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1. Das Kaiserreich auf dem Weg zum Interventionsstaat

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Mit der Reichsgründung 1871 setzte ein kurzzeitiger Aufschwung ein, der den Trend des seit zwei Jahrzehnten anhaltenden Wachstums fortzusetzen schien. Daran geknüpfte überoptimistische Erwartungen führten zu vermehrten industriellen Investitionen sowie Spekulationen an der Börse. Die Euphorie endete wenig später durch eine Krise, für die eine Kombination von finanziellen Faktoren und Überinvestitionen verantwortlich zeichnete. Die bis zum Ende der 1870er Jahre anhaltende Gründerkrise wurde von den Zeitgenossen dramatischer wahrgenommen, als sie in einer rückblickenden quantitativen Betrachtung erscheint. Aus dem Verständnis des 20. Jahrhunderts betrachtet, handelte es sich lediglich um eine „Stockungsspanne“, der schon ab Mitte der 1890er Jahre ein erneuter Aufschwung folgte.

Gründerkrise

Immerhin unterbrach die Gründerkrise aber den ersten industriellen Konjunkturzyklus jäh. Sie präsentierte sich vorrangig als Krise der neuen Industrien und ihrer Vergesellschaftungsformen. Der Börsenwert der deutschen Aktiengesellschaften halbierte sich zwischen 1872 und 1873. Zahlreiche Betriebe gingen in Konkurs, was sich als Abbau der spekulativ aufgebauten Überkapazitäten interpretieren lässt. Die neue Gesellschaftsform der Aktienbank war in besonderer Weise betroffen: Von den gut 100 Aktienbanken, die im Gründerboom gegründet worden waren, gingen binnen kurzer Zeit mehr als zwei Drittel bankrott. Solche Krisenerscheinungen schienen auf das Ende der Blüte der industriell-gewerblichen Entwicklung zu deuten. Bei fallenden Preisen blickten die Politiker mit Besorgnis auf die Intensivierung des Wettbewerbs auf den internationalen und den nationalen Märkten. Zeitgenössische Berichte thematisierten vermehrt das Problem der Arbeitslosigkeit in der Industriegesellschaft. Mit Skepsis verfolgte die Reichsregierung unter Kanzler Otto von Bismarck (1815–1898) das Emporkommen der sozialdemokratischen Opposition.

Wirtschaftspolitische Wende

Die Wahrnehmung gewandelter politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse zog zwischen 1876 und 1884 eine Trendwende der deutschen Wirtschaftspolitik nach sich. Der Politikwechsel hatte langfristig wirksame Kennzeichen, die unter anderem in der zollpolitischen Wende des Jahres 1879 gründen. Noch zum Zeitpunkt der Reichsgründung hatte sich der neue deutsche Nationalstaat durch niedrige Importzölle ausgezeichnet, die an die preußische Freihandelspolitik anknüpften. Während des Gründerbooms erfolgte sogar eine unilaterale Öffnung des deutschen Marktes, d.h., im Vertrauen auf die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft senkte die Reichsregierung die Zölle unter das in Handelsverträgen festgelegte Niveau, ohne mit Gegenleistungen von den Vertragspartnern zu rechnen. Damit standen Landwirtschaft und Schwerindustrie der internationalen Konkurrenz auf dem inländischen Markt ungeschützt gegenüber. Angesichts gleichzeitig sinkender Transportkosten führte diese Marktöffnung zu bedeutenden Getreideimporten aus Übersee, insbesondere aus den USA. Trotz des wachsenden Einsatzes von Kunstdünger konnte die deutsche Landwirtschaft den neuen Wettbewerbern nicht die Stirn bieten. Gegen die wachsende Konkurrenz formierte sich eine starke Opposition der nichtkapitalistischen Kräfte in der Gesellschaft des Kaiserreichs, die vom Adel und den ostelbischen Großagrariern dominiert war.

Zollpolitik

Im Zuge der zollpolitischen Wende von 1879 erließ die Reichsregierung agrarische Schutzzölle, die insbesondere die Getreideimporte betrafen, aber auch die bereits abgeschafften Viehzölle wurden wieder eingeführt. Die Großagrarier begriffen derartige auf dem Neomerkantilismus fußende Maßnahmen als Schutz ihrer ökonomischen Basis. Die Rolle der agrarischen Schutzzölle darf nicht unterschätzt werden, denn selbst am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren noch knapp 40 Prozent der Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt, d.h., er umfasste fast genauso viele Erwerbstätige wie der gewerbliche Sektor.

