Читать книгу Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert - Marco Lupis - Страница 16
ОглавлениеAung San Suu Kyi
Friedensnobelpreisträgerin 1991
Frei von Angst
Auf Druck der UNO wurde Aung San Suu Kyi am sechsten März 2002 freigelassen. Die Nachricht ging um die Welt, auch wenn ihre Freiheit nur von kurzer Dauer war. Am dreiÃigsten Mai 2003 eröffnete eine Gruppe Militärs das Feuer auf ihren Konvoi, in dem sie sich zusammen mit vielen Anhängern befand. Es gab viele Tote und nur den Reflexen ihrer Fahrers Ko Kyaw Soe Lin war es zu verdanken, dass Aung San Suu Kyi sich retten konnte; allerdings wurde sie erneut unter Hausarrest gestellt.
Am Tag nach ihrer Freilassung im Mai 2002 gelang es mir auf Grund einiger Kontakte zu birmanischen Dissidenten, ihr eine Reihe von Fragen für ein âFerninterviewâ per Mail zukommen zu lassen.
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Die Wachen, die vor der Residenz von Aung San Suu Kyi, Leader der demokratischen Opposition von Birma Posten bezogen hatten, waren um zehn Uhr des gestrigen Tages still und heimlich wieder in ihre Kaserne zurückgekehrt. Durch diesen überraschenden Schachzug hatte die Militärjunta von Rangun die Restriktionen aufgehoben, die die Anführerin der Pazifisten oder âdie Ladyâ, wie sie von der birmanischen Bevölkerung genannt wurde, in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkten. Die Friedensnobelpreisträgerin von 1991 stand nämlich bereits seit Juli 1989 unter Hausarrest.
Seit gestern Morgen zehn Uhr stand es Aung San Suu Kyi nach fast dreizehn Jahren frei, das Haus am See zu verlassen; sie durfte reden, mit wem sie wollte, sich politisch betätigen, sie durfte ihre Kinder sehen.
Aber ist die schreckliche Isolation der âpassionierten Birmaninâ wirklich vorbei? Die im Exil befindliche Opposition glaubt noch nicht an die hochtrabenden Worte der Militärjunta, die erklärt hatte, sie ohne Bedingungen freizulassen.
Die birmanischen Exilanten warten ungläubig und beten. Seit gestern hat nämlich die birmanische Diaspora in allen buddhistischen Tempeln Thailands und Ostasiens zu Gebetszeremonien aufgerufen.
Sie, die Lady , hat nach ihrer Freilassung keine Zeit verloren und sich sofort im Auto zu ihrer Parteizentrale begeben, zum
Hauptquartier der Nationalen Liga für Demokratie (NLD), die bei den Wahlen von 1990 (mit achtzig Prozent aller Stimmen) eine überwältigende Mehrheit gewinnen konnten, während die Regierungspartei der Nationalen Einheit sich nur zehn der 485 Sitze sichern konnte. Die Militärregierung annullierte das Wahlergebnis, verbot alle Aktivitäten der Opposition, unterdrückte gewaltsam alle StraÃendemonstrationen und die Oppositionsführer wurden ins Gefängnis geworfen oder ins Exil verbannt. Das neue Parlament wurde nie einberufen.
Die italienische Ausgabe ihrer Autobiographie trägt den Titel âLibera dalla pauraâ. [frei von Angst] Entspricht das ihren aktuellen Gefühlen?
Jetzt fühle ich mich zum ersten Mal nach über zehn Jahren frei, frei im physischen Sinne. Insbesondere frei zu handeln und zu denken. Wie ich in meinem Buch schreibe fühle ich mich schon seit etlichen Jahren âfrei von Angstâ. Seit ich begriffen habe, dass der in meinem Land herrschende Machtmissbrauch mich verletzen und demütigen konnte, ja mich sogar hätte umbringen können, aber das konnte mir keine Angst mehr machen.
Heute, kaum in Freiheit, haben Sie sofort erklärt, dass man keinerlei Bedingungen an Ihre Freilassung geknüpft hat und dass die an der Macht befindliche Militärjunta Ihnen gestattet hat, auch ins Ausland zu reisen. Glauben Sie das wirklich?
Ein Sprecher der Junta hat in einer gestern veröffentlichten schriftlichen Verlautbarung angekündigt, dass «für das Volk von Myanmar und für die internationale Gemeinschaft eine neue Seite im Buch der Geschichte aufgeschlagen werden soll». In den letzten Monaten wurden hunderte von politischen Häftlingen freigelassen und die Militärregierung hat mir versichert, dass man auch weiterhin diejenigen freilassen wird, die â wie sie es ausdrücken â âkeine Gefahr für die Gemeinschaft darstellenâ. Alle Menschen hier wollen das nur allzu gerne glauben und hoffen, dass dies echte Anzeichen für einen Wandel sind. Die Rückkehr auf diese StraÃe in Richtung Demokratie, die mit dem Staatsstreich von 1990 plötzlich und gewaltsam unterbrochen wurde, aber im Herzen des birmanischen Volkes stets präsent war.
Jetzt, da Sie frei sind, befürchten Sie da nicht ausgewiesen- und von ihren Anhängern getrennt zu werden ?
