Читать книгу Flucht aus dem Morgengrauen - Marc Lindner - Страница 5
– 2 – Nacht des Abschieds
ОглавлениеEigentlich hatte ich nicht vorgehabt, so früh in meine Wohnung zurückzukehren. Doch diese besondere Situation erforderte es. Nicht, dass ich meine Worte bereute, aber ich hatte doch noch Einiges vorzubereiten. Ich hatte mir mein neues Leben anders vorgestellt, doch ich machte eh nur aus einem Grund Pläne, und zwar aus dem, dass ich sie so gerne verwarf. Ich wollte mir dadurch zeigen, dass ich spontan sein konnte. Normalerweise war ich es nicht, heute hatte ich mich selbst überrascht. Doch ich war bereit für dieses Abenteuer. Es gelang mir den Rest des Tages nicht mehr ein fast krankhaftes Lachen aus meinem Gesicht los zu werden. Termine hatte ich keine mehr, Verpflichtungen auch nicht. Die Jobangebote oder Ablehnungen lagen noch ungeöffnet auf meinem Schreibtisch. Ich hatte schließlich erst einmal die Klausur bestehen müssen. Da sah man, dass ich gerne plante, es war alles vorbereitet gewesen. Doch ich öffnete sie nicht mehr, würde wohl keiner mir eine halbe Million im Jahr zahlen. Und die dachten ich sei verrückt, diese Fernsehleute. Und das Lachen in meinem Gesicht wurde noch breiter.
Turn- und Wanderschuhe packte ich in einen Rucksack, dazu einige T-Shirts, Hosen und Kopfbedeckungen, dann noch all den Kleinkram, den man so brauchte, und stellte das Ganze dann in die Ecke. Wo die Reise losging wusste ich nicht, also machte ich mir über besondere Kleidung keine Gedanken.
Wenn es etwas gab, vor dem mir mehr bange war, als um die Welt zu marschieren, dann war es der Anruf, den ich noch tätigen musste. Ich beabsichtigte, es nur meinen Eltern zu sagen. Die Zeit drängte und meine Freunde sahen genug fern, um es gewahr zu werden.
Der Hörer fiel mir fast aus der Hand, so sehr wurde die Hörmuschel überreizt, von der Datenflut, der sie ausgesetzt wurde. Und es erwies sich als sehr schwierig meiner Mutter verständlich zu machen, dass ich freiwillig um die Welt gehen sollte. Aber alles Gerede und Bitten half nichts, mein Entschluss stand fest. Ich wollte reisen und ich würde es auch. Nur noch eine Unterschrift und das neue Leben konnte beginnen.
Wie in Trance verabschiedete ich mich von meinen Eltern. Ich hatte sie so sehr damit überrollt, dass ich glücklicherweise keine Träne rollen hörte. Wenn es etwas gab, was ich am Reisen nicht mochte, dann waren es Abschiede. Über Telefon hatte ich es noch nie gemacht, und stellte nun erfreut fest, dass diese Form durchaus ihre Vorzüge hatte. Es gab nicht diesen, von mir so gefürchteten, letzten Blick. Kein Umdrehen, keine Ecke, um die man bog. Einfach geradeaus, und weg. Mein Vater gewann als Erster die Fassung zurück und versprach mir, sich um die Wohnung und alles Weitere zu kümmern, auch das, was ich in der Eile wohl noch vergessen würde. Mit dem Versprechen aus jedem Land eine Postkarte zu schicken verabschiedete ich mich und legte auf. Und dann gab es ihn doch, diesen unangenehmen Augenblick des Abschiedes. Als der Hörer die Halterung berührte, spürte ich es und es war ein elend langer Moment, bis ich das Telefon loslassen konnte.
Schlimmer gar wurde die nun folgende Nacht. Kein Auge bekam ich zu, unablässig sah ich diesen dicken Mann und neben ihm die fassungslose Frau. Du musst verrückt sein. Ich musste in mein dunkles, nur von der Straßenbeleuchtung erhelltes Zimmer lachen, während ich auf dem Bett lag. Die Arme hinter meinem Kopf verschränkt lag ich da. Und auf einmal konnte ich sie verstehen. Ich war verrückt. Und so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben. Die letzte Nacht, dann war es da, das neue Leben.
Es störte mich wie die Menschen mir immer auswichen. Wie ein Fisch, den man aus dem Strom zerrte. Mehr waren sie nicht, nur weiter wollten sie, geradeaus. Und dann noch diese Werte, in die sie mich zu zwängen versuchten. In viele passte ich schon lange nicht mehr hinein. Andere füllte ich nicht aus. Es reichte mir, jetzt wollte ich weg. Schnell. Einmal um die Welt, das sollte reichen. Einholen konnten sie mich nicht. Und ich sie auch nicht, denn ich lief in die andere Richtung. Ein Fisch auf Abwegen, deshalb interessierten sich die Medien dafür. Die wollten nicht wissen, was falsch lief. Nur wer anders war, zog sie an. Immer auf die zeigen, die anders waren, wie mich das störte. Standgericht. Verteidigen konnte man sich nicht, keiner würde es verstehen.
