der Kirche hielt sich die Trauer in Grenzen. Das hatte Wigandus bereits zu spüren bekommen, als er den Preis für Ismar und Elisabeth ausgehandelt hatte.
„Du wirst ebenso wie deine Schwester bis zur Vollendung deines zwanzigsten Lebensjahres im Kloster bleiben.“
„Aber wie lerne ich das Kämpfen?“
„Du lernst lesen und schreiben.“
„Aber das kann ich schon. Warum können sie mich nicht weiter lehren?“
„Das geht nicht. Wir könnten nirgends sicher leben und ich muss für meine Familie sorgen.“
Ismar verfiel in Schweigen. Ihm gefiel es gar nicht, in einem Kloster zu leben, aber ihm blieb keine Wahl. Er wusste, dass sich Wigandus nicht umstimmen lassen würde. Ebenso war er sich bewusst, dass er nur sein Bestes wollte. Auch war Wigandus keiner der leichtfertig Entschlüsse fasste.
„Ich habe zwei Briefe von deinem Vater, die er mich gebeten hat aufzubewahren und dir im Falle seines Todes zu geben.“
Wigandus griff in seine Satteltasche und nahm zwei dicke Briefe hervor.
„Lese erst den. Den hat er mir gegeben, als du beinahe sieben warst.“
Ismar erkannte das Siegelzeichen seines Vaters. Er zögerte lange bis er es wagte das Siegel aufzubrechen. Was mochte das sein, was er ihm all die Jahre nicht gesagt haben konnte. Er las langsam und viele Stellen doppelt. Es war ihm unheimlich und in seinem Kopf hörte er seinen Vater ihm den Brief vorlesen. Mehr als einmal kamen ihm die Tränen. Das konnte nicht wahr sein. Nach einer Weile machte er sich nicht einmal die Mühe sie wegzuwischen.
„Du sagst nichts?“, fragte Wigandus nachdem Ismar den Brief eine Weile neben sich in der Hand hängen ließ.
„Wussten sie das?“
„Ja, dein Vater hat es mir gesagt, als er mir den Brief gab.“
„Aber er ist nicht mein Vater!“
„Unsinn, er ist dein Vater! Er hat dich groß gezogen und er hat dich geliebt, wie seinen eigenen Sohn. Das darfst du nie vergessen!“
„Aber wer ist denn mein wirklicher Vater? Kann ich nicht zu ihm?“
„Ich weiß nicht wer dein leiblicher Vater ist. Deine Mutter war bei deiner Geburt gestorben. Dein Vater war ein armer Bauer und verzweifelt. Reinhart war auf einer Reise und hörte die Schreie deiner Mutter und bot die Hilfe seines Leibarztes an, doch ihr Tod war unvermeidbar. Dein Vater hatte noch zwei weitere Kinder, doch beide waren noch sehr jung. Reinhart wusste es würde auch deinen Tod bedeuten, wenn du dort bleiben würdest. Und Reinhart hatte ein Problem. Nach langen kindlosen Jahren war Alheyt endlich schwanger, doch um ihr Leben stand es nicht gut und auf ein weiteres Kind konnte er nicht hoffen. Selbst wenn sie und das Kind es überleben sollte, wäre ein Junge ungewiss. Deshalb nahm er dich mit und gab deinem Vater reichlich Geld, damit er seine zwei älteren Söhne ernähren konnte. Als er mit dir ankam, war deine Schwester bereits zwei Tage alt und so wurdet ihr als Zwillingskinder vorgestellt. Nur der Leibarzt, eine Hebamme und eine Dienerin deiner Mutter wussten Bescheid. Wie es scheint haben sie bis heute alle Wort gehalten und darüber geschwiegen.
„Aber was ist mit meinem Vater passiert?“
„Ich weiß nicht viel mehr als im Brief steht. Nur, dass dein Vater als du zwei wurdest die gleiche Reise wiederholt hatte, um nach ihm zu suchen und ihm von dir zu berichten. Aber er fand nur ein verlassenes Haus und keiner in der Gegend konnte sagen, wo die Drei hin waren.“
„Das heißt er lebt noch?“
„Gut möglich, denn er hatte das Dorf im Herbst verlassen und alles mitgenommen, was er besaß. Keiner der ihn zuletzt gesehen hatte wusste zu berichten, dass er schwach oder gar krank gewesen wäre.“
„Wie heißt er denn?“
„Sie nannten ihn der arme Willi“, erzählte Wigandus. „Es hieß, er hätte oft Pech im Leben gehabt. Dein Vater hat in dem Dorf jedem eine Goldmünze versprochen, der dazu helfen würde ihn zu finden. Aber bis heute hat sich keiner gemeldet.“
Ismars Gedanken schossen kreuz und quer.
