Читать книгу Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund - Страница 13
Auf der Jagd
ОглавлениеEs war inzwischen elf Uhr und Zeit zum Schlafen. Adam und Elisabeth schlichen leise aus der Stube hinaus und schlossen die Tür hinter sich. Während Elisabeth nach oben in die Schlafkammer ging, machte Adam einen kurzen Abstecher nach draußen hinter das Haus und erleichterte sich an einen Baum. Im oberen Stock des Hauses gab es zwei Schlafkammern, die über der Stube und dem Hinterzimmer lagen. Die Kammer über dem Hinterzimmer war Elisabeths und seine Schlafkammer. Adam betrat den Raum und hängte seine Kleidung in den Schrank. Gegenüber ihrem Bett war ein Waschtisch aus hellem Birnbaumholz mit einer grauweißen Marmorplatte und einem beigen Waschlavoir. Auf die Waschschüssel und den Krug waren schwarze Ornamente aufgemalt, die laufende Flötenspieler zeigten. Elisabeth hatte das Waschlavoir von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Sie goss Wasser in die Schüssel und wusch sich die Hände von der Kräuterzubereitung. Über dem Waschtisch hing ein großer Spiegel, der von einem verzierten Holzrahmen eingefasst war. Rechts neben dem Waschtisch befand sich ein Fenster. An der anderen Außenwand stand der Kleiderschrank und rechts davon waren ein zweites Fenster sowie eine Zwischentür. Über diese Tür war ihre Schlafkammer mit der anderen verbunden. Diese Kammer war meist verwaist. Ab und an wurde sie als Gästezimmer genutzt, wobei sich die Gäste bisher mehr oder weniger auf Elisabeths Schwester Brunhilde und deren Tochter Katharina beschränkten. Von der vorderen Schlafkammer gelangte man auf den Flur. Der restliche Teil des oberen Stockwerks, der mehr als die Hälfte des Hauses ausmachte, diente als Heustock.
Elisabeth hatte bereits das Nachthemd angezogen, öffnete ihren Zopf und zog ein Haarnetz über ihren Schopf. Dann schlüpfte sie unter die Bettdecke. »Du musst für mich morgen auf die Jagd gehen«, sagte sie. »Kannst du das machen?«
Adam setzte sich im Nachthemd auf die Bettkante. »Wieso? Was brauchst du?«, murmelte er.
»Ich brauche eigentlich nichts. Doch unser junger Gast braucht eine Kreuzspinne, damit das Fieber endlich sinkt. Kannst du gleich morgen früh nach einer suchen?«
»Von mir aus«, antwortete er. »Aber eins ist sicher: Der Bursche wird mir dafür ein paar Ster Holz hacken müssen, damit sich der ganze Aufwand auch lohnt!«
Elisabeth schmunzelte. »Das wird er wohl, sobald er wieder gesund ist. Da bin ich mir sicher.«
Adam löschte das Licht und sie legten sich schlafen.
