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Abstellkammer

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Wann immer ich zum spielen rüber ging, wunderte ich mich, dass meine Freundin keine Zeit hatte. Wir waren gleich alt, gingen in die gleiche Schule und hatten die gleichen Hausaufgaben auf. Aber Petra hatte keine Zeit. Nur ich.

So klingelte ich und klingelte ich, bis eine entnervte Stimme mir Gehör schenkte.

>>Die kann jetzt nicht! Die muss Hausaufgaben machen!<<

Was für Hausaufgaben? Wir hatten keine auf!

Doch ich war jung und so antwortete ich nicht, sondern ging.

Verwundert stand ich vor dem Mietshaus und schaute nach oben, wo Petra ihr Zimmer hatte. Ich ging noch ein Stück weiter zurück auf die Wiese, um besser sehen zu können. Aber Gardinen versperrten mir den Blick. Nichts schien sich zu bewegen.

Aber ich hatte Petra nach Schulende nach Hause begleitet. Sie war also da. Warum sah ich sie dann nicht? Wollte sie nicht raus und mit mir spielen? Konnte ich mir nicht denken.

Wir hatten schon so oft und viel miteinander gespielt. Das würde sich nicht ändern und wenn ich erwachsen bin auch nicht.

Ich hüpfte ein paar mal die Wiese entlang, in der Hoffnung, Petra würde zufällig raus sehen und mich dann entdecken. Dann würde sie doch raus, nach unten kommen. Ich hüpfte und schlug zwei Räder. Nur Purzelbäume wollte ich auf dem harten Untergrund nicht machen. Das grüne Gras war trügerisch. Es sah weich aus, aber wenn man hin fiel, tat der ganze Körper weh. Tückisches Zeug dieses Gras!

Ich schlich auf die andere Seite des Miethauses. Dort gab es auch eine Wiese und ein Kellerfenster, was immer offen war. Das hatte mir Petra mal gezeigt. Ist noch gar nicht lange her.

Dieses Fenster stand immer offen, damit Petra, sollte es mal regnen, durch das Fenster ins Innere klettern konnte, um es warm und trocken zu haben. Ich fand das von Petras Mutter sehr nett, dass sie Petra erlaubte, durch ein Fenster zu klettern, um im Warmen zu sein.

Etwas unentschlossen sprang ich auf der zweiten Wiese herum. Sollte ich in den Keller klettern? Vielleicht war Petra ja dort! Im Warmen. Kühl genug war es ja. Herbst. Auch mir war kalt. Meine Mutter hatte kein Kellerfenster für mich offen gehalten.

Petra war bestimmt dort! Wo sollte sie sonst sein? Oben? Beim Hausaufgaben machen, die es gar nicht gab? Oder wollte Petras Mutter mich eben einfach los werden?

Meine Mutter schickte mich ja auch immer raus, wenn sie ihre Ruhe haben wollte und das war immer, jeden Tag und bei jedem Wetter, von 12 Uhr mittags bis abends, kurz bevor mein Vater von der Arbeit wiederkam. Dann hatte meine Mutter genug ihre Ruhe gehabt. Komisch, dass Erwachsene so viel Ruhe brauchen.

Blöd an dem Kellerraum in Petras Miethaus war nur, dass es dort keine Toilette gab. Wenn man drin war und mal musste, musste man wieder raus klettern. Und das war wesentlich schwieriger, als rein zu kommen, denn das Fenster war zwar von außen fast ebenerdig, aber wenn man rein stieg, musste man rutschen. Das Fenster von innen gesehen, war auf der Höhe eines Erwachsenen Kopfes. Also, raus steigen war so gut wie unmöglich. Und ohne Petras Schlüssel für den Kellerraum würde ich wahrscheinlich nicht wieder rauskommen. Ich wäre eingesperrt für immer und müsste da meine Blase leeren. Und zu trinken und zu essen gab es da auch nichts.