Die Nacht selbst war eine Reise, weit kam ich nicht, ich drehte mich immer nur von einer Seite auf die andere. Nur meine Gedanken irrten umher. Viele von ihnen nahm der dicke Mann in Anspruch, und wenn er mal Platz machte, tauchte die Frau auf, mit ihrem erstarrten Gesicht. Und sie machten mir Angst, Angst vor mir selbst. Keiner der mich kannte hätte mir zugetraut eine solche Entscheidung zu fällen, nicht einmal ich. Und noch nie war ich mir bei etwas so sicher gewesen, wie bei diesem Entschluss. Weltreise. Und ich hatte getan als würde ich eine Fahrkarte für den Bus in die Stadt kaufen. Deshalb hatte die Frau mich wohl nicht verstanden. Ich war völlig ruhig geblieben, das war einfach nicht ihre Art. Und sie schloss von sich auf Andere. So taten Menschen das. Hatte ich auch gemacht, früher, aber hatte zu oft merken müssen, dass es nicht klappte, mit diesen Rückschlüssen. Sie waren einfach zu anders, diese Fische. Deshalb sagten sie mir auch immer, ich würde zu viel reden. Und ich war stumm geworden, vereinsamt, inmitten einer Stadt. Hatte mich wie ein Fisch in der Masse versteckt. Doch jetzt war Schluss damit, ich würde einsteigen, beim Schaffner stehen bleiben, einmal um die Welt bitte, und dann ging es los. Ich wollte raus, raus aus dem System, raus aus der Masse, sie erdrückte mich. Endlich wieder allein sein, dann würde das mit dem Einsam sein schnell aufhören. Keiner der versuchte mich zu zensieren, keine Abstriche, nur noch ich. Endlich diese Schuppen loswerden, sie ließen meine Seele vertrocknen. Ich musste raus aus diesem Rennen. Du bist verrückt, erinnerte ich mich wieder an die Frau. Ich lachte, nein ich war normal, nur keiner konnte das sehen.
Wie ich die restliche Nacht und den dann anbrechenden Morgen verbrachte, war mir nicht bewusst.
Kleinigkeiten in meinen Augen, Nichtigkeiten hatte ich noch eilends erledigt. Für den Rest konnte ich die Aufbruchsstunde kaum noch erwarten. Und der Dicke hatte wirklich gewollt, dass ich zwei Wochen hätte warten sollen. Mehr als ein amüsiertes Lachen konnte mir dieser Gedanke nicht abverlangen.
Es war noch nicht lange her, dass ich den Mann das letzte Mal gesehen hatte und doch wollte mir meine Erinnerung ihn mir nicht mehr originalgetreu abbilden. Vielleicht war es um die Zeit zu überbrücken, auf jeden Fall malte ich mir eine Karikatur des Mannes, die nun in meinem Geist herumspuke. Und ich sah ihn nicht bloß einmal, denn für jede Geschichte, die ich in seinem Gesicht gelesen hatte, fertigte ich eine neue Gestalt an, die ihm versuchte gerecht zu werden. Ich malte mir aus, wie er in seiner Firma umherstolzierte, wie er die Anderen befehligte, wie ein Feldherr sah er für mich aus. Groß, imposant und dick. Auf eine gewisse Weise lächerlich bei dem Versuch sich seine eigene Macht vorzuspielen, wie eine tobende Seifenblase, die allen Angst machen wollte, damit keiner sich an sie heranwagte.
In mir war ich immer noch ein Kind geblieben, nicht weil ich nicht die Reife gehabt hätte, erwachsen zu sein, sondern weil ich es nicht wollte. Ich beabsichtigte nicht zu jenen Fischen gehören, die mich mit ihren fragwürdigen Werten abzumessen gedachten. Gewogen, und für zu leicht empfunden. Darüber konnte ich nur lachen. Ich merkte, wie die Anderen zu mir herab sahen. Mit ihren großen, blinden Augen. Und ich sah zu ihnen hinauf, wie bei einem Hochhaus. Ich wusste, ich trachtete nie dorthin zu kommen, ich hatte schon als kleines Kind immer Höhenangst gehabt. Die Luft war mir da oben zu dünn. Zu wenig Freiheit, da konnte man nicht laufen. Das beabsichtigte ich aber, das brauchte ich. Und jetzt, einmal um die Welt.
Seltsames Gefühl war es dann doch, als ich, ohne mich umzudrehen, aus der Wohnung gegangen war, und nun durch die Straßen der Stadt ging. Wie ein Fremder kam ich mir auf einmal vor, irgendwie hatte ich das Gefühl als müsste jeder merken, dass mit mir etwas nicht stimmte. Doch es blieb keiner stehen, keiner drehte sich um. Und immer noch liefen sie. Gehetzt sahen sie aus. Mir fiel es auf einmal noch mehr auf als sonst, viel schneller kam es mir vor, wie sie an mir vorbei liefen. Alle waren sie auf der Flucht, es war wirklich an der Zeit, dass ich hier einmal wegkam. Alle durchgedreht. Ich wollte ihnen noch weiter zusehen, doch ich konnte es nicht. Sie störten mich auf einmal, mit ihren gesenkten Blicken, mit ihren vollen Tüten und ausdruckslosen, leeren und starren Augen, die sie vor jedem zu verstecken versuchten. Die schweren Wolken hatten sich über Nacht verzogen. Mir erhellte eine aufsteigende Sonne den Weg.
Aus weiter Ferne konnte ich den Marktplatz erkennen. Unzählige kleine Straßen und Gassen liefen dort zusammen und es gab keinen Strom in dem die Menschen untergehen konnten.
Den Dicken und die Leute vom Fernsehen konnte ich aber noch nicht ausmachen. Die würden sich wohl irgendwo in der Mitte tummeln. Auffällig, fast störend postiert. Doch dieses Mal mussten sie warten, nicht wie zuvor die Leute erschrecken, kein Aufdrängen mehr. Sicher eine ganz neue Erfahrung für die junge, attraktive Frau. Ein Bild, auf das ich mich freute. So viel gab es nun, worauf ich gespannt war, dass ich es kaum noch erwarten konnte. Das Drehbuch und die Spielregeln hatte ich vergessen, doch ich wusste, dass es auch so eine spannende Geschichte werden würde. Einfach nur treiben lassen, aber aufpassen vor diesem schier unausweichlichen Strom der Menschen, die das Ganze dann auch noch Leben nannten.
