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Der dürre Georg

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Ernatsreute im Linzgau, September 1903

Georg Back war ein Raubmörder, der stets unentdeckt blieb. Seine Opfer waren ausschließlich Fremde und den Leuten im Dorf war er nur als gewöhnlicher Wegewart und Tagelöhner bekannt. Wegen seines Aussehens nannten sie ihn den »dürren Georg«, denn er war recht groß und auffällig schmal. Dennoch war Georg kräftig und für seine über fünfzig Jahre äußerst zäh. Sein Gesicht prägten kantige Wangenknochen und eine markante Hakennase, und unter seinen Augen hatte er dunkle Ränder, dass die Leute im Dorf meinten, er leide an der Wurmkrankheit. Zudem hatte er dünnes Haar, das meistens von einem kurzkrempigen Schäferhut verdeckt wurde. Dass ihm seine Beute buchstäblich über den Weg lief, lag daran, dass Georg Back als Wegewart auf den Wegen und Straßen von Ernatsreute tätig war. Auf diese Weise waren ihm so manche Opfer nichts ahnend in die Fänge geraten. Er lockte sie meist in einen Hinterhalt, beraubte sie und entledigte sich ihrer auf brutale Art und Weise. Ob Reisende, fahrende Krämer oder Landstreicher, letztendlich war Georg jedes Opfer recht, solange es ein bisschen Geld bei sich trug und allein unterwegs war.

Als Georg an diesem Nachmittag von der Arbeit auf dem Weg nach Hause war, erspähte er von Weitem den jungen Burschen, der vor ihm allein auf der Landstraße nach Ernatsreute lief. Er trug einen Korb auf dem Rücken, was Georg auf einen fahrenden Händler oder dergleichen schließen ließ. Georg fuhr mit seinem Schäferwagen langsam an ihn heran.

»So wie es aussieht, bist du schon länger unterwegs«, sagte er und lächelte den jungen Kerl freundlich an. »Wohin soll es denn gehen?«

»Nach Owingen«, antwortete der Bursche.

»Ich kann dich gern ein Stückle mitnehmen, denn ich fahr in diese Richtung.«

Der Fremde willigte ein, stieg neben ihm auf den Kutschbock und gemeinsam fuhren sie weiter.

»Woher kommst du denn?«, fragte Georg wissbegierig.

»Von Ravensburg«, antwortete der Kerl.

»Bist du ein fahrender Händler?«

»Ein fahrender Schuhmacher, um genau zu sein. Ich habe einen langen Tagesmarsch hinter mir und bin dir sehr dankbar, dass du mich mitnimmst. Ich weiß nicht, wie lange meine Füße mich noch getragen hätten.«

»Dann hast du bestimmt Durst und einen rechten Hunger?«, fragte Georg vielversprechend.

»Das kann man sagen, ja«, entgegnete der Bursche eifrig nickend.

Georg spielte den Mitleidsvollen. »Herrje, ich kenne so arme Kerle wie dich, die die längste Zeit auf der Straße unterwegs sind und fast nix zu essen dabeihaben. Von denen habe ich schon viele gesehen. Darum lade ich dich zum Vesper ein. Mein Hof liegt auf dem Weg. Und danach fahre ich dich weiter nach Owingen. Was meinst du?«

Der Schuster stimmte dankend zu und kurze Zeit später saßen sie gemeinsam in Georgs Küche am gedeckten Tisch.

