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Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses

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Unglaublich, aber wahr: In der beruflichen Grundbildung dominierten bis vor ein paar Jahren noch die Jugendarbeitslosigkeit und die daraus resultierenden fehlenden Zukunftsperspektiven unserer Jugendlichen. Heute hat sich die Situation diametral verändert. Der Mangel an Ausbildungsplätzen ist einem Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern gewichen: Aus dem Lehrstellenmangel ist ein Lehrlingsmangel geworden. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels dürfte sich die Situation weiter verschärfen. Denn unbesetzte respektive schwierig zu besetzende Ausbildungsplätze stellen sowohl für das unternehmerische Wachstum der Betriebe als auch für die Nachwuchssicherung eine ernstzunehmende Problematik dar. Um neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses zu entwickeln, bedarf es zunächst eines differenzierteren Blicks auf die Hintergründe.

Die Berufsbildung als System zweiter Klasse?

Die aktuelle Situation ist eine sehr spezielle: Neben dem sich immer deutlicher abzeichnenden Fachkräftemangel machen der Berufsbildung vor allem die demographischen Veränderungen zu schaffen. Stimmen die Daten des Bundesamtes für Statistik, dann wird die Anzahl Jugendlicher in diesem Altersspektrum bis zum Jahr 2020 weiter sinken. Dazu kommt die Tatsache, dass die gymnasiale Ausbildung attraktiver denn je ist, obwohl längst nicht alle, welche eine Aufnahmeprüfung absolvieren müssen, diese auch bestehen. Anzunehmen ist jedoch, dass das Interesse an der akademischen Ausbildung auch in Zukunft ungebrochen sein und die Berufsbildung für viele lediglich die zweite Wahl bleiben wird. Deshalb ist ebenso davon auszugehen, dass ohne wirksame Massnahmen die absoluten Zahlen der leistungsstarken Auszubildenden, welche in die Berufsbildung eintreten, weiter sinken dürften.

Einer der Gründe liegt darin, dass Eltern heute einen enormen Drang nach hoher Bildung haben. Wer selbst ein Gymnasium absolviert hat, setzt alles daran, dass die Kinder mindestens den gleichen Status erreichen oder, besser noch, ihn übertreffen. Und wer zu den Bildungsaufsteigern gehört, die in bessere Positionen gerutscht sind als die eigenen Eltern, will seine Kinder so unterstützen, dass sie von Anfang an die besseren Chancen als die anderen haben. Dieser Tunnelblick hat dazu geführt, dass bei vielen Familien die Berufsbildung als System zweiter Klasse gilt.

Verborgenes Potenzial finden

Gerade, wenn es um leistungsstarke Auszubildende geht, hat sich die Berufsbildung bisher vor allem auf Jugendliche mit guten Schulnoten aus anforderungshohen Schulniveaus konzentriert. Das ist allerdings eine einseitige Strategie, weil sie verhindert, Potenziale jenseits guter Schulleistungen und Schulabschlüsse zu entdecken. Solche Potenziale sind jedoch sowohl aus einer individuellen Perspektive (die optimale Leistungsförderung jeder einzelnen Person, ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer sozialen Herkunft) als auch einer gesellschaftlichen Perspektive (Minimierung des Nachwuchs- und Fachkräftemangels) von zentraler Bedeutung für die Qualität und Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems. Es ist deshalb einseitig, wenn nicht gar falsch, den Mangel an Auszubildenden in den verschiedenen Sparten lediglich mit mehr und immer ausgefalleneren PR-Massnahmen bekämpfen zu wollen. Es braucht andere und neue Rekrutierungs- und Selektionsstrategien, welche verborgenes Potenzial sichtbar machen.

Betriebe werden sich darauf einstellen müssen, ihren Fachkräftenachwuchs auch aus den leistungsmässig schwächeren Segmenten und ebenfalls aus Jugendlichen des Übergangssystems zu rekrutieren. Gerade für KMUs erwächst daraus eine grosse Herausforderung. Sie müssen ihre Ausbildung variabler und flexibler gestalten und sich viel mehr auf Unterschiede in der Vorbildung einstellen. Allenfalls brauchen sie dafür Unterstützung.

