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Einleitung: Jammern ist passé

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In der Schweiz gibt es auf der Sekundarstufe II viele Leuchttürme guter Talentförderung sowohl in Gymnasien als auch Betrieben und Berufsfachschulen. Ein Beispiel sind die Europa- und Berufsweltmeisterschaften, an denen unser Land regelmässig herausragende Leistungen erzielt. In den letzten Jahren wurde dies immer an den gut 20 Medaillen ersichtlich, welche die Schweizer Delegation jeweils für sich beanspruchen durfte. Auch die Schweizer Berufsmeisterschaften «SwissSkills», die 2014 erstmals in Bern durchgeführt wurden, waren mit mehr als 155 000 Besuchern ein grosser Erfolg. Sie haben dazu beigetragen, in den Köpfen des Normalbürgers ein attraktives Bild über die Möglichkeiten der Berufsbildung entstehen zu lassen. Dass an der Berufsbildungsfront heute tatsächlich einiges in dieser Hinsicht geschieht, ist jedoch in erster Linie eine Folge des innovativen Berufsbildungsgesetzes, das 2004 in Kraft gesetzt wurde und die Förderung leistungsstarker Lernender als normative Aufgabe versteht.

Talentförderung im Sinne der oben erwähnten Meisterschaften entspricht genau dem, was der Begriff auch meint: Junge Menschen sind dann Talente, wenn sie in einem bestimmten Bereich über ein überdurchschnittliches Leistungsvermögen verfügen, und sie dieses mit gezielter Unterstützung von Berufsbildnern und Berufsbildnerinnen so ausbauen können, dass es sich zu Expertise auf höchstem Niveau entwickeln kann.

Leider hat sich in den letzten Jahren unbemerkt eine «Talent-Epidemie» ausgebreitet. Davon zeugen viele Plakate, auf denen mit jungen Menschen geworben wird: «Wir brauchen Ihr Talent – machen Sie Ihre Ausbildung bei uns!» oder «Absolviere ein Talentjahr, wenn du nicht weisst, ob du eher ins Gymnasium oder eine Berufslehre absolvieren willst!» Eigentlich tönt dies ja gut. Endlich weg von der Defizitperspektive hin zu dem, was junge Menschen können! Trotzdem kann man sich darüber nur eingeschränkt freuen. Viele Hochglanzbroschüren und modern aufgemachte Webseiten lassen nämlich Zweifel aufkommen. Zwar sprechen sie immer von Talenten, doch bleibt fraglich, ob solche Absichten in der Praxis auch umgesetzt werden. Unsere Forschungsstudien zu leistungsstarken Jugendlichen in der Berufsbildung verweisen auf eine andere Realität. Oft wird viel über die mangelnde «Ausbildungsreife» Jugendlicher gejammert, über all das, was sie nicht mehr können und über Elternhäuser, die ihrem Nachwuchs keine Manieren mehr beibringen. Deshalb sind Slogans zur Talentsuche auch ein geschicktes Vertuschen des defizitären Menschenbilds und somit auch ein Etikettenschwindel. Anstatt wie bis anhin einfach zu jammern, wird nun unüberlegt von Talenten gesprochen.

Es ist wünschenswert, den inflationären Gebrauch des Talentbegriffs zu unterbinden. Wichtiger ist es, sich auf die Praxis zu konzentrieren, ob und wie Potenziale junger Menschen in Berufsfachschule, Betrieb und Weiterbildung tatsächlich gefördert werden. Denn dies ist einfacher gesagt als getan. Notwendig sind hierfür Berufsbildungsverantwortliche, die sich im wahrsten Sinne des Wortes als Talentförderer verstehen. Will eine Berufsbildungsverantwortliche das verborgene goldene Händchen eines jungen Migranten oder das intellektuelle Potenzial einer unbequemen Schülerin nicht sehen, dann bleiben Begabungen und Ressourcen unentdeckt und ungenutzt – auch wenn in Leitbildern und Unternehmensrichtlinien Gegenteiliges steht. Haltungen sind deshalb von grundlegender Bedeutung. Nur wer Potenziale bei allen jungen Menschen erwartet, sie erkennen und anerkennen und dann auch unterstützen will, betreibt Talentförderung. Dazu kommen Förderkompetenzen. Wer fördert, muss in der Lage sein, hochstehende Übungs- und Trainingsprozesse so zu arrangieren und zu überwachen, dass die jungen Talente im richtigen Mass herausgefordert und animiert werden, über sich selbst hinauszuwachsen. Dies alles genügt nicht. Talentförderung muss auch Chefsache sein und als grundlegende Ausbildungsaufgabe verstanden werden. Schul- und Geschäftsleitungen, welche ihre Berufsbildenden unterstützen, sind deshalb das Herzstück aller Anstrengungen.