Da hinein zusteigen war Selbstmord. Also ließ ich es und versuchte, mit mir alleine zu spielen. Das war ich gewohnt. Besonders in den Zeiten, wenn ich doch drinnen war. Wenn ich krank war oder meine Mutter fand, ich solle heute mal drinnen bleiben. Das drinnen bleiben bezog sich dann auf mein Zimmer. Ich durfte auf die Toilette, was schon viel war. Und ich durfte nach etwas zu trinken fragen, wurde dann aber von meiner Mutter angeschnauzt.

Mein Zimmer war wie ein Gefängnis. Ein Aufbewahrungsort für Kinder. Voller Spielsachen, aber leer von Menschen.

Nein, ich würde mich nicht wieder in ein Zimmer oder in einen Raum einsperren lassen! So toll war das nämlich nicht. Und im Keller war es kalt. Sehr kalt. Erst recht im Herbst.

Es fing an zu regnen. Ich kniete mich unter den Balkon auf der Rückseite von Petras Miethaus. Dort blieb ich garantiert trocken. Es war etwas eng, weil ich gewachsen war und der Boden vom Balkon sehr nahe an meinem Kopf war, auch wenn ich kniete. Aber das war egal. Ich blieb trocken. Ich musste nur auf die Spinnen aufpassen, die dort so zahlreich ihr Leben fristeten.

Hauptsache trocken bleiben. Nasse Klamotten bedeuteten schnelle Erkältung. Und Erkältung bedeutete Einzelhaft im Kinderzimmer. Und das für Tage! Nein, trocken bleiben war die einzige, wirkliche Option.

Der Sturm nahm zu. Der Regen peitschte an den Balkon und ich kroch so weit wie möglich nach hinten und an die Miethauswand. Die Spinnen taten es mir gleich.

Hier warteten wir. Keiner sah uns. Keiner schaute nach uns. Gegenüber von uns waren die Fenster der Küche meiner Mutter. Erdgeschoss. Sie müsste mich sehen, wenn sie aus den Fenstern schauen würde. Tat sie aber nicht. Sie braucht ihre Ruhe und hatte sich sicherlich wieder in das Elternschlafzimmer eingeschlossen. Wie so oft.

Hoffentlich lag sie nicht da und erzählte wieder, wie schön es ist, einfach da zu liegen und zu sterben. Ganz so, wie es die Nachbarin von oben drüber getan hatte. Die hatte sich wohl hin gelegt und war eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Meine Mutter hatte es mehrmals versucht ihr gleich zu tun. Auch im Urlaub. Sie lag dann ganz still und starrte die Decke an. Oder sie schloss ihre Augen und dann versuchte ich zu erkennen, ob sie schon für immer eingeschlafen war.

Wann immer ich von der Grundschule nach Hause kam, mein erster Gang war ins Schlafzimmer meiner Eltern. Da lag sie. Oder die Tür war abgeschlossen. Je nachdem wie viel Ruhe meine Mutter brauchte. Wenn die Tür auf war, schlich ich dann um das Elternbett herum, um zu der Schlafseite meiner Mutter zu kommen. Sie reagierte stets kaum, nahm mich nicht wahr. An ihrem Seufzen konnte ich dann erkennen, dass sie noch nicht zu tief in Ruhe gefallen war. Das war es dann für einen Tag. Bis zum nächsten Tag.

Seit ich wusste, dass man einfach für immer einschlafen konnte, wenn man einschlief, konnte ich kaum einschlafen. Ich versuchte immer wieder bewusst aufzuwachen. Was mir nicht immer gelang. Doch bisher war ich nur so eingeschlafen, dass ich wieder aufwachte.

Auch Mutter hatte bisher das Kunststück des Sterbens nicht fertig gebracht. Wenn ich im Urlaub neben ihr lag, hatte ich trotzdem jede Nacht Angst, ich würde morgens aufwachen und den toten Leib meiner Mutter neben mir vorfinden. Eine Leiche neben mir! Das war schlimmer als die dickste, schwärzeste Spinne auf meinem Haar.