Stichwort

Neomerkantilismus

Die merkantilistische Zoll- und Gewerbepolitik des 18. Jahrhunderts wollte den Absatz der heimischen Produzenten auf dem inländischen Markt vor auswärtiger Konkurrenz schützen. Im 19. Jahrhundert beurteilten die Nationalökonomen dieses Ordnungskonzept negativ, obwohl der absolutistische Staat durchaus rationale Erwägungen verfolgt hatte: Das Streben nach einer positiven Handels- bzw. Zahlungsbilanz war der Inbegriff des merkantilistischen Denkens. Die Herstellung veredelter Produkte im eigenen Land verhinderte, dass Geld, d.h. Edelmetall in Form von Silber oder Gold, in andere Länder abfloss. Die Veredelung der Rohstoffe im eigenen Land war wirtschaftsfördernd, denn dies schuf Arbeit und ließ neues gewerbliches Know-how entstehen. Zollschutz konnte zur Förderung der jungen Gewerbezweige dienlich sein.

Der Neomerkantilismus, den die zollpolitische Wende von 1879 einleitete, wich in relevanten Punkten vom Modell des 18. Jahrhunderts ab. Das deutsche Kaiserreich wies zu keinem Zeitpunkt eine aktive Handelsbilanz auf. Fortwährende Importüberschüsse führten zu einer defizitären Handelsbilanz, die allerdings durch die Dienstleistungsbilanz und die Nettoerträge aus dem Auslandsvermögen ausgeglichen wurde. Klassische Ziele der merkantilistischen Politik wurden nicht mehr verfolgt, denn Instrumente wie die explizite Exportförderungs- oder die Importsubstitutionspolitik fehlten. Unterdessen bereitete der Neomerkantilismus die Grundlage für das Entstehen der interventionistischen Wirtschaftspolitik, d.h. den Willen zur administrativen Einflussnahme auf den Wirtschaftsprozess.

Auch industrielle Lobbyisten forderten Zölle, darunter Vertreter bedeutender Branchen wie der Textil- und Schwerindustrie. Die Industriellen sprachen aber selten mit einer Stimme, zum Beispiel waren die Webereien an billigen Garnimporten aus England interessiert, während die Spinnereien auf den Schutz des inländischen Marktes drängten. Die heimischen Eisenproduzenten pochten auf Schutzzölle, während die weiterverarbeitenden Zweige der Schwerindustrie für billige Roheisenimporte eintraten. Aufstrebende neue Branchen wie der Maschinenbau, die Chemie- und die Elektroindustrie nahmen weltweit eine Führungsposition ein und hatten deshalb kein Interesse an Zöllen. Trotz dieses heterogenen Gefüges setzten sich – anders als in den Jahrzehnten zuvor – die Befürworter höherer Zölle durch. Die Regierung Bismarck führte in einer Reihe von Branchen Industriezölle ein, die vor allem die Basisprodukte wie Garne oder Roheisen betrafen. Deutschland stand mit seiner zollpolitischen Wende keineswegs allein, denn auch andere Länder, z.B. Frankreich 1881, gingen zu protektionistischen Zolltarifen über. Allein Großbritannien hielt die Fahne des Freihandels weiterhin hoch. In dieser Phase, die zudem durch den Beginn des imperialistischen Wettlaufs („scrumble for Africa“) geprägt war, ging die Welt, die sich für kurze Zeit auf dem Weg in einen globalen Freihandel befunden hatte, langfristig zu einer Abschottung der industriellen Großmächte voneinander über. Durch den Weltkrieg steigerte sich die antiliberale Handelspolitik zu einem internationalen Protektionismus, der in der Zwischenkriegszeit anhielt und erst mit der Liberalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg endete.

