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Bekenntnisse eines Sport-Muffels

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spORT war für mich immer ein Ort unaussprechlicher Qualen! Schon als Kleinkind war mir jede Art mutwillig erzeugter Bewegung suspekt, und lange Zeit befürchtete man, irgendeine geheimnisvolle Krankheit hemme meine Muskulatur. Im Winter saß ich mit Wonne stundenlang auf einer Decke in der warmen Stube, spielte mit einer prallgefüllten Knopfkiste, die einen schier unerschöpflichen Vorrat an Knöpfen verschiedener Farben, Formen und Größen barg, legte bunte Gärten, Häuser und Städte, erträumte mir Freundinnen und Geschichten, die ich mit ihnen erlebte, und legte mir eine Welt zurecht, in der ich die tolldreistesten Abenteuer sitzend bestehen konnte. Im Sommer genügte mir für diese Aktivität ein schattiges Plätzchen im Hof, von dem aus ich meine imaginären Scharen dirigierte. Ich redete dabei mit verschiedenen Stimmen, und wer mich nicht sah, musste den Eindruck gewinnen, ich sei von Menschenmassen umgeben. Zwar hatte ich schon mit neun Monaten laufen gelernt, war aber nicht sehr oft in der Laune, diese Kunst auch anzuwenden. „Mit dem Kind stimmt etwas nicht!“, mutmaßte die Verwandtschaft so lange, bis meine Mutter mich zum Arzt schleppte und sich attestieren ließ, dass mit mir sehr wohl alles stimme, bis auf eine im zweiten Lebensjahr entwickelte Faulheit der unteren Extremitäten. Überaus aktiv dagegen seien meine Phantasie und mein Mundwerk!

Von nun an wurde ich aus gesundheitlichen Gründen (das Kind braucht frische Luft und Bewegung!) regelmäßig ins Freie geschickt. Im Winter musste ich mich mit einem Schlitten bewaffnet auf den Weg zum Hügel am Sportplatz machen, der zwar um die Ecke in Sichtweite des Hauses lag, mir aber meilenweit entfernt schien, so dass ich, wenn ich dann endlich am unteren Ende der sanft ansteigenden Rodelbahn angelangt war, mit nassen Füßen und frierend schon die Lust am Aufstieg verloren hatte, geschweige denn, irgendwelche Begierden verspürt hätte, den schwindelerregenden Höhenunterschied von zwei Metern auf dem Schlitten in die Tiefe rasend zu überwinden, wobei außerdem noch die Gefahr bestand, von wilden Zehnjährigen mutwillig gerammt zu werden, mein Gefährt zu verlieren und auf dem Hosenboden durch die weiße, feuchte Pracht schliddern zu müssen. Nein, das war nicht mein Fall, und mir fehlte jegliches Verständnis für die johlende und vor Freude kreischende Meute, die in immer schnelleren Manövern den Hügel bezwang. Ich zog den feigen Rückzug vor und verschwand mit meinem Schlitten im Schuppen hinter dem Haus, wo ich mit meinen imaginären Freundinnen in eine Decke gehüllt die Kaninchen bekämpfen und die Katze zum Tiger machen konnte.

Lieber von der sicheren Brücke aus sah ich auch den Schlittschuhläufern zu, die über den zugefrorenen Bach glitten, die Beine streckten oder hockend dahinsausten, sich verrenkten, übereinander purzelten und gegen die Böschung krachten, sich aber nie zu verletzen schienen, sondern lachend wieder aufstanden, während ich dort oben aus sicherer Entfernung bei ihrem bloßen Anblick Todesqualen erlitt. Im Sommer, wenn der Bach sich zum reißenden Strom von zwanzig Zentimetern Untiefe verwandelt hatte und alle anderen sich jauchzend mit dem kühlenden Nass bespritzten, zog ich es vor, am Ufer in Blätter gehülltes Schlammeis gegen Steine als Währung zu verkaufen, die ich sehr genau abzurechnen wusste. Wasser war eben nicht mein Element, weder in gefrorenen noch in flüssigem Zustand!