Die Talent-Epidemie darf uns nicht glauben machen, dass junge Menschen tatsächlich talentierter als früher sind. «Talent», so wie der Begriff heute gebraucht wird, ist in vielen Fällen nichts anderes als eine Worthülse, eine PR-Massnahme im «Kampf um die Talente», d. h. um rar gewordene Lehrlinge oder um teure Ausbildungen beliebt zu machen. Das Gerede um Talente ist deshalb oberflächlich, weshalb es der Sache eher schadet als nützt. Eine Rückbesinnung auf das, was Talent meint und wann der Begriff verwendet werden soll, tut Not.

Die vorliegende Publikation nimmt sich solcher Herausforderungen an. Sie liefert auf der Basis unserer Forschungsstudien empirische Daten zur Frage, wer denn tatsächlich «begabt» oder «talentiert» ist und weshalb Berufslernende während ihrer Ausbildung, aber auch nachher, ihre Potenziale (nicht) entwickeln. Ein besonderer Blick wird dabei auf junge Migrantinnen und Migranten geworfen. Gerade aufgrund des Lehrlingsmangels sind solche Fragen besonders aktuell. Denn die Gründe für die vielen fehlenden Auszubildenden sind keinesfalls so eindeutig, wie dies immer wieder berichtet wird. Zwar geben im Lehrstellenbarometer vom April 2015 18 Prozent der befragten Unternehmen als Ursachen für ihre unbesetzten Stellen einen «Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern», 18 Prozent «fehlende Berufsbildungsverantwortliche» und 14 Prozent «schwache respektive keine Nachfrage nach Lehrstellen» an. Unsere empirischen Analysen zeigen jedoch, dass es auch Gründe gibt, die bei den Betrieben selbst liegen. Sie haben somit einen relativ grossen Einfluss darauf, ob sie geeignete Kandidatinnen und Kandidaten finden oder nicht.

Allerdings haben viele Betriebe in der Zwischenzeit gemerkt, dass sie ihre Rekrutierungs- und Selektionspraxen ändern und sich stärker um potenzielle Auszubildende bemühen müssen. Ebenso ist auf politischer Ebene durch gezielte Massnahmen, Kampagnen (wie berufsbildungplus.ch) sowie professionellere Berufsinformationen und -vorbereitungen viel getan worden. Alle diese Anstrengungen haben jedoch eine empirische Tatsache ausgeblendet: dass Eltern die wichtigsten und entscheidendsten heimlichen Meinungsmacher bei der Berufswahl sind. Trotzdem konzentrieren sich die Massnahmen und Kampagnen fast ausschliesslich auf Schulen, Betriebe, Berufsfachschulen und Verbände.

Will man Begabungs- und Talentreserven ausschöpfen und diese fördern, dann muss man sich auch mit der Frage beschäftigen, wie eigentlich Könnerschaft entsteht. Dann stösst man schnell einmal auf die bedeutsame Rolle der Praktischen Intelligenz. Ohne ihre Berücksichtigung in der Ausbildungspraxis entsteht keine Expertise.

Die vorliegende Publikation ist solchen Themen gewidmet. Auf der Basis der Erkenntnisse unserer Forschungsstudien beschäftige ich mich in einem ersten Kapitel mit den zukünftigen Herausforderungen für die Berufsbildung. Dazu gehören die Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe, die Selektion und Rekrutierung der Auszubildenden in Zeiten des Lehrlingsmangels, die Attraktivität der Berufsbildung mit Blick auf die Bedeutung der Familie als wichtigstem Rekrutierungspool sowie die Praktische Intelligenz als Herzstück auf dem Weg zur Könnerschaft. Kapitel zwei bis fünf stellen die Hauptergebnisse von insgesamt fünf unserer Forschungsprojekte vor: «Begabung und Leistungsexzellenz in der Berufsbildung» (2005–2009), «Migranten als gesellschaftliche Aufsteiger» (2009–2012), «Lehrlingsmangel: Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses» (2013), «Nur (k)eine Berufslehre: Eltern als Rekrutierungspool» (2014) sowie «Praktische Intelligenz: Ihre missachtete Rolle in der beruflichen Grundbildung» (2014–2015).

Mit diesem Buch hoffe ich, einen Beitrag zu leisten, um eingeleitete oder geplante Aktivitäten mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft in Einklang zu bringen und zu verhindern, dass Massnahmen und Kampagnen weniger einseitig erfolgen. Und ebenso, dass Betriebe erkennen: Jammern ist definitiv passé!

Goldene Hände

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