Innovationsdichte

Für Länder wie Deutschland, dessen Industrien sich an der Spitze des technischen Fortschritts bewegten, hemmten die hohen Zölle mancher Branchen die Ausfuhrgeschäfte nicht nachhaltig, wie man an der Mitte der 1890er Jahre einsetzenden Aufschwungphase erkennen kann. Sie beruhte nicht zuletzt auf einer starken Position im Exportgeschäft und erklärte sich durch große Produktivitätsfortschritte in den führenden Industriezweigen der Elektrotechnik, der Chemie und des Maschinenbaus. Nicht nur in Deutschland, sondern auch international war die Zeitspanne bis zum Ersten Weltkrieg durch eine bemerkenswerte Innovationsdichte gekennzeichnet. Der russische Ökonom Nikolai Kondratjew (1892–1938) deutete die internationale Hochkonjunktur als erste industriell geprägte „lange Welle“ und betrachtete als ihre Grundlage die hohen Investitionen in neue Techniken.

Staatliche Intervention

Innenpolitisch verfolgte Bismarck mit der wirtschaftspolitischen Wende um 1879 das Ziel, die auch als Schutzzollparteien bezeichneten Konservativen für seinen Regierungskurs einzunehmen. Damit einher ging die Zurückdrängung der liberalen und freihändlerisch gesinnten Parteien. Die Erhebung von Agrar- und Industriezöllen hatte einen weiteren wichtigen Effekt, nämlich die Erhöhung der Reichseinnahmen, zumal die Regierung Gesetze zur Besteuerung importierter Genussmittel wie Tabak, Tee und Kaffee folgen ließ. Mit der Erhöhung der Staatseinnahmen vergrößerten sich die interventionspolitischen Spielräume. Die Staatsausgaben erreichten einen Anteil von 15 Prozent des Sozialprodukts, sodass der öffentliche Sektor zu einem nennenswerten Faktor im Wirtschaftskreislauf wurde. Bismarck erlaubte diese Entwicklung, sich einem zeitgenössisch als Staatssozialismus bezeichneten Gesellschaftsmodell zuzuwenden.

Stichwort

Staatssozialismus

Da der Marxismus nur wenig konkrete ordnungspolitische Vorstellungen bot, war der Staatssozialismus im Kaiserreich die eigentliche ordnungspolitische Alternativvorstellung zur Marktwirtschaft. Hans-Ulrich Wehler zufolge war er eine „paternalistische Reformbereitschaft einiger aufgeschlossener Konservativer“. Als Begründer der Denkrichtung galt der Nationalökonom Adolph Wagner; weitere namhafte Vertreter der auch als „Kathedersozialisten“ bezeichneten Gelehrten waren Werner Sombart (1863–1941) und Lujo Brentano (1844–1931). Wagner erweiterte den Eigentumsbegriff dadurch, dass er neben dem vorherrschenden privaten auch für staatliches bzw. öffentliches Eigentum eintrat. Die letzteren Formen ermöglichten die Gestaltung von Zugriffsrechten des Staates, sei es durch Verstaatlichung, Kommunalisierung oder Monopolisierung, sodass sich die privat erzielten Gewinne minderten. Als Mittel des Staatssozialismus empfahl Wagner eine gesellschaftspolitisch orientierte Fiskalpolitik, d.h. der Staat sollte Steuern erheben und Ausgaben tätigen, die einem sozialen Zweck genügten und damit zur Einkommensumverteilung beitrugen. Ein Beispiel war Bismarcks Vorschlag zur Finanzierung des Staatsbeitrags zur Sozialversicherung aus indirekten Steuern, die durch Errichtung eines staatlichen Tabakmonopols einzunehmen waren.