Diese tummelte sich gerade durch die Berge meiner Haare. Die hatten viele Eigenarten aufzuweisen. Sie waren kräftig und hatten zwischendrin Verdickungen. Auch Knoten genannt. Die waren teilweise so groß wie meine kleine Hand. Verfilzungen hatte meine Tante gesagt. Verfilzte Knoten, die man nicht mehr durchkämmen konnte. Aber meine Tante hatte es trotzdem versucht. Immer wieder jeden Abend, wenn ich bei ihr zu Besuch für ein paar Tage war. Denn Mutter brauchte ihre Ruhe und ich machte ihr zu viel Unruhe.

Meine Tante hat es nicht geschafft. Auch der Dreck darin war eine Eigenart meiner Haare. Sei sahen selten Wasser. Wasser ließ mich krank werden. Davon war auch meine Mutter überzeugt. Mein Körper hatte am Hals Schmutzstreifen. Auch ansonsten fand sich Dreck an meinem Körper. Aber das war ja klar, denn wie oft saß ich im Sandkasten oder auf der Erde unter den Büschen und wartete geduldig ab, bis die Zeit vorüber war und meine Mutter mich wieder rein ließ.

Meine Tante hat die Haarknoten raus geschnitten. Sie meinte, das wäre die einzige Möglichkeit, um meine Haare zu retten.

Jetzt saß eine fette Spinne in meinem Haar. Ich traute mich nicht, sie weg zu schnipsen. Petra hatte mir verraten, dass Spinnen auch beißen können und dass dann der Arm davon dick wird. Ihr war das so passiert. Ihr Arm sah eine Woche lang wie eine fette Wurst aus. Und es hat wohl sehr weh getan. Nein, die Spinne sollte ruhig da bleiben, wo sie gerade war.

Der Postbote huschte an mir vorbei. Sollte ich winken? Mich bemerkbar machen? Was sollte ich sagen, warum ich da im Dreck saß? Ich ließ es.

Der Mann war schon wieder weg.

Doch in den Keller von Petra steigen? Noch mal bei Petra klingeln?

Es könnte sinnlos sein, das Unternehmen. Sinnlosigkeit war etwas, was ich hasste. Doch es war sinnlos hier weiter zu hocken und auf die Stimme meiner Mutter zu hoffen, die mich erlösen würde.

Ich ging.

Nicht weit.

Bis zu dem Kellerfenster auf der anderen Seite. Der Sturm hatte zugenommen. Er machte mir die Wahl leicht.

Vorsichtig öffnete ich das Fenster, es war nur angelehnt. Meine Schultern passten so gerade durch. Als ich mit Petra vor einem halben Jahr hindurch geglitten war, rutschte ich wie ein Fisch durch dieses Loch. Jetzt war ich wohl gewachsen. Ich merkte die Betonwand an meinen Schultern kratzen.

Einer meiner Schuhe plumpste nach unten und knallte lautstark auf den Betonboden auf. Unten gab es keinen Schutz. Ich musste aufpassen, dass ich nicht auf meine Knie und Hände fiel, sonst wären Abschürfungen unvermeidlich.

Es war stockdunkel.

Auf dem Tisch würde eine Taschenlampe liegen. Hoffentlich ging die noch!

Während ich nach unten rutschte, fiel mir ein, dass ich hier auf der Seite des Miethauses, die Stimme meiner Mutter nicht vernehmen könnte, sollte sie mich rufen.

Ich musste lachen! Warum sollte sie mich rufen? Es war noch viel zu früh am Tag, als dass sie das machen würde. Jetzt lag sie vermutlich im Bett und war am schlafen. Die Glückliche.

Ich rutschte und rutschte. Es schien kein Ende zu nehmen. Der Boden war weit weg. Ich fiel in ein bodenloses Loch.

Ich hätte am liebsten geschrien, doch wer sollte mich hören?

Die Mutter von Petra? Wohl kaum. Die wohnten ganz weit oben und ich war ganz weit unten.

Würde Hilfe kommen, wenn ich sie brauchte? Wieder musste ich lachen.