Am nächsten Morgen kamen die beiden nicht ganz so früh aus dem Bett wie sonst. Als sie noch jünger gewesen waren, war Adam jeden Morgen um halb sechs von selbst aufgewacht – darauf war Verlass gewesen. Doch mittlerweile schien seine innere Uhr in die Jahre gekommen zu sein, weshalb sie manchmal erst um sieben aufstanden. So war es auch an diesem Tag, denn die Krankenversorgung des Patienten gestern Abend hatte beide länger als sonst wach gehalten. Während Adam sich anzog, weckte er Elisabeth und ging nach unten in die Küche. Dort nahm er die rote Emaille-Schüssel vom Regal und lief hinter das Haus an den Brunnen, um frisches Wasser zu holen. Er überlegte oft, wie alt der Brunnen wohl sein mochte. Der runde Brunnenschacht maß im Durchmesser fast eineinhalb Meter und war aus großen Wacken gemauert. Ein kleines Dach überdeckte seine Öffnung, unter dem eine Kurbelstange mit Seil und Holzeimer hing. Adam drehte an der seitlichen Kurbel und ließ den Eimer am Seil nach unten. Dort sammelte sich das Grundwasser, das er und Elisabeth jeden Tag brauchten. Vor Jahren hatte er die Tiefe des Brunnens nachgemessen und errechnete bis zum Grund fast sieben Meter. In diesen Erinnerungen zog er den gefüllten Eimer wieder nach oben. Das frische Wasser füllte er in die Schüssel und ging zurück in die Küche. Am Schüttstein nahm er beide Hände voll Wasser und rieb sich damit das Gesicht ab. Das Wasser aus dem Brunnen war kalt, doch Adam war es recht so, denn das kalte Wasser trieb ihm den Schlaf aus dem Gesicht. Als Nächstes nahm er ein Stück Kernseife zur Hand und seifte sein Gesicht ein. Danach rieb er mit den Fingern durch den Mund und über seine Zähne. Zum Schluss der Morgenwäsche hielt er sein Gesicht über die Schüssel und spülte alles kräftig ab. Inzwischen war Elisabeth angekleidet nach unten gekommen. Während er seine Morgenwäsche beendete, schaute sie in die Stube zu Kilian. Adam leerte die Schüssel und füllte frisches Wasser nach. Im Gegensatz zu ihm war Elisabeth das Wasser aus dem Brunnen am frühen Morgen zu kalt. Bevor sie ihre Morgenwäsche vornahm, musste das Wasser aufgewärmt werden. Dazu machte Adam Feuer im gusseisernen Herd und füllte einen Teil des Wassers in das Schiffchen auf der Herdplatte. Das warme Wasser würde Elisabeth später zum kalten in der Schüssel mischen, bis es ihr warm genug war. Als sie in die Küche kam, begann das Wasser im Schiffchen langsam zu dampfen. Adam saß am Tisch und schnitt sich eine Scheibe Brot ab.
»Wie geht es ihm?«, fragte er.
»Auf jeden Fall besser als gestern Abend«, antwortete Elisabeth. »Ich werde ihm erst einmal einen Tee machen, damit er wieder etwas trinkt. Und vielleicht isst er ja auch einen Brocken Brot.«
Elisabeth ging zum Regal und nahm einen kleinen Tonbehälter mit ihrer Apfelschalen-Teemischung herunter. Während sie den Tee für Kilian anrichtete, sprach sie weiter. »Gehst du jetzt gleich auf die Suche in den Wald?«
Adam schnitt sich zwei weitere Scheiben Brot ab und schmierte von Elisabeths Brombeermarmelade auf eine Scheibe. Auf die andere Brotscheibe gab er eine Portion Schmalz, streute Salz darüber und klappte die dritte Scheibe als Deckel darauf. Das Marmeladenbrot aß er sofort, das Schmalzbrot war sein Proviant für unterwegs.
»Ja, ich werde sicher den ganzen Vormittag unterwegs sein, bis ich eine gefunden habe«, antwortete er. »Aber ich kenne ein paar Stellen im hinteren Aachtobel, wo Kreuzspinnen hausen. Sie hocken in den Nischen der Felswände und spannen dort ihre Netze. Wenn ich nicht gleich auf Anhieb eine finde, muss ich sie eben anlocken. Brauchst du sie lebend oder wird sie sowieso verbrannt?«
»Nein, auf jeden Fall lebend!«, wandte Elisabeth ein.
»Aha, dann hat der Bursche also das Vergnügen, das kleine Vieh lebendig zu fressen. Dann gib ihm aber auch ordentlich Salz und Pfeffer dazu.« Er machte gern solche trockenen Bemerkungen und wusste, dass Elisabeth diesen Humor an ihm liebte. Schmunzelnd sah sie ihn an.
»Ach was, du Eselpeter! Die Spinne kommt lebendig in eine Nussschale, die er als Amulett um den Hals tragen muss, bis das Fieber endgültig verflogen ist.«
»Na, die wird aber ihre Freude haben, wenn sie ihre große Felsspalte gegen eine winzige Nussschale tauschen muss.«
»So steht es eben im Buch«, entgegnete Elisabeth. »Und solange es ihm hilft, soll es mir recht sein.«
Inzwischen war Adam fertig mit essen und stand vom Tisch auf.