Dann betrat ich den Marktplatz und mit jedem Schritt wurde mein Blick freier, da keine Gebäude ihn mehr einengten. Während ich auf die Mitte zuhielt, ließ die Menschenmasse nach und es gab keinen mehr der mir entgegen kam. Langsam lichtete sich der Schleier der Passanten und da sah ich sie.
Sie beanspruchten viel Platz für sich, oder vielleicht war es wieder die Masse, die sich aus Angst nicht dorthin wagen wollte. Ich aber hielt geradewegs auf sie zu. Den Dicken bemerkte ich diesmal als Ersten.
Unruhig blickte er um sich, als würde er selbst dieses Abenteuer bestreiten. Die Frau wirkte eher genervt als angespannt. Ihr Boss hatte ihr sicher eingeheizt, denn sie sah nicht aus, als glaubte sie, dass ich kommen würde. Und bei meiner Reaktion hatte ich ihr keinen Grund gegeben, es zu tun. Zu gelassen war meine Reaktion gewesen, als dass ich mir ernsthaft Gedanken darüber gemacht haben könnte. Sie hatte nicht in meinem Gesicht gelesen, sonst wüsste sie es. Sie kannte mich nicht und hatte mich mit den Werten gemessen, die sie kannte. Und da reagierte man anders.
Obwohl der Dicke sich unentwegt umdrehte und umher stierte, war es die Frau, die mich als Erste bemerkte. Ihre Kinnlade drohte herab zu stürzen, doch mit ihrer Erfahrung und ihrer schwatzhaften Art gewann sie ihre Beherrschung schnell zurück. Ohne Konrad zu beachten, ging sie an ihm vorbei und ließ ihn nichts ahnend stehen. Wieder mit einem gewinnenden Lachen im Gesicht kam sie auf mich zu. Diesmal war sie gleich von drei Kameras umringt, wobei sich eine auf mich stürzte, eine sich ganz ihr widmete und die dritte sich etwas entfernt postierte.
«Wie fühlst du dich?», fragte sie mich, während sie sich mir annäherte, als wären wir Altbekannte.
Die typische Journalistenfrage, wie ich sie hasste. So machten die das immer. Stand ein Mann vor seinem abgebrannten Haus. Und wie fühlen sie sich? Einfach kein Feingefühl, diese Sensationsreiter.
«Gut», gab ich mich wortkarg und erwiderte ihr Lächeln.
«Wo hast du denn dein ganzes Gepäck gelassen?», kam eine frauenspezifische Frage gleich hinterher. Und in eben dem Augenblick wusste ich, dass mir dieses Spiel Spaß machen würde. Es war ganz nach meinem Geschmack.
«Oh, das ist alles. Ich reise nur mit leichtem Gepäck», erklärte ich ihr und nahm den Rucksack von der Schulter, damit die Kamera ihn auch gut einfangen konnte.
«Ich hatte schon befürchtet du kämst nicht», vernahm ich eine bebende Stimme, während eine breite Pranke meinen nun freien Rücken mit voller Wucht traf.
«Nicht doch, wo es ein Abenteuer gibt, da bin ich zu Hause.» Die Antwort galt der Kamera, die scheinbar den Weg in meine Nase suchte.
«Und du bist bereit loszugehen?» Die Frau blieb skeptisch.
«Sobald der Vertrag unterschrieben ist», klärte ich sie über meine einzige Bedingung auf.
«Hör mal, ich bin ein Ehrenmann», klopfte mir der gestandene Mann abermals auf den Rücken und ich drohte fast nach vorne zu fallen.
«Es ist nicht persönlich gemeint, das sicher nicht, aber wie stünde ich da, wenn ich noch bevor ich den Diplom in Hände halte, alles vergessen würde, was ich gelernt habe», wollte ich ihm mein Benehmen verständlich machen.
«Recht hast du, Kleiner», lobte er mich. «Du wirst es noch weit bringen.»
«Ja, hoffentlich einmal um die Welt», meinte ich lachend.
Mit seiner rauen, dröhnenden Stimme fiel er in mein Lachen ein. Dieser unmögliche Mensch wurde mir richtig sympathisch. Wir verstanden uns gut. Nur die Frau vom Fernsehen wirkte leicht gekränkt.
Die Einstiegsszene war keineswegs nach ihrem Geschmack verlaufen. Das sah man sogar ihren Kameraleuten an, die sich fragten, was sie eigentlich hier sollten. Drei Mann, und ich lieferte kein Material. So einen hatten sie wirklich nicht erwartet. Doch sie mussten es nun versuchen. Die Frau wusste ihren Chef im Nacken. Und ihre Furcht vor ihm war größer als ihr Missfallen an meinem faden Benehmen.
«Wieso hast du dich eigentlich so schnell überreden lassen?», klammerte sie sich an mich. Sie hatte mir den Weg zu einem wartenden Auto gezeigt und mich gleich von dem Dicken weg gezerrt. Den mochte sie noch weniger als mich. Und dieser konnte unserem schnellen Tempo nur schwer folgen und war bereits nach wenigen Schritten schnaufend abgeschlagen.
«Ich brauchte eine Veränderung in meinem Leben. Einfach mal einen sauberen Schnitt», gestand ich ihr, und die Kamera war hautnah dabei. Ich fühlte gleich an ihrem Griff, dass sie auflebte und hellhörig wurde.