Ich rutschte lachend nach unten.

Es war vorbei. Ich lag auf meiner Seite und rieb mir das schmerzende Knie. Ich war trotz Vorsicht auf meine Knie gefallen. Ich konnte den Schwung nicht auffangen.

Immerhin, es gab einen Boden. Wenn auch einen harten.

Ich tastete umher. Irgendwo musste hier der Tisch stehen mit der Taschenlampe darauf. Hoffentlich hatte Petra diese nicht wieder mit nach oben genommen. Die Deckenlampe hier drin ging seit langer Zeit nicht mehr, so hatte Petra es mir gesagt. Ich tastete trotzdem nach der Wand. Irgendwo dort musste der Schalter sein. Der Tisch war wohl von einem Loch im Boden verschlungen worden.

Die Wand war noch da. Alles sah tief schwarz aus. Auch meine Hand auf der Betonwand. Sie musste dort sein, denn ich konnte fühlen, wie ich den Beton nach einer größeren Unebenheit abtastete. Ich wurde nicht enttäuscht. Etwas Eckiges tauchte an meinen Fingern auf. Ich drückte drauf, es machte ein „Klick“ und ich wurde schmerzhaft geblendet.

Ah! Die Deckenbeleuchtung ging wieder. Auch bei ganz viel Pech gab es mal einen Lichtblick. Der Tisch war tatsächlich weg. Alles war weg. Auch die Taschenlampe. Ebenso der Stuhl, der sonst hier stand, damit Petra sich dort hinsetzen konnte und abwarten konnte, bis ihre Mutter sie wieder in die Wohnung ließ. Auch Petras Mutter hatte ein Ruheproblem. Musste an der Tatsache liegen, dass auch Petras Mutter eine Frau war. Frauen brauchten wohl viel Ruhe. Ich war gespannt, wie es mir später, wenn ich eine Frau sein würde, ergehen würde. Würde ich dann auch mein Kind im Keller unterbringen?

Ich probierte mein Glück an der Kellertür. Die war verschlossen. Ich hatte mein Glück ja auch schon eben aufgebraucht. Man konnte nicht alles haben. Ich ging die Wände ab. Vielleicht gab es ja eine Geheimtür, wie man das im Fernsehen immer sah. Dadurch konnte man dann entschlüpfen. Aber ich war nicht in einem Fernsehfilm, sondern in dem Keller von Petras Mutter. Zuviel Realität.

Es ging weiter. Ich ging weiter. Man musste sich bewegen, um Veränderungen herbei zu führen. Das wusste ich.

Fünf Schritte in die eine Richtung und zehn Schritte in die andere. Der Raum war großzügig angelegt. Man konnte hier sehr gut drin spielen. Wenn nur Sachen zum spielen hier drin gewesen wären. So sah es aus wie ein Verlies. Eine Gefängniszelle. Mein Kinderzimmer war da besser, auch wenn die Tür oftmals abgeschlossen war, wie die Tür hier.

Ich machte ein Geräusch. Es hallte.

Ich lauschte. Es war nichts zu hören. Der Beton schluckte jedes Geräusch.

Es gab Menschen dort oben.

Ich würde nicht ohne Stuhl oder Tisch raus klettern können. Das war unmöglich!

Ich schluckte. Kein Wasser hier drin. Nichts zu essen. Alles war weg. Eine Falle. Ein Gefängnis.

Ich hämmerte gegen die Tür. Sie war aus Stahl. Ich konnte kaum meine eigenen Geräusche hören.

Sie würden mich finden.

Petra saß auf einem Schemel in der Abstellkammer der Wohnung. Sie hatte das Klingeln an der Wohnungstür gehört. Es würde sinnlos sein, sich bemerkbar zu machen. Ihre Mutter hielt nichts davon, sie vor einer gefühlten Ewigkeit aus der Abstellkammer zu lassen. Aber hier war es wenigstens warm, wärmer als im Keller unten. Und hier gab es etwas zu essen.

Abstellkammer - Makabere Kurzgeschichten

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