Das Übergangssystem als neue Bildungskategorie

Der Begriff «Übergangslösung» ist wenig schmeichelhaft und meint eigentlich die Warteschlange, die sich beim Eintritt in die berufliche Ausbildung gebildet hat. Damit werden alle Angebote bezeichnet, die eine Brücke bauen zwischen obligatorischer Schulzeit und einer Berufslehre bzw. einer weiterführenden Schule. Dazu gehören beispielsweise ein Motivationssemester, ein 10. Schuljahr, eine Au-pair-Stelle oder ein Praktikum. Jugendliche, welche sich in diesem Übergangssystem befinden, teilen eine gemeinsame Erfahrung: dass der Übergang Schule – Beruf für sie nicht erwartungsgemäss funktionierte. Heute absolvieren mehr als ein Viertel der Jugendlichen ein oder mehrere Brückenangebote. Sie werden also häufig von einer Massnahme zur nächsten geschickt. Und dies in einer Zeit, in der mehr als 8 000 Lehrstellen nicht besetzt werden können. Offenbar gibt es Fehlanreize im System, sodass die Warteschlange zu einer veritablen Bildungskategorie und zu einem Massenphänomen geworden ist, das für viele mit wenig beruflichen Perspektiven, hoher Arbeitsmarktunsicherheit und erschwerter beruflicher Identitätsbildung verbunden ist. Denn Jugendliche nehmen im Durchschnitt zwei Jahre – im Kanton Genf sogar drei Jahre – Brückenangebote in Anspruch. Wenn sie somit erst mit 18 Jahren eine Berufslehre beginnen und der Berufsfindungsprozess immer länger dauert, dann ist nach den damit verbundenen Folgen und Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Sozialstruktur zu fragen.

Lehrvertragsauflösungen und Fachkräftemangel

Eng damit verbunden ist das Phänomen der Lehrvertragsauflösungen, oft fälschlicherweise generalisierend als «Lehrabbrüche» bezeichnet. Dieses Phänomen hat es zwar immer schon gegeben, doch gerät es aufgrund seines Zusammenhangs mit dem drohenden Fachkräftemangel aktuell weit stärker in den Fokus als bisher. Da gerade Berufe, die allgemein ein Image-Problem haben – wie etwa bestimmte Bauberufe oder Bäcker/Konditoren – besonders stark von Lehrvertragsauflösungen betroffen sind, gilt das Wissen um die Ursachen solcher Entscheidungen als wichtige Herausforderung für die Berufsbildung. Gerade die Sorge um den Fachkräftemangel hat in den letzten Jahren zunehmend den Blick auf das Phänomen der Lehrvertrags­auflösungen gelenkt, und es sind verschiedene Bestandsaufnahmen hierzu durchgeführt worden. Trotzdem werden Lehrvertragsauflösungen immer noch vorwiegend als alleiniges Problem der Auszubildenden selbst, ihrer Leistungsfähigkeit, ihres Berufswahlverhaltens und ihrer Persönlichkeitsmerkmale verstanden.

Die neueste Forschung zeigt jedoch anderes: Betriebe und Berufsfachschulen sind ebenso ursächlich an Lehrvertragsauflösungen beteiligt wie die Jugendlichen selbst. Massnahmen, die im Hinblick auf den Fachkräftemangel Erfolg versprechend sein wollen, müssen deshalb bei allen Partnern ansetzen, nicht nur bei den Jugendlichen selbst.

Die Berufsbildung sollte über die Bücher gehen

Was bedeutet diese Situation für den «Kampf um die Talente»? Erstens, dass die Berufsbildung gut daran tut, über die Bücher zu gehen: Betriebe sollten ihre Selektionsmassnahmen überdenken und dabei viel stärker zwischen Leistung (Schulnoten) und Potenzial unterscheiden und Fähigkeiten jenseits des schulischen Wissens in ihren Rekrutierungsstrategien berücksichtigen. Die einseitigen Klagen über die fehlende Ausbildungsreife sind wenig innovativ und bilden nur die eine Seite der Medaille ab. Denn wer zu sehr auf schulische Kompetenzmerkmale setzt, schränkt den Kreis potenziell guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein und nutzt das Potenzial in keiner Art und Weise. Zudem ist das Übergangssystem zu überdenken. Obwohl für die einen Jugendlichen als willkommene Möglichkeit zur Überwindung von Handicaps, die sie bearbeiten, ausmerzen oder optimieren können (schlechte Schulnoten, psychische Probleme, Verhaltensschwierigkeiten, Suchterkrankungen usw.) landen zu viele von ihnen dort, die eigentlich eine Ausbildungsstelle antreten könnten. Schliesslich müsste sie gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel die Problematik der zunehmenden Anzahl der Lehrvertragsauflösungen branchenspezifisch und im Hinblick auf die Rolle der Ausbildungsbetriebe an die Hand nehmen.

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