Georg Back lebte seit Jahren allein in seinem Tagelöhnerhaus, dem sogenannten Schäfergütle. Das kleine Haus lag auf der großen Wiese unterhalb der Burghöfe, dort wo die Landstraße von Ernatsreute nach Owingen führte. Die Wiese hatte in alten Zeiten den Flurnamen Wolfsgalgen bekommen, denn um der zunehmenden Wolfsplage Herr zu werden, hatten die Schäfer früher dort Fleischköder an kleinen Sicheln aufgehängt. Die gefräßigen Wölfe schnappten nach dem Fleisch in der Höhe und hängten sich dadurch selbst am Wolfsgalgen auf. Doch Wölfe waren im Linzgau seit fast hundert Jahren nicht mehr gesehen worden. Unterhalb der Wiese floss der Geißbach den Hang hinunter. Der Bach entsprang im Wald Fronholz auf der Anhöhe schräg gegenüber, durchquerte die Felder hinter Ernatsreute und floss an der Landstraße unterhalb vom Schäfergütle unter einer Brücke hindurch. Kurz danach wurde der Geißbach zu einem kleinen Weiher angestaut. Dieser speiste weiter unten den Zufluss zu einer Sägemühle, der Hangmühle von Gerhard Frommel. Durch die Mühle geleitet, gab der Geißbach dem oberschlächtigen Wasserrad den nötigen Antrieb für die Säge und floss danach weiter in den Aachtobel hinab. Gegenüber dem Schäfergütle, auf der anderen Seite der Landstraße, stand auf dem Gewann Öschle ein weiteres Tagelöhnerhaus, das ähnlich aussah wie das von Georg. Dort wohnte die alte Witwe Rechle.

Georg Backs Vater Johannes war Schäfer gewesen sowie auch dessen Vater. Mit Georg sollte die Tradition des Schäferdaseins der Familie Back jedoch enden, denn er konnte der Arbeit mit den Viechern nichts abgewinnen. Deshalb hatte er nach einer anderen Tätigkeit gesucht und war zum Wegewart von Ernatsreute geworden, zuständig für alle Straßen, Wege und Brücken, die zum Dorf und seiner Gemarkung gehörten. Die Gemarkungsgrenze von Ernatsreute reichte im Norden bis hinauf zu den Burghöfen, im Osten bis kurz vor Wackenhausen, im Süden bis zum Schönbuchhof und im Westen bis zum Fronholz. Als sein Vater verstorben war, erbte der junge Georg Haus und Hof. Wobei das Schäfergütle der Backs schon damals in einem schlechten Zustand gewesen war. Seine Mutter war kurz nach dem Vater gestorben und seine beiden Schwestern hatten später auf andere Höfe eingeheiratet. Der junge Georg verkaufte die Schafe und konnte so einen Teil der Schulden bezahlen, die auf dem Grundbesitz lasteten. Weniger aus Liebe, sondern vielmehr aus der Not heraus hatte er Antonia Gerster aus Lippertsreute geheiratet, denn er hatte schließlich ein Weibsbild für seinen Haushalt gebraucht. Ihr Gesicht hatte nicht die Reize einer jungen Frau gehabt, stattdessen hatte es ihn mit den groben Zügen mehr an ein Mannsbild erinnert. Antonia stammte ebenfalls aus einer kleinen Tagelöhnerfamilie, dementsprechend gering war ihre Mitgift bei der Heirat ausgefallen.

Das ebenerdige Haus der Backs war aus einfachem Fachwerk gebaut, mit einem strohbedeckten Dach. Im rechten Teil des Hauses war eine kleine Tenne mit dem Stall für die Ziegen und Hühner. Hinten führte von dort eine Tür in das Außengatter. In der linken Haushälfte hauste Georg allein, seit Antonia vor acht Jahren an einem Hirnschlag gestorben war. Kinder hatte er keine, schon aus dem einfachen Grund nicht, weil er und Antonia für sich selbst nicht immer ausreichend zu essen gehabt hatten. Dazu kam, dass Georg Kinder schlichtweg hasste. In den vergangenen Jahren war das Haus ohne Antonia immer mehr verkommen, aber der Dreck und die Unordnung störten Georg nicht. Er war die meiste Zeit mit dem alten Schäferwagen seines Vaters unterwegs, in dem er tagelang hausen konnte. Das Schäfergütle war so die meiste Zeit verwaist.