Die sportlichen Aktivitäten in der Grundschule waren erträglich, denn in Ermangelung einer Turnhalle konnten sie nur im Sommer bei gutem Wetter stattfinden und beschränkten sich auf Grund des schmalen Etats der Dorfschule, in dem Turngeräte und andere Folterwerkzeuge nicht vorgesehen waren, auf Kreisspiele und den einen oder anderen Reigentanz. Damit ließ es sich recht gut leben, weshalb in den Zeugnissen dieser Jahre hinter dem Fach „Leibesübungen“ auch noch ein moderates Befriedigend glänzte.

Schlimmer wurde es dann im Gymnasium. Die „Leibesübungen“ waren offiziell dem „Sport“ gewichen, es gab die Folterkammer Turnhalle und eine Sportlehrerin, die sich laufend neue Torturen für uns ausdachte. Es begann schon damit, dass man sich in Sportkleidung werfen musste, an sich schon lästig genug, aber es handelte sich auch noch um extravagante Pumphosen in Schwarz, die Beine mit Gummizug abgeschlossen, und ebenso extravagante weiße Pullis, deren Ärmel den Oberarm halb bedecken mussten. Anschließend hieß es, sich der Größe nach aufzustellen, und während der gesamten Leidenszeit kam ich über den vierten Platz in der Reihe nicht hinaus. Das wäre ja gerade noch angegangen, wenn dann nicht noch schwereres Geschütz aufgefahren worden wäre: Kästen, die zu überspringen waren, an denen meine Knie aber regelmäßig hängen blieben, Barren, über die man elegant schwingen sollte, für mich und meine drei Vorgängerinnen in der Reihe zu hoch waren, so dass unsere Kniekehlen sich darin verfingen und wir wie kranke Fledermäuse hin und her pendelten. Die Böcke waren bockig genug, sich uns in den Weg zu stellen, Flugrollen endeten unsanft ohne Flug auf dem Genick, der Schwebebalken in schwindelnder Höhe von dreißig Zentimetern über dem Erdboden glich einem Hochseil, das meinem Gleichgewichtssinn sehr abträglich war, und das Reck habe ich vorsichtshalber erst gar nicht berührt. Kiloschwere Medizinbälle bedrohten mein Leben, wenn sie in rasender Geschwindigkeit auf mich zurollten, den prallen Bällen beim Völkerballspiel entging ich nur, indem ich mich hinter den Kameradinnen versteckte, da ich sie weder fangen, noch ihnen schnell genug hätte ausweichen können. Überhaupt erschien es mir völlig geistlos, hinter einem Ball her zu rennen oder sich von einem solchen erschlagen zu lassen. Im Sommer wurde die Marter schier unerträglich, wenn Leichtathletik angesagt war, und ich habe nie verstanden, warum man „Leicht“ nennt. Beim Werfen traf mein Ball mit tödlicher Sicherheit die Wand hinter mir, ich übersprang regelmäßig das Sprungbrett und spürte das scheußliche Knirschen des Sandes schon zwischen meinen Zehen, wenn ich noch gar nicht in der Grube gelandet war. Beim Laufen ging mir auf halber Strecke die Puste aus, weil ich wie ein aufgescheuchtes Karnickel im Zickzack lief. Eine Urkunde habe ich nie errungen! Nur einmal muss ich versehentlich in Höchstform gewesen sein, als ich bei einem Sprung in die Grube die Einsfünfzigmarke knapp übertraf!