Sie roch es bereits, die Sensation. Ich war für sie wie ein Gefrierschrank. So musste ich wohl jetzt auf sie wirken, denn ihr Griff wurde fester und sinnlicher, als wollte sie mich auftauen. Ich spürte und genoss es. Sie gierte danach, dass ich zusammenbrach. Gefühls- und Tränen überlaufend. Auch wenn sie es nicht geschafft hatte in meinem Gesicht zu lesen, so waren ihre Sinne doch geschärft genug, um zu merken, dass tief in mir etwas lungerte. Eine Unruhe, vielleicht auch Wut und Trauer, die sie für die Welt an die Oberfläche bringen und ihren Zuschauern in spannenden Folgen präsentieren wollte.
Ich musste mich nur in Acht nehmen, dass ich nicht alle Spielregeln aus der Hand verlor, und dann schließlich nach ihrem Drehbuch tanzen müsste. Das war wiederum mir zu oberflächlich und abgegriffen. Ich wollte etwas Neues, sonst wäre diese Reise für mich sinnlos. Ich hatte nicht den Platz in meinem Rucksack auch noch die Werte und Vorstellungen der Zivilisation mit mir rum zu schleppen. Die waren mir zu schwer und erdrückten mich. Ich wollte sie nicht, und doch war mir dieses Spiel, dieses gespielt warmherzige Benehmen der Frau nicht unangenehm. Etwas aufzutauen würde ich noch hinnehmen können, aber sicher nicht zu schmelzen und vor ihr zu zerfließen.
Die wenigen Schritte reichten zum Glück nicht dazu, und ich konnte mich wieder sammeln, als wir ins Auto gestiegen waren und auf Konrad warteten.
Es war eine geräumige Limousine, die mich mit geöffneten Türen erwartete, im absoluten Halteverbot. Dieser Konrad verstand es zu reisen. Und ich war belustigt von dem Gedanken, dass sie sich nun Mühe gaben mir die Vorzüge eines reichen Daseins zu zeigen, um mich dann zu Fuß durch die Wüste zu schicken.
Auch als Herr Hartmann – um ihm die Ehre einer gepflegten Anrede zu erweisen, – sich zu uns gesellte und mich noch näher an die Journalistin drückte, merkte ich nur noch deutlicher, dass ich aus dieser Welt fliehen musste. Zwar zeigte ich mich höflicherweise beeindruckt und es war auch in der Tat beeindruckend, wie angenehm sich das Leder anfühlte, doch schaffte dieses es dennoch nicht, mich zu berühren. Das Fernsehen hatte mich bereits abgestumpft und alle Superlative ließen mich kalt. Sie wollten mir alles zeigen, doch ich bemerkte, wie ich erblindete.
Selbst den Vertrag, den ich unterzeichnete, nachdem der Fahrer weich angefahren war und Konrad ihn schwerfällig aus seinem Aktenkoffer hervor geholt hatte, löste keinerlei Empfinden bei mir aus. Die Kamera, die samt Bediener vorne Platz gefunden hatte, hätte genauso gut ausgeschaltet bleiben können. So wenig gab es in meinem Gesicht zu sehen. Das merkte ich dem Kameramann deutlich an und ich fand, es wäre interessanter gewesen, hätte er seine eigene Enttäuschung für die bildüberreizten Zuschauer festgehalten.
Ich las mir den Vertrag in Ruhe durch, während ich auf der einen Seite gequältes Einatmen hörte und auf der anderen spürte, dass ich geröntgt wurde.
Die bisweilen ulkigen Formulierungen bereiteten mir richtig Freude. Auch die Hintertüren, die sich mir auf Schritt und Tritt zeigten, erheiterten mein Gemüt. Die Gewinnsumme war übertrieben hervor gehoben. So groß gar, dass sie den Zuschauern nicht entgehen konnte. Doch die Zeile überflog ich, auch sie hatte für mich keine Bedeutung. Ich wollte weg. Das Wissen aber, dass sie nachher auf mich warten würde, war dann doch ein beruhigendes Gefühl.
«Möge das Abenteuer beginnen», sagte ich feierlich und schenkte der Kamera dann doch noch etwas Begeisterung.
Kaum war die Szene im Kasten, als der Mann sein Gerät abschaltete und vorne aus dem Fenster sah. Er kannte mich schon gut genug, um zu wissen, dass meine Sendezeit nun zu Ende war. Und er hatte Recht. Ich war anders, und ich wusste er hätte die ganze Wahrheit jetzt noch nicht ertragen können.
Die Fahrt zum Flughafen war wie eine Schlafwanderung. Durch die getönten Fenster hätte man die Landschaft zwar erkennen können, doch ich ließ sie unbeachtet an mir vorbeirauschen. Die Frau hatte den Versuch sich an mich zu drängen aufgegeben und sich nun uns gegenüber Platz genommen. Es wirkte fast hypnotisch, wie sie mich schweigend im Auge behielt. Als müsste sie mich erst einmal studieren, mich analysieren, meine Schwächen aufdecken. Dabei verfinsterte sich ihr Blick keineswegs, sondern blieb freundlich und offen.
Nur der Dicke gefiel mir nicht. Er war genauso stumm, wie auch ich, doch wirkte es bei ihm eher bedrückt. Sein Gemüt wirkte so schwer, wie eine der Geschichten, die ich hinter seiner Fassade gelesen hatte. Es aber nun zu spüren, betrübte mich leicht und Mitleid stieg in mir auf. Die Limousine konnte daran nicht das Mindeste ändern. Sie war bedeutungslos, nur eine dieser Fassaden, die die Welt, die Zuschauer so gerne sahen. Doch es war nicht die Wahrheit, denn die konnte man nur im Menschen finden. Und was ich dort sah, machte mir Angst. Ein aufgeblähter Luftballon, und ich sah, wie er nach einem Ventil suchte. Er drohte zu platzen, und gleichzeitig war er irgendwie leer.
