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MEMO

MARI MÄRZ © 2020

Was sagt ein Haar über einen Menschen aus? Ist etwa ähnlich wie bei Jahresringen eines Baumes feststellbar, welches Leben dieser Mensch führte? Ich lasse ein solches Haar durch meine Finger gleiten.

Es ist meins.

Lang und blond.

Die Farbe ist nicht echt.

Wie so vieles an mir nicht echt ist.

Die letzten Zentimeter sind brüchig.

Ein Indiz, das mein Leben auszeichnet.

»Mel-Schätzchen, was tust du denn da? Iss lieber was von dem Kuchen, du bist viel zu dünn!«

Essen. Wie kann meine Mutter jetzt an Essen denken? Sie flaniert durchs Wohnzimmer, serviert ihren Gästen Getränke und Häppchen, als wäre das hier eine beschissene Party. Aber das hier ist keine Party, es sind auch nicht ihre Gäste.

Meine Schwester ist keinen Deut besser. Sie benimmt sich wie Mutter, als würde sie mit ihr wetteifern. Schon als kleines Mädchen hat sie das getan. Die billige Kopie einer Frau, die selbst keine Bereicherung für diese Welt darstellt.

»Lass die Kleine doch. Sie trauert und hat wahrscheinlich keinen Appetit.«

Onkel Dieter. Was weiß der schon über mich? Fünfzehn Jahre war ich nicht hier gewesen, habe versucht, mein Leben zu leben. Ohne dieses Haus und ohne diese Familie. Aber heute musste ich wohl kommen, um Abschied zu nehmen.

»Sie hat ihren Vater doch so geliebt«, höre ich meine Mutter sagen. Nein, sie sagt es nicht, sie singt die Worte. Für diese Frau ist alles rosarot, hübsch sortiert und blankgeschrubbt. Niemand weiß, wie es wirklich in ihr aussieht, hinter dieser Fassade aus Glitzer und Staub. Das habe ich wohl von ihr geerbt. Wahrscheinlich ist sie sogar froh, dass Papa tot ist. Drei Jahre hat er gelitten, bis der Krebs gewann.

Niemand interessiert sich heute dafür. Dieser Leichenschmaus passt zu meiner Mutter – verlogen, verfressen, verdammt. Eine Tradition, die mir genau wie diese Frau suspekt ist.

Ich wickle das Haar um meinen Zeigefinger und beobachte die Gäste. Das halbe Dorf ist hier, faselt, frisst und furzt. Hier, in diesem Kaff vor den Toren Berlins, wo ich meine Kindheit verbrachte. Warum bin ich hier? Um Papa die letzte Ehre zu erweisen? Weil es sich so gehört, dass die Tochter zur Beerdigung ihres Vaters erscheint?

Direkt nach der Beisetzung hätte ich verschwinden sollen. Ab in den nächsten Flieger und zurück in mein Leben, den Abstand wiederherstellen, sechstausend Kilometer zwischen mir und diesem Haus.

»Ja, unsere Melli hat ihren Papa sehr geliebt«, flötet meine Mutter in die Runde. Onkel Dieter hat sich zum Rauchen nach draußen verzogen. In mir steigt die Gier nach einem Joint. Den letzten hatte ich vor der Beisetzung, das ist jetzt zwei Stunden her. Aber wenn ich zu Onkel Dieter in den Garten gehe, wird er glauben, ich laufe ihm nach. Nein, das ist nichts für mich. Anbiedern ist das Steckenpferd meiner Schwester. Als Ebenbild unserer Mutter füllt sie Gläser auf, reicht Tabletts mit Kuchen und Canapés herum, präsentiert ihr Friede-Freude-Eierkuchen-Lächeln und glaubt offensichtlich sogar, dass alles in bester Ordnung sei.

Das Haar ist so fest um meinen Zeigefinger gewickelt, dass ich ein schmerzhaftes Pochen spüre. Mein Blut kann nicht mehr richtig fließen, die Gefäße sind eingeengt von einem schlichten Haar. Mein Finger und ich haben vieles gemeinsam. Ich zerre das Haar von meinem Fleisch, gebe ihm Raum, werfe es auf den Teppich zu den Kuchenkrümeln der Gäste. Wenn ich noch länger zwischen all diesen netten Menschen sitze, werde ich explodieren.

»Wo willst du denn hin, Schätzchen?«

Meine Mutter hat ihre Augen überall, sieht aber letztlich nur das, was sie sehen will. Mich hat sie seit meiner Ankunft fest im Blick, auch wenn sie keine Ahnung hat, wie es mir geht. Ich habe gehofft, dass sie nicht bemerkt, wie ich mich aus dem Haus stehle, aber weit gefehlt. Ihre Unterhaltung mit zwei älteren Damen ist nur Fassade – wie alles hier.

