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Der Fremde

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Während Elisabeth die Trauben erntete, sah sie zwischendurch nach dem jungen Burschen in der Stube. Er hatte tatsächlich den ganzen Vormittag durchgeschlafen. Nach dem Mittagessen goss sie einen frischen Apfelschalentee auf und sah noch einmal nach ihm. Als sie eintrat, öffnete der junge Mann seine Augen und schaute sich nach ihr um. Sie stellte die Teekanne auf den Tisch und lächelte den Burschen an. Er atmete immer noch sehr kurz und schubartig, das Fieber war wohl nicht gesunken. Mit seinen glasigen blauen Augen sah er sie an und wirkte dabei leicht verwirrt. »Haben Sie mir geholfen?«, fragte er mit geschwächter Stimme.

»Ja. Du bist gestern Nacht schwer verletzt zu unserem Haus gekommen, deshalb haben wir dir geholfen.«

»Wer ist wir?«

»Adam und ich. Er ist mein Mann und ich bin die Elisabeth.«

Panisch blickte der junge Mann um sich und sprach im Flüsterton weiter. Sein Gesicht war von Furcht verzerrt. »Ist Adam der Mann mit dem Schäferwagen? Ist er hier? Er versteckt sich hinter dem Vorhang, stimmt’s?«

Elisabeth war im ersten Moment sprachlos und wusste nicht, wovon der junge Kerl redete. »Nein«, beruhigte sie ihn. »Adam ist mein Mann und er ist draußen im Wald unterwegs. Und er hat auch keinen Schäferwagen. Aber von wem sprichst du überhaupt?«

Der junge Mann schien ihre Frage gar nicht mehr wahrgenommen zu haben. Der plötzliche Anflug von Angst war wieder aus seinem Gesicht verschwunden und er schloss seine müden Augen.

Elisabeth schaute den Fremden erstaunt an und viele Fragen gingen ihr währenddessen durch den Kopf: Woher war er gekommen? Wo wollte er hin? Und wen meinte er mit dem Schäferwagen? Sie wollte sich schon von ihm abwenden, als er nochmals für einen kurzen Moment die Augen öffnete und ihr seine Hand entgegenstreckte. Er kämpfte sichtlich mit dem Fieber in seinem Körper, wodurch ihm das Sprechen sehr schwer fiel. »Danke, Elisabeth! Ich heiße Kilian.«

Elisabeth drückte seine Hand und nickte. »Du musst etwas trinken«, sagte sie und hob ihm fürsorglich die Tasse an den Mund.

Kilian nippte vom Tee und lächelte sie danach zufrieden an, dann schlief er wieder ein. Besorgt musterte Elisabeth den jungen Mann, von dem sie nun wenigstens den Namen wusste. Wenn das Fieber bis morgen nicht abklingen würde, musste sie für ihn ein Mittel zur Heilung finden. Einen Schwerkranken hatte sie lange nicht mehr bei sich gehabt. Aber für solche Fälle hatte sie das Kräuterbuch der Hildegard, auf das sie voll und ganz vertraute. Ihre Vorfahren hatten mit dessen Hilfe seit Jahrhunderten Kranke geheilt, doch viele von ihnen hatten deshalb selbst ihr Leben lassen müssen.

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

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