Sein Gesicht war gegen das Fenster gelehnt und er gab vor nach draußen zu schauen, doch seine Pupille – die, die ich sehen konnte – bewegte sich nicht. Seine Gedanken waren weit weg. Ich vermutete, dass seine Augen nichts finden konnten, was einen Blick rechtfertigen würde, und sein Geist war auf der Suche danach.
Deshalb wollte er mit mir spielen, er brauchte es für sich, diesen Beweis, dieses Abenteuer, das er nicht mehr finden, nicht mehr empfinden konnte. Und während wir dahin fuhren, schwor ich mir, dieses Spiel bis zum Ende zu spielen. Nicht nur um meinet Willen, sondern auch wegen des Millionärs. Es war sein Spiel, auch wenn ich die Regeln dazu nicht einhalten wollte. Genauso wie das Drehbuch der Frau, deren Namen ich peinlicherweise noch immer nicht wusste. Wie stumm sie doch war, wenn keine Kamera auf sie zeigte, beinahe menschlich wirkte sie dann. Doch dies konnte nicht von langer Weile sein.
Und so war es auch. Die Limousine fuhr am Flughafen vor und schon klingelte es zwischen dem Millionär und mir. Leicht zuckend tauchte der Geist des Dicken wieder neben mir auf und sein Körper griff energielos unter den mittleren Sitz, wo er einen, noch altmodisch verkabelten Hörer zum Vorschein brachte. Und ohne, dass Konrad den Anrufer ausreden ließ, war es um die Ruhe geschehen. Wir standen vor einem verschlossenen Gitter. Aufgeregt sprach der Fahrer mit seinem Chef, wollte diesem erklären, was vorgefallen war, doch dieser war nicht länger als Zuhörer zu gewinnen. Den herrenlosen Hörer verstauend, stieg ich aus dem Gefährt. Nun konnte ich meinen Mitspieler einmal richtig in Aktion sehen. Nicht mehr der schwerfällige dicke Mann, nur noch mächtig und dominant war er. Die Kamera wenige Schritte entfernt, die hektische Frau gleich daneben.
«Was soll das jetzt, macht doch auf», brummte Konrad zwei Wachleute vor dem Gitter an.
«Tut uns leid, Herr, aber wir dürfen niemanden hier reinlassen», kam ein kräftig gebauter Sicherheitsmann auf ihn zu. Jetzt konnte ich den Millionär richtig in Fahrt sehen und fand wieder andere Geschichten aus seinem Gesicht bestätigt. In der vorigen Nacht hatte mir mein Verstand doch keine Streiche gespielt. Er war die vielen Gedanken wert gewesen, so viele dieser von mir erstellten Figuren füllte er aus. Ein wandelndes Kabarett und dazu noch eine Journalistin, die nicht wusste, wie sie sich postieren sollte. Auch sie wollte ihren Senf dazugeben, aber neben dem Millionär verblasste sie. Sie konnte – und dieser Umstand beanspruchte meine Bewunderung – sich nicht in Pose setzen. Die Wachmänner nahmen sie nicht wahr. Nicht einmal ihre eigenen Leute, die nun gierig umherliefen, um die besten Bilder unseres Ausflugs festhalten zu können, schenkten ihr Beachtung.
Da war mehr als nur ihre ständige Suche nach Sensationen, das konnte man, wenigstens ich, der sie wahrnahm, deutlich erkennen. Sie sehnte sich nach Anerkennung, doch die gab es nicht, dafür war sie zu fordernd, zu ungeduldig. Und nun gar, als sie so aufgedreht umher tanzte, wirkte sie zerbrechlich, wie ein Kreisel, der unruhig hin und her sprang aus Angst, dass er dem unausweichlichen Ende erliegen würde. Ich wusste, dass es nicht ewig so weiter gehen konnte. Nur noch ein paar Kreise und die Erkenntnis würde sie ereilen, bloß konnte niemand sagen wie viele es noch waren. Sie kämpfte tapfer weiter und mit ihrem feurigen Temperament drehte sie sich selbst auf, als würde es nur dieses eine fragwürdige, trunkene Glück geben, als könnte sie nur für diesen Rausch der Geschwindigkeit leben.
Trotz der dröhnenden Stimme des Millionärs konnte er keinen Meter der Startbahn für sich gewinnen. Die Sicherheitskräfte, die eilends Kollegen angefordert hatten, blieben eisern.