»Ich gehe mal an die frische Luft«, brumme ich eine lieblose Erklärung und verlasse meinen Platz auf der Couch. Er wird sofort von einigen Kindern okkupiert, die ich nicht kenne. Keine Verwandtschaft, soweit ich weiß. Aber was weiß ich schon?

Alles hier wirkt fremd, wie aus einem Film, den ich irgendwann einmal gesehen habe. Die Erinnerungen sind bruchstückhaft, längst versunken in der Zeit. Ich bahne meinen Weg an Menschen vorbei, die mir fremd sind, durch ein Haus, das irgendwann mein Zuhause war. Der Geruch nach Vergangenheit begleitet mich, hüllt mich ein wie dichter Nebel, klebt an mir wie eine Patina – Schicht für Schicht ein Erlebnis, das ich vergessen habe.

Ich öffne die Tür, atme die frische Frühlingsluft, empfange das Licht der Märzsonne auf meiner Haut und könnte fast glauben, dass ich mich gut fühle.

Glitzer und Staub – zwei Dinge, die nicht zusammengehören und doch hier an diesem Ort vereint sind wie ein Paar Socken, von denen eines ein Loch hat. Ich bin die Socke mit dem Loch, war es immer gewesen. Ich bin der Staub, den man gern unter den Teppich kehrt wie unliebsame Wahrheiten.

»Na, Melli-Herz, auch ’ne Kippe?«

Onkel Dieter. Natürlich! Der Bruder meines Vaters. Sein Ebenbild oder vielmehr das Negativ – seitenverkehrt, entgegengesetzte Farbgebung, umgekehrt belichtet. Wie ich und meine Schwester. Sie ist der Glitzer, ich der Staub.

Nur widerwillig lächle ich Onkel Dieter zu und gehe weiter. Er wohnt nebenan, die Grundstücke gehörten früher zusammen. Jeder Bruder bekam genau die Hälfte, baute ein Haus; das eine hell und schön, das andere dunkel. Im Gegensatz zu Papa war Onkel Dieter viel zu Hause. Bei sich und bei uns. Er half mir bei den Schularbeiten, meiner Mutter im Garten, meiner Schwester bei was auch immer. Er war immer da – wie ein Möbelstück, das man nicht wegwerfen will oder kann.

Ob er meiner Mutter immer noch im Garten hilft? Alles sieht gepflegt aus, Hecken und Sträucher sind bereits geschnitten, Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen recken ihre bunten Spitzen siegesmutig der Sonne entgegen. Kein Frühblüher steht zufällig, ihre Zwiebeln wurden präzise in den Boden gesteckt; zwischen Gartenzwerge und Dekosteine. Und falls sich doch eine Pflanze erdreisten sollte, am falschen Fleck zu wachsen, dann wird sie herausgerissen und weggeworfen. Immer hübsch akkurat und adrett.

Schon als Kind hasste ich diese pedantische Ordnung, fühlte mich wie in einer Filmkulisse. Nichts war real und ich nicht mehr als ein Requisit. Vielleicht kann ich mich deshalb nur schwer an jene Zeit erinnern. Sie war nicht echt, fühlte sich falsch an.

Wie von selbst tragen mich meine Füße zu dem alten Apfelbaum. Seine Krone ist gestutzt, für den Sommer vorbereitet. Er wird Früchte tragen.

Die Schaukel hängt noch. Eines der wenigen Rudimente meiner Kindheit. Meiner und ...

Ich halte mich fest an den kalten Ketten der Schaukel. Der starke Ast des Apfelbaums ächzt unter meinem Gewicht. Mein Fuß tritt auf den Rasen, stößt sich ab.

Bewegung.

Mein Körper schwingt vor und zurück, während ich den Joint aus meiner Jackentasche krame, ihn anzünde und tief jene Substanz inhaliere, die mir all die Jahre beim Vergessen half.

Entspannung.

Mit jedem weiteren Zug spüre ich, wie eine Last von mir fällt. Ich schwinge, schaukle, drifte zurück durch die Zeit. Jetset, Meetings, Afterwork, Manhatten, Skyline, mein Apartment, Männer, namenlos ... Arbeit, Termine, Hektik, Yogastudio, Achtzigstundenwochen, Studium, Freiheit ... Auszug, Abschlussball, Konfirmation, Sommer, Baden im See, Hausaufgaben, Pickel, die erste Menstruation, Onkel Dieter ...

Wie früher steht er hinter mir, gibt mir einen Schubs, noch einen, bis ich auf meiner Schaukel durch die Luft fliege.

Mochte ich das früher, mag ich es jetzt?

Bilder.

