Читать книгу Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern - Margarete Bolten - Страница 20
1.4 Klassifikation im Säuglings- und Kleinkindalter
ОглавлениеDas Ziel der Klassifikation ist es, die große Zahl klinischer Bilder nach übergeordneten Gesichtspunkten der Ähnlichkeit zu gruppieren und auf eine überschaubare Menge typischer Systemkonstellationen zu reduzieren (Wittchen, 2011). Die kategoriale Diagnostik dient dazu, eine sinnvolle Informationsreduktion vorzunehmen, um eine klar definierte Nomenklatur zu bieten, die Kommunikation zwischen Fachpersonen zu erleichtern und darauf aufbauend einen schnellen Zugriff auf therapeutisches Störungswissen zu ermöglichen (Suppiger & Schneider, 2009). Des Weiteren ist die Klassifikation sie Voraussetzungen für die Therapieindikation und Therapieforschung.
Sowohl bei Kindern und Jugendlichen, als auch bei Erwachsenen, werden zur diagnostischen Klassifikation primär die »Internationale Klassifikation Psychischer Störungen« (ICD-10; WHO, 1991) und das »Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen« (DSM-5, American Psychiatric Association, 2013) eingesetzt. Wesentliches Merkmal beider Systeme ist der deskriptive Ansatz, bei dem sich die Diagnosekriterien vor allem auf beobachtbare Merkmale einer Störung beziehen und hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese weitgehend atheoretisch sind. Da jedoch die meisten Diagnosekriterien des ICD-10 und DSM-5 für Erwachsene erarbeitet wurden, gibt es bei der Anwendung im Säuglings- und Kleinkindalter erhebliche Schwierigkeiten. So fehlen beispielsweise an die verschiedenen Entwicklungsphasen angepasste Kriterien. Manche für diese Altersspanne typischen Verhaltensstörungen fehlen vollständig (z. B. exzessives Schreien, Beziehungsstörungen, sensorische Verarbeitungsstörungen). Aus diesem Grund wurde von der Arbeitsgruppe »ZERO TO THREE« am National Center for Infants, Toddlers and Families 1994 erstmals ein multiaxiales Diagnosesystem zur Klassifikation psychischer Auffälligkeiten bis zum vollendeten dritten Lebensjahr eingeführt (DC: 0-3) und 2016 überarbeitet. Die aktuell gültige Fassung der Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early Childhood (DC: 0-5, 2016, 2019) ist für Kinder bis zum vollendeten fünften Lebensjahr geeignet und berücksichtigt im Vergleich zu den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 in höherem Maße altersspezifische Besonderheiten und entwicklungspsychologische Zusammenhänge von Verhaltensstörungen in dieser Altersspanne. Insbesondere die schnellen Veränderungen in der sozioemotionalen Entwicklung und die hohe Relevanz des Beziehungssystems der Kinder in diesem Altersbereich werden bei der Diagnosevergabe mit beachtet.
Das multiaxiale Klassifikationssystem DC:0-5 beibehaltet fünf Achsen. Dabei werden auf der Achse I die klinischen Diagnosen kodiert, wobei acht Störungskategorien unterschieden werden: die Neurobiologische Entwicklungsstörungen, Sensorische Verarbeitungsstörungen, Angststörungen, Affektive Störungen, Zwangsstörungen und verwandte Störungen, Schlafstörungen, Essstörungen der Kindheit, Schreistörungen der frühen Kindheit, Trauma-, Belastungs- und Deprivationsstörungen der frühen Kindheit und die Beziehungsstörungen. Die Achse II umfasst den Beziehungskontext. Dabei wird zum einen die Beziehungsqualität zur primären Bezugsperson eingeschätzt und zum anderen die Qualität der Führsorge-Umgebung. Die Diagnostikerin hat hier die Möglichkeit die Beziehung mittels einer 4-stufigen Skala einzuschätzen (Level 1 = gut adaptierte Beziehung, Level 2 = angespannte Beziehung, Level 3 = beeinträchtigte Beziehung, Level 4 = gestörte bis gefährliche Beziehung).
