Читать книгу Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund - Страница 6

Prolog

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Mit einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit durchstreifte er im Flug die Finsternis. Es schien ihm eine Reise ohne Zeit und Ziel und doch fühlte er sich in dieser fremden Weite hier oben geborgen. Über ihm leuchteten unzählige Sterne schwach in der Ferne wie kleine Wegweiser zu unbekannten Orten. Unter ihm war alles vollkommen schwarz. Er flog einem Vogel gleich und spürte dabei die kühle Zugluft auf seiner Haut. Ein wärmendes Gefühl des Friedens und von großem Glück erfüllte ihn von innen. Gerne wäre er bis in alle Ewigkeit geflogen. Doch in einem Augenblick erloschen die leuchtenden Punkte am Firmament. Es wurde dunkel um ihn herum und mit jedem Atemzug kehrte die gewohnte Schwere seines Körpers zurück.

Er bemerkte, wie er wieder mehr und mehr zu Bewusstsein kam. Die friedliche Sternenwelt war verschwunden und mit ihr das traumhafte Gefühl vom Fliegen. Er lag auf hartem Boden mit dem Gesicht nach unten und spürte, wie in seinem Schädel ein grauenhafter Schmerz unablässig pochte. Er öffnete die Augen, doch um ihn herum blieb alles schwarz. Begleitet von dem Pochen im Kopf atmete er tief ein, wobei ein wohlbekannter Geruch seine Nase durchströmte. Ein Geruch, der Erinnerungen in ihm wach werden ließ. Schöne Erinnerungen an einen Tag, an dem er als kleiner Bub mit seinen größeren Brüdern Paul und Jakob am Waldrand eine Fuchsfalle gebaut hatte. Aus einer alten Holzkiste für Weinflaschen hatten sie damals eine ganz brauchbare Falle zusammengezimmert. Die Kiste hatten sie mit der offenen Seite nach unten gedreht und auf einen passenden Bretterboden genagelt. Eine der Seitenwände sägten sie auf und montierten sie mit einem Scharnier an die Holzkiste, das sie von einer alten Truhe abgetrennt hatten. Die Kiste hatte nun eine Falltür, die nach oben geöffnet werden konnte. Daran befestigten sie eine Schnur, die im Inneren mit einem Haken verbunden war, an dem ein Fleischköder hing. Es waren die Reste eines Schweins, die beim Nachbarhof nach der Schlachtung auf dem Misthaufen gelandet waren. Wenn ein angelockter Fuchs sich den Köder schnappen sollte, würde die geöffnete Tür durch die Bewegung an der Schnur sofort zuklappen. Ein Stein, den die Jungen zusätzlich auf der Falltür festbanden, sollte verhindern, dass der gefangene Fuchs die Tür öffnen konnte.

Zur Herbstzeit stellten er und seine Brüder die Falle gemeinsam am Waldrand neben dem Feld ihres Vaters auf und als Tarnung verteilten sie Laub von Eichen und Buchen auf dem Boden der Kiste. Tagelang legten sie sich damals in der Abenddämmerung in einem Dickicht in nächster Nähe auf die Lauer und warteten gespannt auf einen Vierbeiner. Sie lagen dort mucksmäuschenstill unter den Sträuchern auf alten Rupfensäcken, das gelbbraune Laub direkt unter ihren Nasen, und warteten geduldig. Je weiter die Dämmerung voranschritt und die Feuchte der Luft zunahm, desto intensiver schien der Geruch des Laubs zu werden.

Von einem älteren Schulfreund hatte sein Bruder Paul erfahren, dass man bei einem Händler bis zu sechzig Reichsmark für ein Fuchsfell bekam. Die Hoffnung der Jungen war groß und tatsächlich war ihnen ein paar Tage später ein Fuchs in die Falle gegangen. Doch was dann passierte, hatten sie nicht erwartet. Zum Töten des Tieres stibitzten sie heimlich die Schrotflinte ihres Vaters. Durch einen Spalt in der Kiste wollten sie den Fuchs mit dem Gewehr möglichst am Kopf treffen, damit das Fell nicht durchlöchert wurde. Als sie nach langem Warten tatsächlich einen Fuchs in der Falle lärmen hörten, rannten sie siegessicher und voller Freude dorthin. Aber der Fuchs wehrte sich. In die Enge getrieben, entwickelte das Tier Kräfte, die ihm die Jungen im Leben nicht zugetraut hätten. Der Fuchs tobte wie wild in der Kiste und fauchte in schrillen Tönen. Im Rückblick ging alles in Sekundenschnelle. Jakob hielt die wackelnde Kiste fest, in welcher der Fuchs sich immer heftiger hin und her warf. Paul legte das Gewehr an und er selbst sollte den Fuchs mit Stöcken, die er durch die Ritzen der Kiste schob, in Position bringen. Allerdings war der Stein auf der Falltür nicht schwer genug. Der Fuchs konnte sie einen Spalt aufdrücken und war mit dem Kopf schon beinahe draußen. Paul schrie, Jakob solle die Falltür fester zudrücken. Doch der Fuchs hatte sich, flink, wie er war, bereits zur Hälfte mit seinem Körper durchgezwängt und biss Jakob in den Arm. Er schrie auf und ließ die Falltür los, sodass der Fuchs in den dunklen Wald entwischen konnte. Die Bisswunde an Jakobs Arm blutete stark. Schockiert ließ Paul das Gewehr fallen und kam seinem Bruder zur Hilfe. Mit zitternden Fingern band er sein Halstuch um den Arm des Bruders und knotete es fest zu. Nach kurzem Zögern waren sie zusammen wie geschlagene Krieger nach Hause gegangen. Ihre Mutter war entsetzt gewesen und ihr Vater hatte sie für ihre Torheit bestraft. Als Ältester hatte Paul wegen seiner Verantwortungslosigkeit die meisten Ohrfeigen einstecken müssen.

