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Tertium non datur
In Mailand war gerade Herbst. Damals, im Oktober des Jahres 1976, war ich schnellen Schrittes zum ersten Interview meines Lebens unterwegs, über den Corso Venezia in Richtung Teatro San Babila.
Als Siebzehnjähriger war ich in Begleitung meines Freundes Alberto auf dem
Weg zu einer Nachrichtenübertragung in einem der ersten italienischen Privatsender, Radio Milano Libera, mit dem wenig originellen Titel âSpazio giovani/Raum für die Jugendâ.
Es waren damals wirklich unglaubliche Jahre, wo alles möglich war und auch wirklich geschah. Phantastische Jahre. Schreckliche Jahre zugleich. Es waren die anni di piombo , die der Jugendproteste, der autonomen Zirkel, der Schulstreiks, der Demos, die fast immer in Gewalt ausarteten. Jahre mit enormem Enthusiasmus, voll von kulturellem Aufruhr, der kurz vor dem Siedepunkt schien, so lebendig, engagiert und allumfassend wurde er empfunden. Es waren Jahre der Konfrontation und zuweilen auch die von Menschen, die einen gewaltsamen Tod starben: auf der einen Seite die linke Jugend, auf der anderen die Rechte. Im Vergleich zu heute war alles denkbar einfach: man stand entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Tertium non datur .
In erste Linie waren es jedoch Jahre, in denen jeder von uns den Eindruck hatte â und manchmal war es sehr viel mehr als nur ein Eindruck â den Lauf der Dinge ändern zu können. Es â als kleiner Niemand â zu schaffen anders zu sein .
In diesem Scherbenhaufen von Aufgeregtheit, Kultur und Gewalt bewegten wir uns in ruhigen Gewässern. Wir navigierten nach Sicht. Attentate, Bomben, die Roten Brigaden, sie waren in unserer Jugendzeit â oder als Teenager, je nachdem, in welchem Alter wir gerade waren â allgegenwärtig, aber im Grunde genommen beunruhigte uns das nicht allzu sehr. Wir hatten rasch gelernt, damit umzugehen, auf eine Art und Weise, die nicht sehr unterschiedlich zu der war, die ich in späteren Jahren bei Völkern antreffen sollte, die inmitten von Konflikten oder in Bürgerkriegsregionen lebten. Sie hatten ihr Leben an diese extremen Bedingungen angepasst, es war ein klein wenig vergleichbar mit unserem früheren Leben.
Mein Freund Alberto und ich wollten wirklich versuchen, anders zu sein. Daher hatten wir, gewappnet mit grenzenlosem Enthusiasmus und einem enormen Maà an Leichtsinn, in einem Alter, in dem die Jugend von heute die Zeit damit verbringt, Selfies über Instagram zu posten und Smartphones zu tauschen, alles gelesen, was wir erwischen konnten; wir nahmen an Musikvolksfesten teil â in jenem magischen Moment der die Geburtsstunde des Rock und dessen Verbreitung einläutete â bis zu Megakonzerten in Parks und im Filmforum.
Mit ähnlichen Gefühlen, den Kopf voller Ideen und einem Kassettenrecorder in der Tasche waren wir an jenem regnerischen Oktober vor vierzig Jahren auf dem Weg in Richtung Teatro San Babila.
Den Termin hatten wir um siebzehn Uhr, etwa eine Stunde vor Beginn der Nachmittagsaufführung. Man führte uns hinab in die Katakomben des Theaters, wo die Garderoben der Akteure waren, bis zu der des Hauptdarstellers. Dort wartete unser Interviewpartner, der erste in meiner âKarriereâ als Journalist: Peppino de Filippo.
Ich kann mich nicht an viele Details jenes Interviews erinnern und leider sind die Bänder der Aufzeichnung bei einem der zahllosen Umzüge im Laufe meines Lebens verlorengegangen.
Ich kann mich aber noch heute genau an diesen leichten elektrischen Schlag erinnern und an das energetische Prickeln, welches ihm vorausgeht â ich sollte es danach noch tausend Mal spüren â es war ein wichtiges Interview. Ein
Treffen von Bedeutung, denn jedes Interview ist weit mehr, als eine einfache Folge von Fragen und Antworten.
Peppino de Filippo stand am Ende einer Theater- und Filmkarriere, mit der er bereits zu jener Zeit Geschichte geschrieben hatte â er sollte nur wenige Jahre danach sterben. Er empfing uns, während er sich gleichzeitig weiter vor dem Spiegel schminkte. Er war freundlich, höflich und bereitwillig und er tat so, als sei es für ihn nichts Ungewöhnliches, sich zwei pickelige Jungens gegenüber zu sehen. Ich erinnere mich noch an seine ruhigen Bewegungen; er trug seine Theaterschminke mit Methode nach einem bestimmten Schema auf, das mir schwer und intensiv und sehr deutlich erschien. Insbesondere ist mir eines im Gedächtnis geblieben; die tiefe Traurigkeit in seinem Blick. Eine Traurigkeit, die mich tief traf, denn ich konnte sie tief in meinem Inneren spüren. Vermutlich spürte er, dass sein Leben zu Ende ging, oder es war nur eine Bestätigung für das, was man allen Komikern nachsagt, dass sie, die alle zum Lachen bringen in Wirklichkeit zu den traurigsten Menschen auf der Welt gehören.