Wie ein Löwe, mit seiner kräftigen, glänzenden Mähne, der von einer Horde Hyänen in die Flucht geschlagen wurde, erschien mir der Millionär, als er schließlich einlenkte und sich, nicht ohne seine Beschwerden über Handy los zu werden, wieder in die Limousine begab. Lautstark brüllte er in sein Telefon, sodass es mir unangenehm wurde und die Person auf der anderen Seite der drahtlosen Verbindung mein Mitleid gewann. Ich konnte nicht begreifen, was so schlimm daran sein konnte, dass wir nun den Weg durch den Flughafen bestreiten mussten. Wie langweilig musste doch ein Leben sein, wenn man es dadurch schmücken musste, sich wegen solcher Lappalien aufzuregen. Was es mir noch mehr erschwerte diese Reaktion nachzuvollziehen, war der Umstand, dass wir uns aufmachten, zu einer Reise rund um die Welt. Wer konnte sich bei diesen Ausmaßen noch an hundert Metern stören? Die Macht des Millionärs verhallte wie Rauch, sie war doch nur Illusion gewesen. Wo war dieser beeindruckende Geschäftsmann, als den er sich präsentierte, wenn der dicke Mann neben mir nun schon über einen Kieselstein stolperte. Dabei hatte er doch sicherlich die ganze Welt bereist. So wie ich mit dem Finger über einen Globus einst, doch ich glaubte nun, es bestünde dabei kein Unterschied. Er hatte nichts gesehen, oder zumindest nichts von dem bescheidenen Reichtum errungen, den man sich nicht einfach umhängen konnte. Ja, er war ein Millionär, einer aus dem Bilderbuch, aus einer Anzeige, sichtbar und doch nur eine Erfindung des Marketings. Er war die lebendig gewordene Lüge der Menschen. Und neben ihr saß ich nun, gegenüber der Frau, die diese ständig in die Welt posaunte, mit beeindruckenden, prunkvollen Bildern. Mehr war es nicht, nur die Kulisse auf der riesigen Bühne, die die Menschen errichtet hatten und sie war gepflastert mit deren Werten. Klein und kariert, wie jene in der Stadtmitte, den Einkaufs Meilen, die die Produkte verkauften, die angepriesen wurden. Nicht aber von mir, denn die Fensterläden waren für mich leer und dunkel. Deshalb wohl erntete ich das Mitleid der Menschen, ich war schwach und blind und zu müde, um an ihren Rennen teilzunehmen. Wie ein alter Greis floh ich nun, und die Welt schenkte mir einige letzte Gefährten. Für meine letzte Reise, in die Wüste, da war genug Platz für mich, und dort war ich ihrem Mitleid nicht mehr ausgesetzt. In der Wüste musste man nicht sehen können, dort gab es nichts, nur Sand, aber in den konnte man nicht ungewollt einrennen, über den konnte man nicht stolpern. Deshalb freute ich mich für den Millionär und hoffte‚ dass er sich endlich von seinen vielen Kämpfen erholen und von seinen Verwundungen genesen konnte.
Kaum hatte der Chauffeur uns bis vor den Haupteingang gefahren, da ging das Schauspiel weiter. Wieder war der Millionär zu aufgebracht, um darauf warten zu können, dass ihm die Tür geöffnet wurde.
Mit einem übertriebenen Einsatz seiner Kraft und einem Angst einflößenden Gestöhne, stürzte er selbstständig aus dem Auto. Die weitaus flinkere Journalistin hüpfte gleich hinter ihm in den Flughafen rein.
Ich war keiner der gerne auffiel und so schlenderte ich in einigem Abstand gemütlich hinterher. Trotz der einen Kamera, die es nicht lassen konnte mich zu verewigen, erregte ich keinerlei Aufsehen. Dieses erntete in vollem Umfang der Millionär mit seiner wachsenden Gefolgschaft. Neben den zwei Kameraleuten, die uns gefolgt waren, und nun nur ihn anvisierten, war auch die ihn nicht mögende und doch anhängliche Medienvertreterin immer an seiner Seite.
Bald waren aber zudem sämtliche Zuständigkeitsbereiche damit beschäftigt, die tobende Lawine aufzuhalten. Doch diese baute sich immer weiter auf, und je mehr Leute auf Konrad einredeten, er möge doch Frieden geben, umso mehr brüllte er. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Dabei bezweifelte ich stark, dass ich dann dabei sein wollte.
Doch ich hatte keine Wahl, oder besser, ich ließ mir keine. Da war ein Ziel, und diesmal wollte ich es erreichen, es war nicht mehr länger nur ein Traum. Auch wenn ich mir bei diesem Anblick beinahe wünschte aufzuwachen.
Den Sicherheitskräften schenkte der Dicke keinerlei Beachtung. Er wollte den Chef sprechen, wie man aus seinem, nicht ganz freundlichen Geschreie, vermuten konnte.
Eine zierliche, junge Dame aus dem Informationsstand stöckelte der Truppe entgegen, in dem mitleiderregenden Versuch, die Situation zu schlichten. Doch es schien mir, als wolle sich Konrad keineswegs beruhigen. Mich beschlich das Gefühl, als bräuchte dieser einen solchen Trubel um sich, und als ob er es gut verstünde sich selbst in Rage zu reden.
Auch wenn ich davon ausgehen musste, dass das einzige Problem, das er sah, die Tatsache der Einlassverweigerung an einem ´Zutritt verboten` Tor war, so war dies nicht länger aus den Beschuldigungen, die er den Flughafenmitarbeitern an den Kopf warf, zu erahnen.
«Was ist das denn für eine Behandlung?»... «Wo versteckt sich denn der Chef, was für ein Saftladen?!», und weniger beherrschte Ausdrücke warf er, nicht unbedingt sparsam, um sich. Auch wenn die Schar um ihn deutlich überfordert war, blieb sie fest an ihm kleben, und da Konrad nicht zu bremsen war, bewegte sie sich immer weiter. Selbst an Absperrungen innerhalb des Flughafens kamen wir nun mühelos vorbei, da sich eine solche in Bewegung gesetzte Masse nicht mehr aufhalten ließ.
Auch ich, der ohne die Meute auskommen musste, und zudem auch wollte, schaffte es ebenfalls an den verblüfften Wachleuten und Kontrolleuren vorbei. Bei mir war es weniger die überrollende Wirkung meines Auftretens, als vielmehr die Kamera, die unermüdlich meinen fast teilnahmslosen, unbeeindruckten Gesichtsausdruck einfing. Mit einem fassungslosen Blick auf die abziehende Meute, und einem desorientierten auf mich, den glanzlosen Star vor der Kamera, glaubten sie sich im falschen Film und ließen mich unbehelligt passieren. Dabei konnte ich es ihnen nicht einmal verdenken. Allein der in der Masse untergehende und doch nicht klein zu kriegende Konrad war ein eigenartiger Anblick, aber dann noch ich, der ich völlig nüchtern hinterher trabte und dem Film die nötige farblose Leinwand bot, ließen die Dramatik der Show einfach überwältigend erscheinen.