Während sie aßen, schenkte Georg seinem Gast reichlich Most ein und ließ dessen Glas nicht leer werden. Nach ein paar Gläsern schien ihm der ideale Zeitpunkt für einen Angriff, denn dann würde der junge Kerl sich nicht mehr so gut wehren können, dachte er sich. Anders als sein Opfer hielt Georg sich beim Most zurück, gerade so, dass es nicht auffiel. Während des Vespers unterhielten sie sich die ganze Zeit über das Handwerk des Schuhmachers und dessen Verlobte, die er bald heiraten wollte. Nach dem vierten Glas sah Georg den passenden Moment gekommen. Er wollte sein Opfer niederschlagen, es ausrauben und letztendlich töten. Als fahrender Schuhmacher führte der Bursche sicher einiges an Geld in seinen Taschen mit sich, vermutete er.

»Ich danke Gott, dass ich meine Anna gefunden habe«, faselte der Kerl schon leicht betrunken. »Ich werde sie bald heiraten und dann ist sie endlich mein Weibsbild. Und um Geld für eine Familie brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Mindestens zehn Kinder soll sie mir schenken. Schließlich habe ich ja einen reichen Großonkel«, protzte er und lachte angeheitert.

Bei diesen Worten wurde Georg hellhörig. Der Bursche war von dem vielen Most inzwischen so redselig geworden, dass er nicht mehr aufhören wollte. »Und ich weiß auch ganz genau, wo der Onkel das Geld versteckt hat, nämlich in einer Milchkanne auf dem Dachboden«, erzählte er.

Ab diesem Moment konnte sich Georg nicht mehr zurückhalten.

»Da hast du aber ein Glück«, sagte er. »Wo wohnt denn dein Onkel?«

»In Owingen. Deswegen will ich dorthin«, antwortete der Schuhmacher. Dann nahm er einen großen Schluck Most und redete wieder über seine Anna. Aber Georg, der das Vermögen des Großonkels schon zum Greifen nah vor sich sah, ließ nicht locker. Wie ein Raubtier biss er sich an der Erzählung über das viele Geld fest und kam wieder darauf zu sprechen. »Wie ist denn dein Großonkel an so viel Geld gekommen?«

»Der alte Mann hat ein Leben lang gespart. Das wäre nichts für mich«, antwortete der Bursche und schüttelte den Kopf. »Das muss schon ein eintöniges Leben sein. Aber wenigstens hat er dabei an mich und meine Anna gedacht.« Er lachte freudig.

Wieder ging das Gespräch in eine andere Richtung, als Georg es wollte, weshalb er langsam ungeduldig wurde. Schließlich musste er wissen, wo genau der Großonkel wohnte. In Owingen gab es viele Häuser und Höfe und ohne den Namen konnte die Suche schwierig werden. Bereitwillig ließ Georg seinen Gast noch ein paar Sätze zu seinem dummen Weib erzählen, dann riss ihm der Geduldsfaden. »Wo zum Teufel wohnt er denn?«, schrie er laut.

In diesem Moment wirkte der junge Schuhmacher wie aus einem Traum gerissen. Er sah Georg skeptisch an. »Warum willst du das wissen?«

»Nun ja, als Wegewart komme ich viel rum«, gab sich Georg unbedarft. »Vielleicht kenne ich ja deinen Onkel.«

Der Schuhmacher schwieg und Georg konnte ihm das Misstrauen im Gesicht ansehen. »Ich glaube nicht, dass du ihn kennst. Er lebt sehr zurückgezogen.«

Georg hätte vor Wut auf den Tisch hauen können. Aber er versuchte, sich den Zorn nicht anmerken zu lassen. Er leerte sein Glas, stand auf und murmelte vor sich hin, dass es nicht so wichtig sei. Unter dem Vorwand, dass er noch einen Krug Most holen wolle, ging er hinaus. Draußen in der kleinen Tenne nahm er einen Dreschflegel zur Hand und kam damit in die Küche zurück. Er würde den Schuhmacher gefügig prügeln, und sobald dieser den Namen des Großonkels preisgegeben hatte, würde er ihn beiseiteschaffen.

