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Mireya Garcia

Ich kann nicht vergeben

Während im Präsidentenpalast la Moneda noch der von Präsident Frey eilig einberufene Nationale Sicherheitsrat tagte, wurde Chile, das noch unter dem Eindruck des widersprüchlichen Urteils der Londoner Richter in Sachen Pinochet stand, von einer neuen Schreckensmeldung erschüttert, die die allgemeine Anspannung noch erhöhte: die Meldung von der Entdeckung eines neuen illegalen Inhaftierungszentrums aus der Zeit der Militärdiktatur, wo man nach den Enthüllungen des Bischofs von Punta Arenas, Monsignore Gonzales die Überreste von hunderten verschwundener Personen gefunden hatte.

Das Gefangenenlager befand sich im äußersten Norden von Chile, einhundertzehn Kilometer von der Hauptstadt der gleichnamigen Region Arica entfernt, in einer verlassenen Gegend und bereits seit geraumer Zeit hatte man dessen Existenz dort vermutet. Jetzt erfuhr man, dass die örtlichen Justizbehörden seit einigen Wochen in streng geheimer Mission in diesem Zentrum ermittelten. Trotz einer vom zuständigen Richter der dritten Strafkammer von Arica, Juan Cristobal Mera in diesem Fall verhängten Nachrichtensperre sickerte durch, dass die Massengräber mit den menschlichen Überresten sich im Küstenbereich der Gemeinde Camarones befanden, in unmittelbarer Nähe des alten Friedhofs der Kleinstadt, und das die Gegend von den Behörden “als leicht zugänglich” beschrieben wurde.

«Es gilt klarzustellen», wie der Gouverneur Nuñez Journalisten gegenüber eilig betonte, «dass die geografischen Koordinaten nicht sehr genau sind, aber wir wissen, dass der Richter bereits die Existenz von mindestens zwei Massengräbern überprüft hat. Sollte es zu einer eventuellen Exhumierung der Überreste der desaparecidos kommen, werden wir selbstverständlich dafür sorgen, dass diese in Gegenwart von Minister Juan Guzan Tapia erfolgt».

Die Hinweise, die zur Entdeckung dieses Gefangenenlagers geführt hatten waren Enthüllungen des Bischofs Gonzalez zu verdanken, der wiederum die Informationen zu diesem Fall nach eigenen Angaben «unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses» erhalten haben will. Unklar war noch, auf wie viele Lager sich diese Informationen bezogen.

Ich beschloss daher, der Sache nachzugehen und wollte mehr über die schreckliche Realität der chilenischen desaparecidos erfahren, indem ich ein Treffen mit der Leiterin des Familienverbands Verschwundener arrangierte.

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Gefangen genommen, gefoltert, in die Verbannung geschickt: Mireya Garcia hat während des Staatsstreichs von Pinochet mehr als nur ihre Jugend eingebüßt. Auch ihr Bruder ist verschwunden – inzwischen seit über einem viertel Jahrhundert. Heute ist Mireya Vizepräsidentin des Familienverbandes inhaftierter “desaparecidos” und für sie hat der Kampf auf der Suche nach der Wahrheit nie geendet.

Der Ort, an dem sie sich treffen – Tag für Tag schon seit Jahren – die Mütter und Großmütter, die alle ihren eigenen Schmerz im Herzen tragen, jede von ihnen mit dem Bild ihres verschwundenen Sohnes, Bruders, Ehemanns oder Enkels ist ein blaues Wohnhaus in der Nähe des Stadtzentrums von Santiago. Im Hof sind die Wände voll mit Fotos der desaparecidos. Für jeden von ihnen existiert ein vergilbtes Foto, zusammen mit stets demselben Satz, derselben Frage: “ Donde estan? “ «Wo sind sie?». Ab und zu wird diese Bilderwand, diese Serie von Fotos und derselben immer wiederkehrenden Frage, auf die es keine Antwort gibt, von einer Rose oder einer Blume unterbrochen.

Welche Erinnerungen haben Sie an jene Jahre des Putsches?

Eine sehr vage Erinnerung. Ich war zu Hause und erinnere mich noch, dass das Radio Militärmusik brachte. Dann waren da viele Männer in Uniformen auf der Straße. Es war mir damals nicht bewusst, dass an jenem Tag die Geschichte meines Landes, die Geschichte Chiles einen schweren Schlag erlitten hat ...

Wie alt waren Sie damals?