Doch dann geschah das Unvermeidliche, die Lawine hatte die Talsohle erreicht und blieb abrupt vor einer Treppe stehen. Konrad gelang es nicht diese zu erklimmen, da er, inmitten der Meute, sich keine sicheren Schritte erringen konnte.
Unglücklicherweise bemerkte ich den Stillstand zu spät und prallte ungewollt mit der Schar zusammen und wurde dank der Autorität, die mir die Kamera verlieh, auch gleich aufgenommen und bis zu Konrad durch gelassen.
Dieser schien den Überblick vollends verloren zu haben und wusste nicht, auf wen er seinen selbst gezündeten Zorn nun richten sollte.
Ich wusste nicht wieso und es war mir nicht nur unangenehm peinlich, sondern gar unheimlich, doch kaum fand ich Beachtung inmitten der sich wichtig fühlenden Menschenmasse, als diese auch schon verstummte.
Diese Kamera, die fortwährend meine Nase begutachtete, machte mein unauffälliges Wesen zunichte. Sie zwängte mich in eine Rolle, in die ich nicht passte. Wie mit diesen anmaßenden, beschränkenden Werten, in die ich mich nicht zwängen wollte.
«Konrad, gibt es ein Problem?», fragte ich, da mir die Stille nicht schmeckte. Völlig ruhig blieb ich nach außen und hoffte, dass sich dieser Trubel bald wieder legen würde. Zu viele Augen, die mich ansahen, die mich auszogen. Und dann noch diese richtenden Kameras.
Der Dicke empfand diese enttäuschte Frage als entwürdigend. Und ich merkte wie sein Kampf mich zu beeindrucken an dieser Stelle eine Wendung erfuhr.
«Diese Leute hier wollen uns nicht zum Flugzeug lassen», erklärte er mir, nun wie beiläufig, als handele es sich um eine Nichtigkeit, um die ich mich nicht zu sorgen brauchte.
«Ein Service ist das», lachte ich in dem Versuch die angespannte Stimmung zu lösen.
«Wieso wollt ihr uns nicht zum Flugzeug lassen?», fragte ich den erstbesten Sicherheitsmann, der mir vor mein Mundwerk kam.
Völlig verwirrt, aber freundlich und mit einem lächerlich verwunderten Blick löste er diesen von Konrad und erweckte den Eindruck als wolle er nur noch mit mir reden.
«Zu welchem Flug möchtet ihr denn?», stotterte er taumelnd, weil die Wand fehlte, gegen die er Sturm gelaufen war.
Der Dicke ließ seine kräftige, dröhnende Stimme erschallen und die Flugnummer drang an mir vorbei, bis in das Ohr eines jeden, der sich um uns geschart hatte.
«Natürlich», stammelte der junge Sicherheitsmann verlegen, als hätte er es wissen müssen.
Auch auf die anderen schien diese einfache Nummer durchaus Eindruck zu machen, denn es dauerte nicht lange, bis sich die Traube aufgelöst hatte.
«Ihr müsst nur kurz durch den Scann und schon könnt ihr rein», sagte er, als wäre die besondere Behandlung eine Selbstverständlichkeit.
Ich, der noch nicht geflogen war, vermutete, dass es sich dabei um ein besonderes Training für Stressvermeidung unter den Gästen handeln musste. Einfach den Anstrengenden, Lautstarken jeden Wind aus den Segeln nehmen und ihnen das Gefühl geben nach deren Pfeife zu tanzen. So musste das nun hier sein, denn ich hatte noch nie erlebt, dass Unruhestifter so unbehelligt davon kamen. Den Trick musste ich mir merken, einfach nur brüllen und wie ein Affe herumtanzen, doch ich wusste, dass ich das nie tun würde. Ich tauchte lieber ab, unauffällig erreichte ich auch meine Ziele. Auch jetzt, ich hatte nur einmal fragen müssen. Schon verwirrend das Ganze. Ich wusste nicht recht, wo ich nun dran war, mit dem Dicken und mir.
Eilends drehte sich der junge Mann um und erwartete von uns, dass wir ihm folgten. Er schien Konrads Rache zu fürchten, denn er schlug ein Tempo an, dem ich kaum zu folgen vermochte, geschweige denn die lebende Lawine hinter mir, die sich nur langsam und in kleinerer Ausführung als vorhin in Bewegung setzte.
Von den Superlativen meines Begleiters stimuliert erwartete ich ein überwältigendes Flugzeug, vielleicht sogar, dass er die Hälfte der Sitzplätze für uns gebucht hatte. Zumindest ließ der Service, des sich ständig besorgt umblickenden Sicherheitsmannes dies vermuten. So viel Aufhebens konnte man wegen einem Gast nicht machen, vielleicht, und der Gedanke bereitete mir Angst, hatte er gleich den ganzen Flug gechartert. Zutrauen würde ich es ihm, und das meinte ich an dieser Stelle keineswegs als Kompliment.
Ich hatte mir den Spaß erlaubt den Sicherheitsmann einzuholen und nun großen Schrittes neben diesem her zu eilen.
Der eine Kameramann, der mich wohl als das ruhigste und einfachste Ziel erachtet hatte, musste seinen Irrtum nun mit vielen Schweißperlen sühnen.