»Mir auch. Dann geh ich jetzt auf die Jagd und suche nach einem prächtigen Exemplar für unseren Stubenburschen.«
»Willst du ein paar Trauben mitnehmen?«, fragte Elisabeth.
Adam nickte. In der Tenne standen die Körbe mit den Weintrauben, die Elisabeth gestern geerntet hatte. Sie ging kurz hinüber und kam gleich darauf mit vier großen Traubendolden zurück. Adam zog währenddessen seine Waldjacke an und packte sein Bündel. Elisabeth nahm ein kleines Tuch aus der Küchentischschublade, legte die Dolden darauf und band das Tuch zu einem Proviantbündel zusammen. Dann sah sie Adam verwundert an.
»Wo hast du dein Schmalzbrot?«
Wortlos deutete Adam auf das hellbraune Leinenbündel auf seiner Schulter.
»Hast du das Brot etwa ohne etwas drum herum eingepackt?«, fragte sie entsetzt.
»Ha ja, das macht doch nichts. Ich esse es nachher ja sowieso.«
»Adam! Ich will nicht wissen, wie viele tote Viecher du schon in diesem Beutel nach Hause getragen hast. Und jetzt packst du einfach dein Brot da rein? Gib mir deinen Proviant, dann lege ich ihn in ein Tuch.«
Elisabeths Blick war weniger vorwurfsvoll, sondern eher fürsorglich. Adam hätte es nicht weiter gestört, doch damit Elisabeth zufrieden war, nahm er das Leinenbündel von seiner Schulter und ließ sie das Brot zusammen mit den Weintrauben einpacken. Das fertige Bündel drückte sie ihm in die Hand.
»Schaust du auch bei den Fledermäusen nach?«, fragte sie.
»Ja, die Holzkästen wollte ich mir heute anschauen. Und was machst du heute Morgen?«
»Ich werde unserem Patienten zuerst etwas zu essen machen. Danach will ich der Hedwig, der Villinger Sofie und den Biehles ein paar Weintrauben vorbeibringen. Die Biehle-Mädchen essen die Trauben so gern und ich wollte schon seit ein paar Tagen bei Johanna vorbeischauen.«
»Wann wird sie denn das Kind zur Welt bringen?«
»Etwa zwei Monate müssten es noch sein«, schätzte Elisabeth.
»Na, dann hoffen wir, dass es ein Bub wird. Sonst hängt sich der Andreas am Ende noch auf.«
Elisabeth blickte ihn schockiert an.
»Adam! Sag kein dummes Zeug! Der arme Andreas leidet so schon genug, weil er immer noch keinen Hoferben hat!«
»Jaja«, grummelte er vor sich hin. »Es würde mich jedenfalls nicht wundern, bei so vielen Weibern auf dem Hof, wie der arme Kerl hat.«
Adam packte sein Bündel und machte sich auf den Weg. Etwa eine halbe Stunde später war er zu Fuß im hinteren Aachtobel an der Stelle angelangt, wo sich der Fußweg an die Felswand schmiegte und weiter in Richtung Norden führte. Unten am Gewässer hörte er das feine Zwitschern von Bachstelzen, die in den Sträuchern um das kleine Bächlein umherhüpften. Am Wegesrand brummten Hummeln über den roten Blüten der Taubnesseln und dazwischen trällerte ein Buchfink hoch oben in einer Baumkrone. Der felsige Erdboden war hier wie im ganzen Linzgau aus sandigem Molassegestein. Über die Jahrtausende hinweg hatten sich in die Felswand vom Sickerwasser tiefe Spalten gegraben. In der feuchten Dunkelheit dieser Spalten hausten neben Asseln, Würmern und Kriechtieren auch Kreuzspinnen. Während einer seiner vielen Waldgänge hatte Adam sie hier vor nicht allzu langer Zeit entdeckt. Als Elisabeth ihn gestern Abend im Bett darum gebeten hatte, eine Kreuzspinne zu fangen, war ihm diese Stelle wieder ins Gedächtnis gekommen. Als er dort ankam, legte er sein Bündel auf dem Felsgestein ab und machte sich gleich an die Arbeit. Eigentlich war es nicht schwierig, eine Spinne zu fangen. Adam machte sich ihre eigene Jagdtaktik zunutze. Zuerst sah er sich nach