Das Konzept des Staatssozialismus stand, wie man es von der Begrifflichkeit vermuten könnte, der konservativen Wende keineswegs entgegen. Ein beredtes Beispiel dafür war das Verbot der sozialistischen Organisationen im Jahr 1878. Unter dem Vorwand der Verhinderung „gemeingefährlicher Bestrebungen“ billigte die konservative Reichstagsmehrheit ein Gesetz, das jenseits der allgemein gültigen Rechtsnormen auf die Zerschlagung und polizeiliche Verfolgung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zielte. Im Gegenzug zur politischen Unterdrückung leitete die Regierung Schritte zum Ausbau der staatlichen Verteilungspolitik ein, für die dank der Erhöhung der Staatseinnahmen größere Spielräume existierten. Das Kernstück des von Bismarck vorangetriebenen patriarchalischen Politikkurses war das System der Sozialversicherung, das im Sinne einer obrigkeitlichen Gewährung installiert wurde. Die zwischen 1883 und 1889 erlassenen Gesetze zur Errichtung der staatlich organisierten Pflichtversicherung deckten die drei grundlegenden Risiken der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung ab: Krankheit, Unfall sowie Alter und Invalidität. Überhaupt stiegen die Aufwendungen von Reich, Einzelstaaten und Kommunen für Bildung und Soziales. Trotz der aktiven Einflussnahme auf die Verteilung des Nationaleinkommens lässt sich im Kaiserreich noch keine zielgerichtete staatliche Wirtschaftspolitik ausmachen. Es existierten weder Konzepte noch Instrumente für eine Struktur-, Wachstums- oder Konjunkturpolitik.

Staatsloyale Bürokratie

Schließlich hatte die konservative Neuorientierung der bismarckschen Politik noch eine Auswirkung auf die Bürokratie, die gleichfalls langfristig wirksam war. Mit der Abkehr vom Liberalismus erfolgte eine systematische Auswechslung der freihändlerisch und liberal orientierten Staatsbeamten. Die unter Preußens Innenminister Robert von Puttkamer (1828–1900) in den 1880er Jahren unter strenger Anwendung der Sozialistengesetze betriebene Säuberung der Verwaltungen erhöhte die Einflussmöglichkeiten der staatstragenden korporativen Gruppen, insbesondere der preußischen Junker und der Großindustriellen. Diese Kräfte entwickelten sich zur Säule des Obrigkeitsstaates, weil sie Bismarcks Politikwechsel loyal unterstützten.

Wirtschaft und Kolonialismus

Dem Drang nach außen mittels des Erwerbs von Kolonien stand das deutsche Kaiserreich zunächst zögerlich gegenüber, wurde dann aber ab 1884/85 umso intensiver davon erfasst. Das Konzept des Sozialimperialismus unternahm den Versuch, die Deutung der innenpolitischen und wirtschaftlichen Situation des Kaiserreiches mit dem Wandel seiner Außenpolitik in Verbindung zu bringen.

Stichwort

Sozialimperialismus

Die These des Sozialimperialismus besagt, dass die Reichsregierung den aus der ungelösten Arbeiterfrage resultierenden innenpolitischen Druck durch außenpolitische Erfolge zu kompensieren suchte. Nach Hans-Ulrich Wehler handelte es sich um die „Strategie herrschender Eliten, […] die Dynamik der Wirtschaft und der sozialen und politischen Emanzipationskämpfe in die äußere Expansion zu leiten, von den inneren Mängeln des sozialökonomischen und politischen Systems abzulenken und durch reale Erfolge seiner Expansion […] zu kompensieren“. Als Argumente für die Annahme, dass expansive Außenpolitik zu wirtschaftlicher Prosperität führe, wurden die Schaffung neuer Absatzmärkte in den Kolonien und eine dortige Ansiedlung der überschüssigen Bevölkerung genannt. Die deutschen Siedlungskolonien seien zu fördern, um die Auswanderung nach Amerika einzudämmen. Der verschwindend geringen wirtschaftlichen Bedeutung der Kolonien standen nach Max Weber (1864–1920) lediglich die „Beutegewinne“ einzelner Kolonialgesellschaften gegenüber, die von Lobbyisten wie dem Alldeutschen Verband oder dem Deutschen Flottenverein unterstützt wurden.

Wirtschaftliche Kolonialdebatte

Parallel zur konservativen Wende setzte im Kaiserreich eine Debatte um die Notwendigkeit territorialer Expansion ein, in der wirtschaftliche Argumente nicht unbedeutend waren. Eine große öffentliche Aufmerksamkeit erzielten Äußerungen wie diejenige des Journalisten und promovierten Theologen Friedrich Fabri (1824–1891), der als rheinischer Missionsinspektor mit der Ausbildung nach Übersee entsandter Missionare betraut war. Er trat vehement für deutsche Kolonialambitionen ein und betonte bei seinem Appell auch wirtschaftliche Argumente.

