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Kapitel 1 Herausforderungen für die Berufsbildung
ОглавлениеAktuell fällt die Berufsbildung durch mindestens drei Merkmale auf. Das erste Merkmal ist die ihr immer wieder zugeschriebene Qualität. So attestierte ihr die OECD-Studie «Learning for jobs» im Jahr 2009 «beeindruckende Qualitäten», weshalb sie «stolz auf ihr hochqualifiziertes Berufsbildungssystem» sein dürfe.[1] In der Tat gibt es wenig Vergleichbares, das überall und in allen Medien so präsent ist. Auch in der Bevölkerung besteht die weitgehend einhellige Überzeugung, dass das Schweizer Berufsbildungssystem eine hervorragende Einrichtung ist. Solche Komplimente kommen nicht einfach aus dem hohlen Bauch, sondern sind ein Hinweis darauf, wie fundiert die Berufsbildung aufgestellt ist.
Das zweite Merkmal betrifft die eigenartige Polarisierung zwischen Selbstüberschätzung – die Alt-Nationalrätin Josiane Aubert hat diese einmal eine «nationale Idealisierung der Berufsbildung» genannt – und wiederkehrenden Klagen. Diese bauen oft auf einer Schwarz-Weiss-Malerei auf und lassen ein gewisses Mass an Selbstkritik vermissen. Einerseits wird die Berufsbildung spätestens seit den SwissSkills 2014 auch als Exportschlager und Garant gegen Jugendarbeitslosigkeit[2] hochgelobt, andererseits aber als System mit zu vielen Lehrabbrüchen und zu wenig fähigen Auszubildenden kritisiert. Damit einher geht das dritte Merkmal: die Tatsache, dass von vielen Eltern und nicht selten auch von Lehrpersonen die Berufslehre im Vergleich zum gymnasialen Weg noch immer als minderwertig angesehen wird, als zwar für schulschwächere Jugendliche angemessen, aber nicht für begabte.
Mit Sicherheit wird die Berufsbildung in den kommenden Jahren mit verschiedensten Herausforderungen konfrontiert werden. Dabei wird es darauf ankommen, ob man diese im positiven Sinn als halbvolles oder negativ als halbleeres Glas ins Auge fasst. Unsere Forschungsstudien unterstützen die positive Sichtweise, und zwar in den folgenden vier Bereichen:
•Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe
•Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses
•Frühe Elternarbeit als Werbung für die Berufsbildung
•Könnerschaft durch Praktische Intelligenz
Solche Klagen lassen sich folglich auch als Schutzbehauptungen von Betrieben interpretieren, die sich nicht verändern oder keine Ausbildungsplätze mehr anbieten wollen. Trotzdem ist der Unmut so intensiv geworden, dass sich die Bildungspolitik damit auseinandersetzen und sich fragen muss, was denn zu tun ist. Einfach mehr Drill von der obligatorischen Schule verlangen, damit sie diese Mängel behebt? Dies greift wahrscheinlich zu kurz. Sollen die Betriebe ihre Anforderungen nach Ausbildungsreife strikt durchsetzen und deshalb Ausbildungsplätze aufgrund fehlender Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber streichen? Dies wiederum wäre für die Nachwuchs- und Fachkräftesicherung fatal.
Sicher ist, dass die stete Kritik an der fehlenden Ausbildungsreife der Jugendlichen in Zeiten des Lehrlingsmangels keine günstige Wirkung auf die Attraktivität der Berufsbildung hat. Weil die Akademisierung einerseits (immer mehr wollen in eine Fachmittelschule, etwas mehr ans Gymnasium) und die Demographie (sinkende Geburtenzahlen) für die nächste Zeit keine Trendwende prognostizieren, wird sich das duale System verändern müssen und sich den Realschülern, aber auch den Jugendlichen im Übergangssystem, verstärkt öffnen müssen – einer Klientel, die bisher eher gemieden wurde. Es braucht eine Überwindung des Tunnelblicks auf die anforderungshöchste Bildungsstufe. Damit einhergehend muss ein selbstkritischer Blick auf die Bildungsverordnungen geworfen werden und geprüft werden, inwiefern schulische Anforderungen unnötig hoch angesetzt werden. Manche Bildungsinhalte könnten wahrscheinlich auch erst in der Höheren Berufsbildung vermittelt werden.