Die Qual nahm erst ein Ende, als ein sehr kluger Arzt nach langem Suchen endlich eine Wirbelsäulenverkrümmung bei mir entdeckte und mir jeglichen Leistungssport verbot. Ich hatte zwar nie Beschwerden gehabt, wollte aber vorsichtshalber dem befreienden Urteil des Mediziners vertrauen und fürderhin gänzlich auf sportliche Aktivitäten verzichten, was meinem Drang nach körperlicher Ruhe sehr entgegen kam. Da Sport in allen Formen für mich eine Leistung gewesen wäre, legte ich den Begriff Leistungssport sehr großzügig aus und betrachtete fortan mit leidgeprüfter Miene von der sicheren Bank aus die sich mit Bällen und allerlei Sportgerät abmühenden Freundinnen, ab und zu zum Rücken greifend, um so meinem Gebrechen Ausdruck zu verleihen, dankbar des eifrigen Arztes gedenkend, der sich um den Erhalt meiner Wirbelsäule so verdient gemacht hatte, nicht ahnend, dass mich die gerechte Strafe eines Tages ereilen würde!

Die Strafe war schrecklich und lebenslang! Zunächst traf mich in den ersten Dienstjahren als Lehrer das Schicksal, dank meiner Jugend von jedem neuen Dienstherren vorzugsweise im Sportunterricht eingesetzt zu werden, in späteren Jahren war diese Maßnahme das Privileg meiner schlanken und vordergründig sportlichen Gestalt. Da musste ich nun mit blutendem Herzen auf staatliches Geheiß die armen Schüler nach meiner Pfeife tanzen lassen und mit fassungslosem Staunen feststellen, dass sie begeistert sprangen, sobald mein Pfiff ertönte. Je höher ich den Barren schraubte, desto mehr stieg ich in ihrer Achtung, und je schneller ich sie durch die Halle trieb, desto anhänglicher waren sie. Von meinem Beobachtungsposten am Rande des Spielfelds aus sah ich sie hüpfen, jagen, klettern, laufen, pritschen, robben, schwingen, springen, werfen und schwitzen, und je mehr sie schwitzten, desto fröhlicher und ausgelassener wurden sie, während ich vor Mitleid fast vergehen wollte. Was blieb mir angesichts all dieser Fröhlichkeit anderes übrig, als mein Mitleid tapfer zu verbergen? Mit der Zeit gelang es mir sogar, meine Gesichtszüge so zu beherrschen, dass mich niemand mehr fragte, ob ich Schmerzen hätte.

Diese Situation wäre ja gerade noch zu ertragen gewesen, beschränkte sich das doch auf wenige Stunden des Tages, wenn das Leben sich nicht eine weitaus härtere Strafe für mich ausgedacht hätte: Ich gebar drei völlig aus der Art geschlagene Kinder, deren ungezähmten Bewegungsdrang ich schon vor der Geburt auf heftigste zu spüren bekam. Das zweite gab diesem Drang sogar soweit nach, dass es vier Wochen zu früh das Licht der Welt erblickte.

Von nun an war’s vorbei mit der Bequemlichkeit! Treppauf, treppab und querfeldein liefen sie, meine Sprösslinge, so schnell ihre kurzen und dann länger werdenden Beinchen sie trugen. Sobald im Winter der erste Schnee die Hügel bedeckt hatte, mussten die Schlitten startklar gemacht werden, und hinab ging’s mit Hurra! Kein Berg war ihnen zu steil, keine Rodelbahn zu glatt, der Schnee war nicht zu nass, der Wind nicht zu kalt. Wenn sie dann nach Einbruch der Dunkelheit als steifgefrorene Eiszapfen nach Hause kamen, machte ich mich auf Lähmungen und Schlimmeres gefasst, denn so viel Bewegung in klirrendkalter Luft konnte ganz einfach nicht gesund sein.

Noch hielt ich das alles für einen vorübergehenden Irrtum der Natur, der sich mit der Zeit auswachsen und regulieren würde. Aber dann kam die Schulzeit, der erste Sportunterricht, das erste Zeugnis, ich traute meinen Augen kaum, Sport: sehr gut! Als ob Siegerurkunden der Bundesjugendspiele unter ihrer Würde gewesen wären, sammelten sie eine Ehrenurkunde mit der Unterschrift des Bundespräsidenten nach der anderen. Sie tapezierten damit ihre Zimmer und führten mir täglich vor Augen, dass mit ihnen wahrscheinlich irgend etwas nicht stimmte. Sie lernten schwimmen wie die Fische und bestanden auf Urlaub am Meer. Während ich dort am Strand mit einem Buch in der Sonne schwitzte und Höllenqualen litt, tummelten sie sich ausgelassen im Wasser, dem sie braungebrannt entstiegen, um anschließend zu einem kilometerlangen Lauf aufzubrechen.