Quelle

Friedrich Fabri: Bedarf Deutschland der Kolonien?

Aus: Fabri, Friedrich: Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung, Gotha 1879, S. 1, 46 u. 110.

Es dürfte nachgerade an der Zeit sein, die Frage „Bedarf Deutschland der Colonien?“ zur öffentlichen Verhandlung zu bringen. Schon einmal, unter dem ersten Freudenrausch über das neu gebildete Deutsche Reich, im Jahre 1871/1872, durchflogen unsere Presse flüchtige Rufe nach Colonien. […] Sowohl die Reichsregierung, wie die öffentliche Meinung verhielten sich damals ablehnend, so dass der schwache Anlauf rasch wieder verflogen war. Heute liegen die Dinge wesentlich anders. […] Die Gründe für diesen Stimmungswechsel sind unschwer zu erkennen. Vornämlich drei Gesichtspunkte dürften in fraglicher Richtung bestimmend wirken: unsere wirtschaftliche Lage, die Krisis unserer Zoll- und Handelspolitik, und unsere sich mächtig entwickelnde Kriegsmarine. […] Wir bedürfen daher nicht nur einer gesunden Steuer- und Zollpolitik […], der baldigen Wiedergewinnung reichlicher, lohnender Arbeit; wir bedürfen neuer, fester Absatz-Märkte. […] Aber sollte die deutsche Nation, von Haus aus seetüchtig, gewerblich, wie merkantil befähigt, zur agriculturellen Colonisation vor anderen geschickt, und mit so reichlichen, verfügbaren Arbeitskräften ausgestattet wie kein anderes der modernen Cultur-Völker, nicht auch auf diesem neuen Wege sich erfolgreich Bahn brechen? Wir zweifeln daran um so weniger, je überzeugter wir sind, dass die Colonial-Frage heute bereits eine Lebens-Frage für die Entwicklung Deutschlands geworden ist.

Für Fabri war die kolonialpolitische Wende nicht nur Teil deutscher Großmachtpolitik, sondern verkörperte auch sein Verständnis einer aktiven Handelspolitik, die nicht mehr auf der Idee des Freihandels, sondern auf dem Schutzzollsystem basierte. Wirtschaftliche Argumente wie die Wiedergewinnung von Arbeit wurden mit der Forderung nach dem Erwerb von Kolonien für das Deutsche Reich verknüpft. Bei Anbruch des Zeitalters des Imperialismus verbanden führende Gruppen der deutschen Gesellschaft mit kolonialer Expansion die Hoffnung auf die Sicherung billiger Rohstoffquellen, die Schaffung von Absatzmärkten für industrielle Produkte und von Investitionsmärkten für den infrastrukturellen Ausbau, z.B. durch die Eisenbahn. Die öffentliche Meinung unterstützte den Erwerb von Kolonialbesitz bzw. die Sicherung von Einflusssphären in umstrittenen Gebieten wie China.

Finanzierung des Kolonialbesitzes

Ganz anders sah die Realisierung solch weitreichender außenwirtschaftlicher Hoffnungen aus. Der Konflikt um die wirtschaftliche Rolle der Kolonien entbrannte vor allem um die vorgezogene Reichstagswahl vom Januar 1907, der „Hottentottenwahl“, die notwendig wurde, weil das Parlament einen Nachtragshaushalt von 29 Millionen Mark zur weiteren Finanzierung des südwestafrikanischen Kolonialkrieges gegen die Nama ablehnte. Die Ablehnung der Kriegsfinanzierung begründeten die SPD sowie der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger (1875–1921), der ein halbes Jahr zuvor eine vernichtende „Kolonial-Bilanz“ vorgelegt hatte, mit den hohen Verwaltungskosten und dem geringen wirtschaftlichen Nutzen der Kolonien. Dagegen stemmten sich andere politische Gruppen, wie auf einem 1907 verteilten Flugblatt des Berliner Wahlausschusses der liberalen Parteien zu lesen ist: „Wenn die deutschen Kolonien gut ausgebaut und entwickelt werden, kann der deutsche Fabrikant an den Einkaufspreisen sparen und dafür seinen Arbeitern den Lohn erhöhen.“ Die dieser Aussage zugrunde liegende protektionistische Idee beruhte offensichtlich auf einer Kostensenkung für die Kolonialmacht, die mit Etablierung eines Exportmonopols an die inländischen Importeure weitergegeben werden sollte.