Auf der Achse III finden sich medizinische Krankheiten und Faktoren, die die psychische Gesundheit direkt oder indirekt beeinflussen können. Komplikationen in der Schwangerschaft oder perinatal werden ebenfalls auf Achse III berücksichtigt. Auf Achse IV werden die psychosozialen Belastungsfaktoren mit Hilfe von Kategorien und spezifischen Stressoren erfasst. Psychosoziale Faktoren beinhalten akute Ereignisse als auch andauernde Umstände wie z. B. Armut oder häusliche Gewalt. Stressoren können zudem direkt (z. B. Hospitation) oder indirekt (z. B. plötzliche Krankheit eines Elternteils) vorliegen. Auch Übergänge oder normale Ereignisse, wie die Geburt eines Geschwisters oder ein Umzug, können stressreich sein. Achse V beschreibt Entwicklungskompetenzen. Dabei werden die folgenden Entwicklungsbereiche berücksichtigt: die emotionale, soziale, sprachliche, kognitive, als auch die motorische und körperliche Entwicklung. Für die Einschätzung beinhaltet das DC:0-5 eine Übersicht an Meilensteinen der Entwicklung für das Alter von 3 bis 60 Monaten.
Entsprechend der Erweiterung der Altersspanne, für welche das DC: 0-5 anwendbar ist, wurden neue Störungsbilder für Kinder bis zum fünften Lebensjahr eingeschlossen. Bezüglich des Altersbereiches zwischen 0 und 3 Jahren gab es folgende Anpassungen.
Die zwei wohl wichtigsten Veränderungen von der DC: 0-3R zur DC: 0-5 sind, dass zum einen der Altersbereich auf die ersten fünf Lebensjahre erweitert wurde und damit auch einige neue Störungskategorien neu hinzugenommen wurden. Zum anderen sind die diagnostischen Kriterien in der DC: 0-5 nicht mehr als Fließtext, sondern mit eindeutigen Kriterien beschrieben, was die Klassifikation deutlich erleichtert und somit auch die Reliabilität des Klassifikationssystems erhöht. Evaluationsstudien zum DC: 0-5 liegen bisher noch nicht vor und auch zu den Vorgängerversionen (DC: 0-3R, DC: 0-3) gibt es nur wenige Untersuchungen (z. B. Skovgaard et al., 2005; Wiefel et al., 2005). In der Studie von Skovgaard et al. (2005) beispielsweise beurteilten drei Kinder- und Jugendpsychiaterinnen die Krankenakten von 116 eineinhalb jährigen Kindern und ein 10-minütiges Fallvideo. Die Untersucherinnen waren dabei verblindet für die jeweilige Diagnose der Kinder. Die Autorinnen berichten Kappa Werte von k = .72 für die Achse I Diagnosen, k = 1.0 für die Achse II Beziehungsklassifikationen, k = .71 für die auf Achse III kodierten medizinischen Probleme, k = .55 für die Klassifikation der psychosozialen Stressoren auf Achse IV und k = .71 für die Klassifikation der funktionell-emotionale Entwicklung auf Achse V des DC: 0-3. Diese Ergebnisse zeigen, dass psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die nach den Kriterien der DC: 0-3 Klassifikation diagnostiziert wurden, im Vergleich zur ICD-10 reliabler klassifiziert werden können.
In der Anwendung der DC: 0-3 fanden sich jedoch auch einige Schwierigkeiten. So berichten beispielsweise Wiefel et al. (2005) besonders bei der Klassifikation von Fütterstörungen, aber auch bei der Abgrenzung der einzelnen Subtypen der Regulationsstörungen von Problemen. Für die Bindungsstörungen wurden ebenfalls ausführlichere Kriterien gefordert.