Das war über zwanzig Jahre her, und genau diese Erinnerung an frisches, herbstlich duftendes Laub, feucht und kühl, war ihm wieder ins Gedächtnis gekommen, als er nun, Jahre später, irgendwo in der Finsternis auf dem Boden lag und mit der Ohnmacht kämpfte.

Langsam stützte er sich auf seine Hände und bemerkte, dass sein Kopf und Oberkörper mit etwas bedeckt waren. Es war sein Mantel, der ihm irgendwie über Rücken und Kopf gefallen sein musste. Der raue Stoff war nicht das Einzige, was er auf seiner Haut verspürte. Seine Haare und vor allem seine rechte Gesichtshälfte schienen ihm mit irgendetwas verklebt. Mit den Fingern tastete er vorsichtig über sein Gesicht, dabei schoss ein Schmerz von tausend Nadelstichen durch seinen Schädel. Er zuckte zusammen und atmete tief durch. Dann ging er langsam auf die Knie und legte den Mantel beiseite, damit er endlich etwas sehen konnte. Um ihn herum war es Nacht, nur der halbvolle Mond spendete ein bisschen Licht in der Dunkelheit. Trotz der lähmenden Schmerzen gelang es ihm aufzustehen. Er betrachtete seine Hand. Im fahlen Mondschein konnte er eine dunkle Substanz erkennen. Zaghaft roch er daran und leckte an einem seiner Finger. Ein seltsam vertrauter Geschmack wanderte über seine Zunge. Ihm wurde klar, dass es Blut war – sein Blut! Aber warum er blutete und wie das alles passiert war, wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Das Pochen im Kopf war zu groß, als dass er hätte nachdenken können. Schwindel überkam ihn und seine Beine begannen nachzugeben. Er brauchte dringend Hilfe. Mit aufkommender Panik sah er sich um und nahm dabei die Landschaft in Augenschein. Er befand sich auf einer großen Lichtung, die von finsterem Wald eingerahmt wurde. Im nahen Unterholz raschelte etwas und der gespenstische Ruf eines Uhus durchdrang die Nacht. Etwa fünfzig Schritt entfernt von ihm stand ein altes Haus. Das Fachwerk war teilweise mit Efeu oder etwas Ähnlichem bewachsen, doch seine Sehkraft war von der Dunkelheit und den starken Schmerzen so getrübt, dass er es nicht recht erkennen konnte. Die Fensterläden waren geschlossen und dennoch entdeckte er an einem der unteren Fenster schwaches Licht. Es drang durch die Spalte der Fensterläden und ließ seine Hoffnung auf Hilfe wachsen. Entschlossen atmete er tief ein und ging auf den verheißungsvollen Schein zu. Wie ein Betrunkener schwankte er über die Lichtung. Als er direkt vor dem Fenster stand, öffnete er schwerfällig einen der beiden Holzläden. Im Inneren des Zimmers schummerte das Licht einer Petroleumlampe. Dort schien jemand an einem Tisch zu stehen. Er konnte es nicht recht erkennen, denn sein Sichtfeld verschwamm immer mehr zu einem Brei aus hellen und dunklen Streifen. Er begann zu schlottern, und von der schrecklichen Angst erfüllt, es könnte mit ihm zu Ende gehen, rief er um Hilfe. Doch seine Stimme versagte, sodass nur ein schwaches »Hiill …« zu hören war. Mit letzter Kraft klammerte er sich am Fensterbrett fest, kratzte mit seinen Fingernägeln über das Holz und sackte schließlich in sich zusammen. Dann wurde ihm wieder schwarz vor Augen.

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

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