Zwar war das Überraschungsmoment auf Georgs Seite, allerdings war der junge Bursche durch sein Misstrauen wachsam geworden. Trotz des vielen Mosts, den er getrunken hatte, war er immer noch sehr flink. Beim Anblick des Dreschflegels sprang er sofort auf und konnte Georgs Schlag um Haaresbreite ausweichen. Beim zweiten Schlag gelang es ihm ebenso, doch langsam nahm seine Reaktionsfähigkeit ab. Mit dem dritten Schlag traf Georg den Schuhmacher mit dem Dreschflegel direkt am Kopf. Für einen Augenblick konnte er das Blut sehen, das dem Kerl aus einer klaffenden Wunde seitlich herunterlief. Doch vom Schlag getroffen, schien der Schuhmacher neue Kräfte in sich zu entdecken. Wie ein tollwütiger Hund stürzte er sich auf Georg und riss ihm den Dreschflegel aus der Hand. Georg verpasste ihm einen ordentlichen Hieb mit der Faust in die Seite, aber der Schuhmacher ließ sich dadurch kaum beeindrucken. Wieder wollte Georg ihm die Faust in die Seite schlagen, doch erstaunlicherweise konnte ihm der wendige Bursche erneut ausweichen. Schließlich packte ihn der Schuhmacher und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen den Küchenschrank. Er stürzte zu Boden, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Als Georg wieder zu sich kam, war es bereits mitten in der Nacht. Er lag auf dem Boden und ein stechender Schmerz am Hinterkopf ließ seinen Körper zusammenzucken. Im ersten Moment musste er sich sortieren, denn er besaß keine Erinnerung mehr daran, was geschehen war. Er lag auf dem Fußboden in der Küche, hinter ihm der Küchenschrank, dessen hölzerne Schubladenknöpfe er zum ersten Mal von unten betrachtete. Im schummrigen Licht weiter oben entdeckte er die Balken der Zimmerdecke, zwischen denen Spinnen in den vergangenen Jahren ihre Netze gewoben hatten. Leicht benommen zog Georg den Arm unter seinem Körper hervor, auf welchem er längere Zeit gelegen haben musste. Danach richtete er sich auf und tastete mit der rechten Hand vorsichtig den Hinterkopf ab. Er grübelte nach und sah sich währenddessen in der Küche um. Auf dem Küchenboden herrschte ein großes Durcheinander: kaputte Gläser, Messer, Vesperbretter und Essensreste. Neben den aufgestapelten Holzscheiten am Herd entdeckte er den Dreschflegel. Und bei dessen Anblick kam ihm wieder ins Gedächtnis, wie alles passiert war.

Georg setzte sich für einen Moment auf die Bank am Küchentisch. Er musste sich sammeln, sein Kopf schmerzte immer noch. Die Ellenbogen stützte er auf den Tisch und legte sein Gesicht in die offenen Handflächen. Mit den Fingern rieb er sich langsam über die Stirn, als würden die Kopfschmerzen dadurch besser werden. Dann nahm er seine Hände vom Gesicht und schaute sich um. Die Sachen des Schuhmachers waren nicht mehr da. Der Bursche hatte doch den Tragekorb in der Küche abgelegt – dessen war Georg sich ganz sicher. Weit konnte der Kerl jedenfalls nicht gekommen sein, schon gar nicht mit der Verletzung am Kopf. Vermutlich lag er irgendwo in einem Straßengraben und Georg brauchte ihn nur einzusammeln. Dann würde er aus ihm herauspressen, was er wissen wollte. Entschlossen ging er nach draußen und fuhr wenige Minuten später mit seinem Schäferwagen vom Hof. Im Dunkel der Nacht war von ihm nur die schwach leuchtende Petroleumlaterne zu sehen, die am Dach seines Gefährts unruhig hin und her schwankte.

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

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