Wir sprachen über das Theater und natürlich über seinen Bruder Eduardo. Er erzählte uns von seinem Leben auf den Brettern, die die Welt bedeuten, immer auf Reisen, in Begleitung der Familie.
Wir gingen nach fast einer Stunde, etwas benebelt, mit einer vollen Tonbandkassette.
Dies war nicht nur das erste Interview meines Lebens, es war insbesondere der Moment, in dem ich begriff, dass der Beruf des Journalisten für mich die einzige überhaupt denkbare Option war. Und es war der Augenblick, an dem ich zum ersten Mal diese merkwürdige Alchimie, diese subtile Magie spürte, die sich zwischen dem Interviewten und dem Interviewer aufbaut.
Ein Interview kann entweder die mathematische Formel einer Lebensweisheit sein, oder eine unnütze und eitle Zurschaustellung. Das Interview ist aber auch eine mächtige Waffe in den Händen des Journalisten, der die Macht hat, zu wählen, ob er dem Interviewten beipflichten- oder sich in den Dienst des Lesers stellen und diesen begeistern soll.
Was mich anbelangt, so ist in meinen Augen das Interview sehr viel mehr; es ist eine psychologische Konfrontation, eine Sitzung mit Psychoanalyse. Involviert sind beide, der Interviewte und der, der ihn interviewt.
So wie mir später der Marchese di Vilallonga in einem in diesem Buch
enthaltenen Interview sagte: «das Geheimnis liegt allein in diesem Zustand der Erlösung, der entsteht, wenn der Journalist sich von seinem Status als Journalist löst und zum Freund wird, dem man alles erzählt, auch das, was man einem Journalisten niemals anvertrauen würde.»
Das Interview ist die praktische Umsetzung der von Sokrates praktizierten Kunst der Mäeutik, die Fähigkeit der Journalisten, dem Interviewpartner seine aufrichtigsten Gedanken zu entlocken, ihn dazu zu bringen, unachtsam zu werden, ihn reden zu lassen und auf das Ãberraschungsmoment zu hoffen, um ihm die ungeschminkte Wahrheit zu entlocken.
Nicht immer gelingt es, diese besondere Magie in die Praxis umzusetzen, aber wenn es geschieht, dann ist das Ergebnis ein gutes Interview. Etwas mehr als ein Schlagabtausch und eine sterile Antwort; es hat nichts gemein mit der unnützen Selbstgefälligkeit des Journalisten, der nur versucht, einen Scoop zu landen .
In über dreiÃig Jahren journalistischer Aktivitäten bin ich Berühmtheiten begegnet, Staatsmännern, Premierministern, religiösen und politischen Führern. Ich muss allerdings gestehen, dass nicht sie es waren, bei denen ich ein echtes Gefühl von Empathie empfand.
Auf Grund meines kulturellen Hintergrunds und meines familiären Umfelds hätte ich mich ihnen zugehörig fühlen müssen und auf der Seite der Männer und Frauen stehen müssen, die die Fäden der Macht in Händen hatten, die die Macht hatten über das Schicksal von Millionen Menschen zu entscheiden, über ihr Leben und oftmals über ihren Tod. Zuweilen über das Schicksal und die Zukunft ganzer Völker.
Aber so war es nicht. Empathie, eine Woge der Sympathie, den Schauder und die Erregung habe ich beim Treffen mit den Rebellen gespürt, den Kämpfern, die bereit waren â und das auch unter Beweis stellten â ihr Leben zu opfern, die oftmals, da beseelt von ihren Idealen, Ruhe und Freiheit ausstrahlten.
Gleich ob ich einen Revolutionsführer mit schwarzer, wollener Skimütze in einer Hütte im mexikanischen Dschungel traf, oder eine couragierte Mutter, die in aller Bescheidenheit, aber verbissen darum kämpfte, die Wahrheit über das schreckliche Ende ihrer Kinder zu erfahren, die in Chile unter dem Pinochet-Regime verschollen sind.
Sie waren in meinen Augen die wirklich Mächtigen.
Grotteria, August 2017
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Die Interviews in diesem Buch wurden in einem Zeitraum zwischen 1993 und 2006 in den groÃen Zeitschriften veröffentlicht, für die ich in jenen Jahren als Korrespondent oder Sonderberichterstatter hauptsächlich in Lateinamerika und in Fernost tätig war: die Wochenzeitschriften Panorama und LâEspresso , die Tageszeitungen Il Tempo , Il Corriere della Sera und La Repubblica sowie einige für die rai
Ich habe bewusst die Originalform beibehalten, in der sie damals geschrieben wurden, zuweilen nach dem traditionellen Aufbau von Frage/Antwort, andere mehr in der umgangssprachlicheren Form des Zitats in Anführungszeichen .
Ich habe mich entschieden, jedem einzelnen Interview eine kurze Einleitung voranzustellen, die dem Leser helfen soll, sich zeitlich und räumlich in der jeweiligen Epoche zu orientieren, in der sie gemacht wurden.
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