Es sollte jedem klar sein, dass ich nicht gehe. Ich bin Birmanin und habe die britische Staatsbürgerschaft ausgeschlagen, um dem Regime keinen Angriffspunkt zu bieten. Ich habe keine Angst. Das gibt mir Kraft. Aber das Volk hungert, daher die Angst, die die Menschen schwach werden lässt.
Sie haben mehrfach und mit Nachdruck die Einschüchterungsversuche des Militärregimes gegenüber den Sympathisanten für die Demokratische Liga angeprangert. Gibt es die auch heute noch?
Wir sind in Besitz von Daten, die besagen, dass allein im Jahr 2001 über tausend militante Kämpfer der Opposition auf Geheià der Generäle des slorc [ State Law and Order Restauration Council/Name der Spitze der Militärjunta] festgenommen wurden. Viele andere sahen sich gezwungen, der Liga abzuschwören, nachdem sie eingeschüchtert und bedroht wurden. Für diese Art von illegalen Pressionen gibt es keine Rechtfertigung. Die Strategie erfolgt flächendeckend nach demselben Muster: Man setzt Einheiten staatlicher Funktionäre auf sie an, die âvon Tür zu Türâ gehen und die Bürger auffordern, die Liga zu verlassen. Den Familien, die sich weigern, droht man mit Repressalien wie dem Verlust des Arbeitsplatzes und oftmals sind es offene Drohungen. Viele Parteizentren wurden geschlossen und tagtäglich kontrollieren die Militärs die Zahlen der ausgetretenen Mitglieder. Das beweist, wie groà die Angst vor der Liga ist. Die Hoffnung, die wir alle im Augenblick haben ist die, dass dies alles wirklich und wahrhaftig ein Ende gefunden hat.
Hat Sie die heutige Wende, der Paukenschlag ihrer Befreiung, überrascht oder war es ein von den Militärs sorgfältig geplantes und vorbereitetes Manöver, das aus Gründen des âAnsehensâ in aller Welt erfolgte, quasi ein Vorhaben mit âAuÃenwirkungâ?
Von â95 bis heute kam es zu einer schrittweisen Lockerung der Isolation von Birma. Die Universität von Rangun wurde wieder geöffnet und möglicherweise haben sich die Lebensumstände leicht verbessert; dennoch wird der Gang der Geschichte von Birma im täglichen Alltag immer noch von Gewalt, Illegalität und Machtmissbrauch, sowohl gegen Dissidenten als auch gegen ethnische Minderheiten (Shan, We, Kajn) bestimmt, die sich nach Autonomie sehnen, sowie ganz generell, gegen die Mehrheit der Bevölkerung des Landes. Die Militärs haben immer mehr Probleme, sowohl intern als auch international betrachtet. In der Zwischenzeit betreiben sie weiter Drogenhandel, sofern es ihnen nicht gelingt, eine andere, ebenso lukrative Einnahmequelle aufzutun. Nur welche? Die Nation gleicht praktisch einem groÃen Panzerschrank, von dem nur das Militär die Kombination kennt und es wird nicht leicht werden, die Generäle davon zu überzeugen, diesen Reichtum mit den anderen fünfzig Millionen Birmanen zu teilen.
Wie sehen aktuell die Bedingungen für eine Dialogbereitschaft aus ?
Wir werden so lange keine wie auch immer geartete Initiative akzeptieren - die Rede ist auch von Wahlen, die von den Generälen einberufen werden â bis das 1990 gewählte Parlament nicht zusammengetreten ist. In meinem Land herrscht auch weiterhin die Angst. Einen echten Frieden wird es so lange nicht geben, so lange es kein echtes Engagement gibt, im Namen aller, die für ein freies und unabhängiges Birma gekämpft haben, auch wenn ihnen bewusst war, dass es nicht möglich sein würde, Frieden und Versöhnung für alle Zeiten zu sichern und dass es daher notwendig sein würde, die Anstrengungen im Sinne von mehr Wachsamkeit zu verdoppeln, mehr Mut zu beweisen und den wahren, aktiven aber gewaltlosen Widerstand im eigenen Herzen zu entwickeln.
Was kann die Europäische Union tun, um dem birmanischen Volk zu helfen?
Weiterhin Druck machen, damit die Generäle merken, dass die Welt ihnen auf die Finger schaut und dass sie nicht ungestraft weitere Schändlichkeiten begehen können.
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Am dreizehnten November 2010 erlangte Aung San Suu Kyi endgültig die Freiheit. 2012 bekam sie einen Sitz im birmanischen Parlament und am sechzehnten Juni desselben Jahres konnte sie den Friedensnobelpreis entgegennehmen. Nachdem die Regierung ihr endlich erlaubte hat, ins Ausland zu reisen, konnte sie nach England fahren, um nach vielen Jahren ihren Sohn wiederzusehen.
Am sechsten April 2016 wurde sie zur Staatsrätin (ziviles Staatsoberhaupt) von Myanmar ernannt.
Birma, die heutige Republik der Union Myanmar, ist noch immer kein völlig freies Land und seine Geschichte wird von der Diktatur der Vergangenheit belastet, die auch Auswirkungen auf die Zukunft der Nation hat, aber die Ãffnung des Landes der tausend Pagoden lässt Raum für mehr als nur die Hoffnung auf Freiheit und Demokratie.
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