Prioritäten des Außenhandels

Die Vorstellungen vom außenwirtschaftlichen Nutzen der Kolonien entsprachen aber keineswegs der zeitgenössischen Realität. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der intraindustrielle Handel von ungleich größerer Bedeutung als der Handel mit den Kolonialgebieten. Für Deutschland galt wie für die übrigen europäischen Mächte, dass der Afrikahandel völlig vernachlässigenswert war. Insbesondere für Exporte spielte der neu kolonialisierte Kontinent keine Rolle, denn zwischen 1880 und 1910 gingen nur 1,4 Prozent der deutschen Exporte in afrikanische Länder. Selbst unter den afrikanischen Handelspartnern nahmen nicht die eigenen Kolonien, sondern das britische Südafrika und die nordafrikanischen Länder des Maghreb die führenden Positionen ein. Auch die Bilanz der Siedlungswirtschaft war keineswegs zufriedenstellend. Nur wenige deutsche Siedler ließen sich von den widrigen Klimaverhältnissen Südwestafrikas anziehen, wo profitable Agrarwirtschaft nur in Betrieben mit einer Größe von mehr als 5.000 Hektar zu betreiben war. Die Kosten für die Errichtung und den Unterhalt der tropischen Plantagen in Ostafrika, Kamerun und Togo lagen meist über deren Ertrag, sodass Produkte wie Baumwolle, Kautschuk, Erdnüsse, Palmöl, Nutzholz sowie Kaffee und Kakao auf dem Weltmarkt billiger zu erwerben waren. Nur die von Max Weber als Beutegewinne bezeichneten Profite einzelner Unternehmer stachen aus der negativen Kolonialbilanz heraus: Die 1888 an das Bergamt der Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika vergebenen Minenschürfrechte sicherten die exklusive Förderung von Kupfer und Bleierzen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs beliefen sich die jährlichen Exportwerte auf fünf bis acht Millionen Mark, die aber als Gewinne der Einzelgesellschaft verbucht wurden. Die deutschen Kolonien nahmen keineswegs die Rolle eines privilegierten Außenhandelspartners ein und boten auch kaum geeignete Siedlungsflächen oder Anlagemöglichkeiten für agrarische und infrastrukturelle Investitionen. Darüber hinaus erwies sich die Kontrolle der Territorien als kostspielig, wie der mit großer Härte geführte Kolonialkrieg gegen Nama und Herero (1904–1907) zeigte.

Korporatismus

Hinsichtlich der gesellschaftlichen Verfasstheit gewannen korporative Gruppierungen an Gewicht. Den aufstrebenden Gewerkschaften stellten sich mächtige Arbeitgeberverbände entgegen, die sich zudem zu Kartellen und Syndikaten zusammenschlossen. Der Hintergrund war, dass die Industriellen nach dem Schock der Gründerkrise trotz einer allgemein liberalen Haltung am Nutzen der reinen Wettbewerbswirtschaft zu zweifeln begannen. Durch Übereinkommen mit den Unternehmern der gleichen Branche wollte man schrankenlose Konkurrenz eindämmen und Regelungen herbeiführen, um die Produktion annähernd dem Bedarf anzupassen und eine Überproduktion zu verhindern. Kartelle wurden als „Kinder der Not“ betrachtet, die mit der Zollpolitik des Reichs einen Schutz gegen die ausländische Konkurrenz böten.

Stichwort

Kartelle (Syndikate)

Der Begriff Syndikat bezeichnete ursprünglich einen regionalen, auf eine Branche bezogenen Zusammenschluss von Personen, auch in der Arbeiterbewegung. Er wurde auf eine besondere Form von Unternehmenskartellen übertragen, die sich an hoch entwickelten Formen des Kartells, vor allem den US-amerikanischen Trusts, orientierten. Als „Kartelle höherer Ordnung“ basierten Syndikate auf Übereinkünften zwischen selbstständigen Unternehmen, die in der Regel auf vertraglicher Basis geschlossen wurden, um den Wettbewerb zu beschränken. Klassischerweise waren Preisabsprachen mit dem Ziel der monopolistischen Beherrschung des Marktes am bedeutendsten.