„Möchtest du nicht auch den zweiten Brief lesen?“
„Steht da noch etwas über meine Eltern darin?“
„Nein, dein Vater gab ihn mir vor drei Jahren. Damals hatte bereits einer versucht ihn zu töten und er wollte dir deshalb diesen Brief hinterlegen, für…“
„Davon weiß ich nichts!“, fuhr Ismar erschrocken dazwischen.
„Das wissen auch nur sehr wenige. Der Täter wurde erwischt und gezwungen sein eigenes Gift zu essen. Die Symptome damals wie diesmal waren die gleichen, weshalb ich denke, dass es der gleiche Auftragsgeber war.“
„Aber warum weiß ich das nicht?“
„Er wollte nicht, dass du in Angst aufwächst und es hätte sein Ansehen geschwächt, würden es alle wissen.“
Wigandus hob den zweiten Brief Ismar entgegen.
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube ich will den heute nicht mehr lesen.“
„Sicher?“
Ismar nickte und betrachtete den Brief in seiner Hand. Mehrmals während des Nachmittags setzte Ismar an etwas zu sagen, doch er brach jedes Mal ab. Das ergab alles keinen Sinn.
Erst als sie zur Nacht Rast einlegten, war er mit seinen Gedanken wieder einiger Maßen bei seiner gegenwärtigen Situation.
Wigandus war das Reisen nicht gewohnt und er machte daraus auch keinen Hehl. Andererseits reichte es ihm beim Feuermachen zuzuschauen. Rein theoretisch wusste er wie es ging, allein es fehlte ihm die Übung.
„Darf ich dir helfen?“, fragte Ismar und versuchte seine Belustigung zu verbergen.
„Ich fürchte meine Hände sind es zu sehr gewohnt Buch und Feder zu halten und zu sonst nicht viel nutze“, gestand Wigandus und freute sich, dass Ismar lebhafter wurde.
„Das ist ganz einfach, wenn alles Nötige zur Verfügung steht“, erklärte Ismar stolz und wühlte in Wigandus' Tasche.
„Caspar hat mir alles zusammen gepackt, was wir bräuchten“, meinte Wigandus und klang leicht verloren.
„Haben sie nie Feuer gemacht?“ Ismar war verwundert, aber voller Begeisterung seinem Lehrer etwas zeigen zu können.
„Nein, wenn immer ich es gebraucht hätte, war ein anderer dabei, der es tat.“
„Und als sie mit Elisabeth die Stadt verlassen haben?“ Er musste eben an seine Schwester denken und dass auch sie so gereist sein musste, wie er eben.
„Wir waren zu viel mehr. Allein hätte ich auch nicht mit deiner Schwester unterwegs sein wollen. Cunlin, Jorge, Gilig, Ott und Ewalt waren mit dabei.“ Das waren der Schatzmeister, zwei Ratgeber, der Koch und der Wachtmeister gewesen. Ihre Nachsicht für das Volk würde der neue Stadthalter zu unterbinden wissen und dem kamen sie so zuvor. Sie wollten nicht, dass an ihnen ein Exempel errichtet würde.
Wigandus sah Ismars verwundertes Gesicht.
„Sie haben die Absicht später zurückzukehren, wenn der Stadthalter erst einmal bekannt ist. Sie sind deinem Vater über den Tod hinaus loyal. Sie werden nur bleiben, wenn sie hören, dass der Stadthalter das Erbe Reinharts ehrt und in dessen Sinn weitermacht.“ Wigandus blickte in Richtung Horizont.
„Aber das glauben sie nicht?“
Wigandus verengte die Augen. Dann kehrte er mit seinem Blick und seinen Gedanken zurück.
„Nein.“ Er zeigte ein resignierendes Lächeln. „Nein, das tut keiner von uns. Aber Einige hoffen, dass es nicht zu schlimm wird.“
„Und was glauben sie?“
Wigandus suchte Ismars Blick und hielt ihn eine Weile fest. Dann wandte er sich abermals dem Horizont zu, als würde er dort etwas nahen sehen.
„Nur ein böswilliger Mensch hätte deinen Vater getötet. Er war ein gutherziger und gerechter Mann und Stadthalter. Du findest im ganzen Reich keinen, der deinem Vater ebenbürtig ist. Darauf kannst du stolz sein!“
Auch Ismar hatte seine Mühe das Feuer zu entfachen, aber er stellte sich weitaus geschickter an als Wigandus zuvor.
Als Ismar endlich saß und an seinem Essen herumknabberte, wurde er unruhiger und immer mehr Fragen formten sich in ihm zusammen.
Wigandus beantwortete alle Fragen ausgiebig und erzählte auch von sich aus Dinge, die Ismar bisher nicht wissen konnte oder sollte. Es wurde ein langer Abend.