Ich gehörte zur sozialistischen Jugend von Concepcion, einer Stadt einige hundert km südlich von Santiago. Ich hätte gerne studiert, geheiratet, eine Familie gegründet, Kinder gehabt … Stattdessen stürzte alles auf mich ein, schnell, viel zu schnell. Heute kann ich über das Geschehene relativ ruhig reden, aber viele Jahre war ich nicht in der Lage, mir diese Tage ins Gedächtnis zu rufen. Nicht einmal gemeinsam mit meiner Familie...

Sie kamen eines Abends und holten uns. Ich war mit meinem Bruder allein zu Hause ...Ich wurde festgenommen (wenn man das so sagen kann) und anschließend gefoltert. Ehrlich gesagt kann ich bis heute nicht über diese Demütigungen sprechen...

Meinen Bruder habe ich nie wieder gesehen. Später, als mir zusammen mit meiner Familie die Flucht ins Ausland gelang, erfuhr ich in Mexiko vom endgültigen Verschwinden von Vicente. Ich erinnere mich an das Gefühl der schrecklichen Angst, daran, dass er vielleicht noch am Leben war, irgendwo, und ich war hier, tausende von Kilometern entfernt, ohne die Möglichkeit, nach Chile zurückzukehren, ohne dass ich ihn suchen, ihm helfen konnte.

Kam Ihnen damals die Idee, diesen Verein zu gründen?

Ja. In Mexiko waren wir viele, im Exil, alle hatten wir Verwandte, die man während der Diktatur von Pinochet verschwinden ließ. Wir gingen auf die Straße. Eine sehr unbedeutende Waffe im Kampf gegen eine so grausame Diktatur, aber so wurden die Menschen wenigstens auf uns aufmerksam und wurden informiert.

Wann gelang es Ihnen, nach Chile zurückzukehren?

Es dauerte fünfzehn Jahre. Ich fühle mich heute noch als Exilantin. Eine Fremde im eigenen Land.

Was konnten Sie über das Schicksal Ihres Bruders in Erfahrung bringen?

Sehr wenig. Nur, dass er in ein geheimes Gefangenenlager und Folterzentrum namens Cuartel Borgoño deportiert wurde, das heute nicht mehr existiert. Sie haben alles zerstört und mit Bulldozern plattgewalzt, um alle Spuren und Beweise zu vernichten.

Glauben Sie, dass Pinochet alleine für all das verantwortlich ist?

Nein. Und das ist die unglaubliche Seite von Chile. In den Archiven der Gerichte gibt es anhängige Strafverfahren gegen mehr als dreißig Personen, im Rang eines Generals, oder Oberst, Politiker und einfache “Handlanger” des Todes, denen man Folter, Mord und Gewalttaten jeglicher Art vorwirft. Es gehört zu der absurden Seiten meines Landes, dass jeder weiß, dass Minimum dreitausend Menschen spurlos verschwunden sind, während lediglich das Versschwinden von elf davon gerichtlich festgestellt wurde. Es ist so, als würde das ganze Land Bescheid wissen und einfach wegschauen...

Jemand hat einmal gesagt, dass die Justiz kein Universalkonzept ist, sondern vom jeweiligen historischen Augenblick abhängig ist, von den Umständen, die in einem Land herrschen…schließen Sie sich dieser Meinung an?

Nein, ich glaube, dass Begriffe wie Würde und Respekt vor der Justiz universelle Konzepte sind. Warum sollte man sonst feierliche Menschenrechtskonventionen oder Anti-Folter-Verordnungen unterzeichnen?

Wie haben Sie die Geschehnisse in Verbindung mit der Festnahme Pinochets erlebt?

Als ein ständiges Auf und Ab zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Ereignisse von London haben deutlich gemacht, dass Chile immer noch ein zutiefst gespaltenes Land ist. Ein Land, in dem das Militär noch immer große Macht hat und ent-

scheidet, wenn es um das politische und institutionelle Gleich-gewicht geht. Ein anderes Detail hat mich beinahe verblüfft. Pinochet hat es in all den Jahren verstanden, sich seine eigene Straffreiheit mit fast manischer Akribie zu sichern. Er hat sogar eine Verfassungsänderung durchgesetzt, damit ihn niemand belangen kann. Ich bin ganz sicher, wenn man ihm nicht im Aus-land den Prozess macht, hier in Chile wird er nie vor Gericht gestellt werden. In Chile, niemals.

Was bedeutet für Sie das Wort Vergebung?

Ich denke, es ist etwas absolut Persönliches, etwas, das für jedes Individuum etwas anderes bedeutet. Ich kann den Henkern meines Bruders nicht vergeben. Man könnte meinen, ich sei

rachsüchtig. Aber das stimmt nicht. Ich will keine Vergeltung.

Ich will einzig und allein die Wahrheit wissen.

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