Gräsern und Sträuchern in der näheren Umgebung um. Was er brauchte, war ein Insekt, ein Köder, mit dem er eine Kreuzspinne aus ihrem Versteck locken konnte. Nach ein paar Minuten der aufmerksamen Suche fing Adam einen gelben Schmetterling, der über der Schafgarbe am Wegesrand flatterte. Den Schmetterling zwischen seinen Handflächen, lief er zu einer der Felsspalten mit einem Spinnennetz am Eingang, um ihn dort fliegen zu lassen. Dazu steckte er seine Hände in die Tiefe des Spalts hinein, bevor er sie öffnete. Im Halbdunkel des Felsgesteins flog der freigelassene Schmetterling instinktiv in Richtung Sonnenlicht. Kurz bevor er die ersehnte Freiheit wiedererlangt hätte, verfing er sich in den hauchdünnen Fäden des Spinnennetzes, das am Eingang der Felsspalte aufgespannt war. Vom zappelnden Schmetterling im Netz angelockt, kam flink eine Kreuzspinne angekrochen, die sich wohl seit Tagen auf die Lauer gelegt hatte. Zielstrebig krabbelte die Spinne auf den Schmetterling zu, dabei ahnte sie nicht, dass eine weitaus größere Kreatur auf sie selbst wartete. Als die Spinne in der Mitte des Netzes angelangt war und sich über ihre Beute hermachen wollte, zog Adam ein Einmachglas aus seiner Tasche, das er von zu Hause mitgenommen hatte. Den Deckel in der einen Hand und das Glas in der anderen, nahm er die Spinne auf dem Netz dazwischen ins Visier und schloss das Glas mit einer schnellen Bewegung. Er hatte die Spinne lebend gefangen. Immerhin musste sie nicht hungern, denn der Schmetterling wurde ebenfalls im Glas eingeschlossen. Zufrieden packte er die Beute in seine Leinentasche und nahm das Schmalzbrot heraus. Nach der kleinen Stärkung machte er sich auf den Weg zu den Fledermauskästen. Bis zum Nachmittag suchte er in den umliegenden Wäldern alle Fallen für die Abendsegler ab. Der erste Kasten war leer. Der zweite Kasten – ein paar Gehminuten weiter entfernt – enthielt Fledermäuse, doch es waren keine Abendsegler, sondern Langohren, wie er unschwer an den großen Ohren der schlafenden Tiere erkennen konnte. Der dritte Kasten war ebenfalls leer. Im Glauben, dass er nur mit einer Beute im Sack nach Hause kommen würde, machte sich Adam auf den Weg zum vierten Kasten. Zu seinem Erstaunen enthielt dieser zwei Abendsegler, die sich zum Ruhen an die Innenwände des Holzkastens klammerten. Die schlafenden Tiere waren ein leichtes Opfer für ihren Jäger. Adam nahm das Glas mit der Spinne, seinen restlichen Proviant und alles andere aus dem Leinenbündel, damit er eine Fledermaus dort hineinpacken konnte. Um sich vor Bissen zu schützen, zog er einen Stoffhandschuh an. Vorsichtig öffnete er den Deckel des Holzkastens, packte eine der beiden Fledermäuse und steckte sie in das Bündel. Mit der Beute in der Hand suchte er auf dem Waldboden nach einem dicken Stock. Er drückte das Leinenbündel so fest zusammen, dass die Konturen der Fledermaus im Stoff erkennbar wurden. Mit dem Stock holte er aus und gab zwei feste Schläge auf das Tier im Stoffbündel, das sofort tot war. Danach verschloss er den Holzkasten wieder, in dem der andere Abendsegler verblieb. Es hätte genauso gut ihn treffen können, dachte Adam sich, doch die Fledermaus im Kasten hatte überlebt und würde nun weiter im nächtlichen Wald umhergeistern. Adam verstaute den toten Abendsegler und die Spinne im Leinenbündel, setzte sich auf einen Baumstumpf und aß genüsslich die süßen Weintrauben. Währenddessen lauschte er einige Zeit den Geräuschen des Waldes und machte sich später auf den Rückweg zum Vrenenhof.