Der Film, in dem ich mich mein Leben lang gefangen fühlte, wird von einer imaginären Macht abgespielt.

Stück für Stück.

Bild für Bild.

Ich will ihn nicht sehen.

»Das gefällt dir, stimmt’s?«, brummt Onkel Dieter hinter mir. Mein Körper fliegt, doch mein Blick ist starr auf ein kleines Mädchen gerichtet. Es steht direkt vor mir in einem hübschen Sommerkleid ... am Eingang zur Garage.

Papas Domizil.

Wo kommt es plötzlich her?

»Halte an, Onkel Dieter!«

Ich höre sein Lachen, rieche den Zigarettenqualm. Alles wie früher. Doch heute bin ich erwachsen, kann mich wehren. Deshalb springe ich von der Schaukel, lande hart vor den Füßen des Mädchens. Noch immer haften meine Augen an der Kleinen. Auf ihrem Kleid erkenne ich jetzt einen Namen mit rosarotem Garn gestickt.

LISSI.

Wer ist Lissi, zu wem gehört sie?

Ich drehe mich zu Onkel Dieter, will ihn fragen. Er zündet sich die nächste Zigarette an und grinst. Dann zeigt er auf den halbgerauchten Joint, der unter der Schaukel im Gras liegt. »Das mit den Drogen haste immer noch nich im Griff, wa?«

»Das ist Medizin. Was geht es dich an?!«, erwidere ich trotzig wie ein Teenager, klaube den Joint vom Boden und stecke ihn zurück in meine Jackentasche. Dann stehe ich auf, klopfe mir Grashalme von der Jeans, und während ich mich zurück zu dem Mädchen drehe, sage ich: »Willst du jetzt schaukeln?«

Meine Frage erreicht den Empfänger nicht. Lissi ist verschwunden. Verwirrt schaue ich mich um, kein Mädchen, kein Kleid mit rosarot gestickten Buchstaben.

»Wer, ich?« Onkel Dieter feixt vor sich hin, hustet, zieht an seiner Zigarette und brummt: »Mädel, du bist noch genauso irre wie früher.«

Ich will das nicht hören, stürze an ihm vorbei, zurück ins Haus. Keine Sekunde länger kann ich hierbleiben. Meine Tasche, wo ist meine Tasche? Ich werde sie holen und dann von hier verschwinden.

Für immer!

»Mel-Schätzchen, da bist du ja! Komm, setz dich zu uns! Wir unterhalten uns gerade über Papa. Du warst doch sein Liebling, also erzähl doch bitte etwas Nettes über ihn!«

Die Luft ist stickig hier drin. Zu viele Menschen. Warum gehen sie nicht endlich? Was haben sie hier zu suchen? Papa ist tot, da hilft es auch nicht, etwas Nettes über ihn zu sagen.

»Mir fällt nichts ein«, will ich ihrer Bitte ausweichen, weiß aber, dass es keinen Sinn hat. Denn meine Mutter ist daran gewöhnt, dass man ihren Wünschen nachkommt. Jeder, der es bisher wagte, ihr etwas abzuschlagen, musste mit den Konsequenzen leben, die von Nervenzusammenbrüchen bis Selbstmorddrohungen reichten. In dieser Familie sind alle darauf konditioniert, Mutters Wünsche zu respektieren. Auch ich.

Deshalb schlurfe ich widerwillig zur Couch, quetsche mich zwischen Tante Claudia und meine Mutter, hole tief Luft und ...

Mir fällt wirklich nichts ein. Aus purer Verzweiflung schnappe ich mir den Teller vom Tisch, auf dem immer noch jenes Kuchenstück liegt, das ich vorhin nicht essen konnte. Auch jetzt habe ich keine Lust darauf, aber vielleicht lenkt es meine Mutter ab.

»Mmh, ist der lecker! Wer hat den gebacken?«

Tante Claudia neben mir hebt lächelnd den Zeigefinger. Ich könnte ihr eines meiner Haare darum wickeln.

»Mama, wo hast du eigentlich meine Tasche hingestellt?«

Mutter starrt mich an. Ich weiß, was in ihrem perfekt frisierten Kopf vorgeht. Sie will, dass ich etwas Nettes über Papa sage. Doch jetzt lamentiert Tante Claudia über ihren Kuchen, erläutert die Zutaten, erklärt bis ins Detail, wie sie ihn gebacken hat. Ein neues Rezept aus diesem Internet.