Mit verständlicher Fassungslosigkeit registrierte ich die Entscheidung meiner Tochter, Sport als Leistungsfach in der Abiturprüfung zu wählen. Alles gute Zureden, sich ein weniger gefährliches Fach auszusuchen, nützte nichts, und so stand ich schließlich dabei, als sie in der praktischen Prüfung wie eine Elfe über den Schwebebalken tanzte und danach eine Bodenkür absolvierte, die einer Profivorführung glich, scheinbar schwerelos, nach allen Seiten lächelnd und sich ihrer eigenen Bewegung erfreuend, während ich schon beim bloßen Anblick ins Schwitzen geriet und in den Startlöchern stand, um bei einem eventuellen Zusammenbruch möglichst schnell den Notarzt rufen zu können. Ich konnte es nicht fassen: Dieses Wesen, das sich einer wahren Orgie aufeinander abgestimmter Bewegungen hingab, die auch noch vollkommen mit der Begleitmusik in Einklang waren, dieses seltsame Wesen sollte mein eigen Fleisch und Blut sein! Gemessen an meinem Entsetzen muss die Eins plus, die sie für ihre Vorführung einheimste, vollkommen berechtigt gewesen sein, denn Sportnoten waren schon immer umgekehrt proportional zu meinem Empfinden!

Wenn wenigstens eines meiner Kinder nach mir geschlagen und ein guter Mathematiker geworden wäre, hätte mich das vielleicht mit dem Schicksal versöhnen können. Aber selbst die männliche Nachkommenschaft ließ mich hier vollkommen im Stich. Der ältere Sohn stieg ins Bodybuilding ein, stemmte keuchend Hanteln und andere mir unbekannte Gerätschaften, um im Schweiße seines Angesichts millimeterweise Arme, Beine, Brust, Schultern und Schenkeln aufzubauen, mit einer Konsequenz und Präzision, die, auf mathematische Übungen angewandt, ein wahres Mathematikgenie aus ihm gemacht hätten. Der jüngere konzentrierte sich auf den Langlauf, wobei die Anzahl der bewältigten Kilometer immer größer, die dafür benötigte Zeit immer weniger wurde, und je verschwitzter er vom Laufen zurückkehrte, desto stolzer und glücklicher war er. Beide bezwangen als Rekruten der Bundeswehr mit Vorliebe die schwierigsten Parcours, je komplizierter desto besser, brachten mühelos ihre 30-Kilometer-Märsche mit vollem Marschgepäck hinter sich, robbten ohne Murren durch Schlamm und Gestrüpp, buddelten in Rekordzeit Gefechtsstände, brachten täglich vor dem Frühstück ihre Kasernenrunde hinter sich und waren sichere Schützen, die zur Freude ihrer Vorgesetzten ihr Ziel auch im Laufen nicht verfehlten.

Längst habe ich es aufgegeben, darüber nachzugrübeln, wie ich an solch geartete Sprösslinge komme. Die naheliegende Vermutung, dass man sie im Krankenhaus vertauscht haben könnte, ist nicht haltbar. Bei einer derart extremen Abweichung von meinem Erbgut handelt es sich hier wohl um eine genetische Fehlbildung, die ich im Laufe der Jahre gottergeben akzeptieren lernte, wie ich jede andere Behinderung hätte hinnehmen müssen.

Manchmal allerdings taucht ganz hinten in meinem Hirn die schreckliche Vermutung auf, dass die Fehlbildung vielleicht auf meiner Seite liegen könnte!

Zwei Minuten vor der Zeit

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