Zu den wichtigsten deutschen Industriekartellen zählte das von 1893 bis 1945 existierende Rheinisch-Westfälische Kohlesyndikat. Seine gemeinsame Vertriebsorganisation hatte die Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Als Unternehmerzusammenschluss vereinigte es die Zechenbesitzer im Steinkohlebergbau des Ruhrgebiets. Ebenfalls von großer Bedeutung war der 1904 gegründete Deutsche Stahlwerksverband, der bei seiner Gründung 87,5 Prozent der deutschen Flussstahlproduktion umfasste. Der Zusammenschluss der Stahlindustriellen unterhielt eine zentrale Verkaufsgesellschaft mit Sitz im Düsseldorfer Stahlhof. Syndikate und Kartelle standen in herausragender Weise für die Vermachtung der deutschen Wirtschaft, weshalb die Alliierten nach 1945 auf ihr generelles Verbot drängten.

1887 gehörten acht der 100 größten deutschen Industrieunternehmen einem Syndikat an, 1907 waren es 71 Prozent. Das wirtschaftliche Gewicht dieser Organisationen stieg in dieser Periode, zum Beispiel wurden 1907 drei Viertel der Wertschöpfung des deutschen Bergbaus durch Kartelle erwirtschaftet. Gleichzeitig nahm die Anzahl der ursprünglich 19 Bergbaukartelle bis 1910 auf sechs ab. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg zählte man in den unterschiedlichen deutschen Wirtschaftszweigen rund 700 Kartelle. Neben der industriellen Konzentration formierte sich auch eine agrarische Lobby, insbesondere der Bund der Landwirte, der sich seit seiner Gründung 1893 gegen den nachlassenden Protektionismus in der Ära des Reichskanzlers Leo von Caprivi (1831–1899) richtete. Trotz einer breiten klein- und mittelbäuerlichen Basis stellten die als Junker bekannten ostelbischen Rittergutsbesitzer die Führungspersönlichkeiten in diesem wichtigsten agrarischen Interessenverband.

Unter dem Eindruck solcher Tendenzen zur Vermachtung formulierten selbst Liberale wie Friedrich Naumann (1860–1919) Konzepte für einen staatlichen Eingriff mittels Wirtschaftspolitik. Angesichts der vielen Interessengruppen, zu denen er auch Sozialisten und Bodenreformer zählte, würden der Staat und die Verbände zu wesentlichen Wirtschaftsfaktoren.

Quelle

Friedrich Naumann zum Wandel der Wirtschaftspolitik

Aus: Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1906, S. 27.

Der Einzelne ist seines Glückes Schmied! Man zerbrach die alten Verbände und Zünfte, um den einzelnen freizumachen, und verlangte vom Staat, dass er nichts anderes tue, als das Eigentum zu schützen und den einzelnen sich bewegen zu lassen. Mit viel echtem Idealismus wurde diese Kunde vom Sieg des Individualismus vernommen und weitergegeben. Und doch ist heute alles voll von Motiven anderer Art. Alle Teile des Volkes treten mit Forderungen an den Staat heran. Die Forderungen der Sozialisten und Bodenreformer, die auf öffentliche Regelung der Produktion, des Wohnungs- und Hypothekenwesens hinauslaufen, finden willige Hörer. Der Staat und die Verbände werden Wirtschaftsfaktoren, an deren Notwendigkeit man glaubt. So wirkte das Wachsen der Masse. […] Das heißt aber mit anderen Worten: die Wirtschaftsleitung wird den Produzenten aus der Hand genommen und geht teils in die Verbände, teils an den Staat über. Die Zahl der wirtschaftlich leitenden Personen wird immer kleiner. Oft ist die Leitung nur noch Schein.

Da sich selbst Liberale für den Staat als Wirtschaftsakteur aussprachen, schien der Weg für die gesetzliche Implementierung des Staatsinterventionismus bereitet. Durch den Kriegsausbruch trat der Umbruch der wirtschaftspolitischen Rolle des Staates allerdings viel schneller und anders als erwartet ein.

Deutsche Wirtschaft und Politik

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