Auch wenn ich, aus mir unverständlichem Grund, der Kamera keinerlei Beachtung mehr schenkte, so konnte ich mich doch einiger belustigter Blicke dem Träger gegenüber nicht erwehren. Selbst für eine solch belanglose Szene ging er an seine Grenzen, weil die Kunden Vollständigkeit verlangten. Sie wollten hautnah dabei sein. Jedes Detail wollten sie haben, nicht des Interesses wegen, das sicher nicht, nur aus Prinzip. So was brauchten die Menschen. Prinzipien, die von anderen respektiert und erfüllt wurden.
Selbst meine Freundin vom Fernsehen konnte die Lücke nicht mehr schließen. Das war doch mehr Sport, als ich gedacht hatte, dieses Reisen.
Auch der Dicke hatte es sich offensichtlich anders vorgestellt. Deshalb drehte ich mich nicht mehr zu ihm um. Das war Teil des Spiels, er musste mir zeigen, wie mächtig er war, und deshalb musste ich nun wegsehen. Dabei wollte ich ohnehin nicht zurück blicken, zu viele Altlasten.
Ich wollte weg, und der Mann neben mir scheinbar auch. Er raste an den Gängen nur so vorbei, die Sicherheitsabsperrungen hatten wir hinter uns, die Fluggäste, die lärmend durcheinander stürmten, berührten uns nicht mehr.
«So, da sind wir!» Abrupt blieb er stehen. Er war außerordentlich zufrieden mit seiner Geschwindigkeit, denn als er mich ansah, hatte er etwas im Blick, das mich um Bestätigung oder gar Lob bat, dafür, dass er uns so schnell hergebracht hatte.
Ich musste kurz für mich schmunzeln und versuchte, mit hochgehobener Hand, als wolle ich mich an der Nase kratzen, es zu verbergen. Außer uns beiden und dem erschöpften Kameramann war noch keiner zu gegen.
So von meiner Begleitung isoliert, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Vor mir stand abermals ein Trupp Wachpersonal und diesmal war mir keine Lawine vorausgeeilt, die mir den Weg freigeräumt hatte.
Mit einem hilflosen Blick an meinen übereifrigen Wegweiser, bat ich ihn wortlos mir die ihm vorschwebende Prozedur zu erläutern, was er in seinem erwachten Tatendrang gleich tat.
«Ihr müsst jetzt nur noch durch die Kontrolle, und dann kann es losgehen», sagte er und verwies auf die bereits wartenden Angestellten des Flughafens.
In meiner unbeholfenen Unwissenheit gab ich mich dem Ablauf so hin, wie sie es von mir verlangten.
Es war ein seltsames Gefühl so abgetastet zu werden, bisher hatte ich es bloß aus dem Fernsehen gekannt. Irgendwie kam ich mir dabei wichtig vor. Erklären konnte ich es mir aber nicht. Vielleicht lag es aber daran, dass es vor laufender Kamera geschah. Alles wurde dokumentiert. Jeder Schritt, fast wie der eine, der Wichtige, als täte ich das hier für die Menschheit, solch ein Aufheben machte der Kastenträger. Mit seinem Gerät brachte er ständig den Metalldetektor zum Piepsen, beim Versuch mich aus jeglicher Perspektive einzufangen.
Doch dann musste er ablegen, Sicherheit ging vor, und es beruhigte mich, dass er sie wohl nicht mit an Bord würde nehmen dürfen.
Als ich nun auf die andere Seite der Absperrung blickte und die Gesellschaft herannahen sah, bedauerte ich es fast, dass die Kamera nun blind war, denn dieser Anblick wäre es wert gewesen, festgehalten zu werden.
Der Dicke und die überdrehte Frau lieferten sich einen stummen Kampf. Beide wollten sie dominant sein, und doch so gelassen wie nur möglich erscheinen, um zu zeigen, dass dies alles für sie alltäglich war.
Dem Dicken schmeckte es nicht, dass ich bereits ohne den geringsten Aufwand alles Nötige hinter mir hatte, und seine Hilfe nicht in Anspruch nehmen musste.
Er sah sich gerne in der Rolle desjenigen, der alles regelte, der die Fäden in Händen hielt, doch diesmal war er zu spät gekommen. Es zerriss ihn, dieses tatenlos hinnehmen zu müssen. Er konnte nicht schneller gehen, sonst hätte er an anderer Stelle Hüllen fallen lassen müssen und wäre dann keuchend hier eingetroffen.
Kleider machen Leute, und er hatte sich zu groß präsentiert, als dass ihn die Seinen nun noch fassen konnten. Wieder fiel mir der Vergleich des Luftballons ein, und ich merkte, wie seine Hülle immer dünner wurde und diese verkraftete keine Risse. Ich musste achtgeben, dieses Spiel war sein Ventil, und ich stand an der Drossel, gab ich zu viel nach, so würden wir wegfliegen, öffnete ich nicht genug, so würde er platzen. Das würde eine spannende Reise werden, und das Abenteuer reiste mit, als blinder Passagier sozusagen. Und blind war er wirklich, dieser Millionär. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre abermals über einen Kieselstein gestürzt. Dabei machten die Angestellten nur ihre Arbeit. Konrad jedoch schien seine Probleme damit zu haben. Wenigstens versuchte er diesmal ruhig zu bleiben, vielleicht, weil er sah, dass ich ihn fast flehend ansah, dass er kein weiteres Aufsehen erregen sollte. Er fühlte wohl, dass er sich über die Dinge stellen musste, damit ich noch zu ihm aufblicken konnte. Mich überzeugte man nicht mit einem brachialen Auftreten, sondern mit Souveränität. Und in dem Moment, als der Dicke den Kloß herunter schluckte, der ihn fast wieder zum Schreien gebracht hätte, wusste ich, dass die erste Runde beendet war.