Viele am Tisch schauen skeptisch. Sie sind zu alt, um das Internet zu kennen. Meine Schwester nutzt diesen vermaledeiten Umstand, die Unterhaltung zu unterbrechen und damit Tante Claudia die Show zu stehlen. Das macht sie immer so. Genau wie Mutter. Diese ringt um ihre Fassung. Am liebsten würde sie jetzt Migräne bekommen oder theatralisch in Ohnmacht fallen, nur um im Mittelpunkt zu sein. Stattdessen hat sie offenbar einen anderen Plan. Sie steht auf, streicht sich das Kleid glatt, prüft mit geübtem Handgriff, ob ihre Frisur noch sitzt, und verschwindet im ersten Stock, wo früher unsere Kinderzimmer waren. Das meiner Schwester dient heute als Wäscheraum, meins wurde umfunktioniert zu einem privaten Wellnesstempel. Gleich nach meinem Auszug musste Papa die Wand zum Bad herausreißen, alles frisch renovieren und eine Sauna bauen, wo einst mein Bett stand. Alles, was ich bei meinem Auszug nicht mitgenommen habe, landete in der Altkleidersammlung oder auf dem Sperrmüll.

Nichts von mir ist übrig in diesem Haus.

Ich bin nicht traurig darüber.

»Schätzchen, schau mal, was ich für dich habe!«

Mutter ist zurück. Sie hält einen Karton in der Hand, den ich erkenne. Als kleines Mädchen habe ich Schuhkartons mit buntem Papier und glitzernden Pailletten beklebt, um darin alles Mögliche aufzuheben. Einen dieser Kartons stellt Mutter nun neben den Kuchenteller auf den Couchtisch. Mit einem strahlenden Lächeln nimmt sie den Deckel ab und schiebt ihn unter den Karton. »Ich hätte dir das auch schicken können, aber irgendwie dachten wir, dass es schöner wäre, wenn du die Sachen hier an dich nimmst.«

Welche Sachen? In dem Karton liegt nur altes Zeug. Eine Puppe, Tagebücher, mein erstes Handy. Was soll ich damit? Alles, was ich brauche, habe ich in meinem Apartment in New York City. Zum Glück geht morgen mein Flug nach Hause. Wenn ich endlich weiß, wo Mutter meine Tasche hingestellt hat, könnte ich mir ein Taxi rufen und irgendwo in Flughafennähe ein Hotelzimmer mieten. Ich muss hier weg, und zwar schleunigst!

»Das Handy habe ich versucht aufzuladen.«

Hat sie das gerade wirklich gesagt? Dieses blöde Handy ist fünfzehn Jahre alt! Was soll ich damit?

Mutter stellt mir den Karton auf den Schoß. Da ist dieses Drängen in ihrer Aura, das ich früher schon hasste. Immer muss es nach ihrem verdammten Willen gehen. Alle am Tisch schauen mich an, nein, sie glotzen. Hässliche Fratzen. Penetrant.

Was wollen sie von mir?

Stumm starre ich auf den Karton. Er wiegt schwer auf meinem Schoß. Zu schwer!

Der Geruch nach etwas Altem kriecht mir in die Nase. Ich rieche Staub.

Glitzer und Staub.

Etwas Vertrautes.

Abstoßendes.

»Sie hat ihren Vater so geliebt«, höre ich meine Mutter dumpf im Hintergrund, als wäre sie plötzlich weit weg. Aber da sind immer noch die stechenden Blicke der anderen. Meine Schwester, sie taxiert mich wie eine Hyäne. Als Kinder hatten wir einen guten Draht zueinander, spielten und lachten gemeinsam. Irgendwann begann ich sie zu hassen, weil sie so war wie meine Mutter.

Warum eigentlich?

Am liebsten würde ich diesen Karton quer über den Couchtisch werfen. Mitten in die heile Welt der Kaffeetassen.

»Wo hast du meine Tasche hingestellt?«

Mutter unterbricht ihre Unterhaltung mit Tante Claudia, die mich betroffen ansieht, als wäre ich krank oder so. »Schätzchen, ich habe deine Tasche nicht weggestellt.«

Ich nicke, sage aber nichts. Natürlich hat sie meine Tasche weggestellt, weil sie nicht will, dass ich gehe.

Dieser Karton, ich muss ihn loswerden. Vielleicht sollte ich ihn draußen in die Mülltonne werfen. Nichts darin ist von Wert. Meine Tagebücher, ja. Sie könnten eine hübsche Erinnerung sein ... Woran? An Pickel, Pubertät und Liebeskummer? Und dann dieses Handy. Ich nehme es in die Hand, wische mit dem Daumen über das Display. Es leuchtet.

Was?

Erinnere dich!

Wer hat diese Nachricht geschrieben? Aufmerksam betrachte ich die Gesichter um mich. Niemand sieht zu mir, sie alle sind vertieft in ein Video, das wohl unsere Mutter gerade angeschaltet hat. Sie und Papa beim Standesamt, beide glücklich lächelnd während ihrer Hochzeitsfeier ...

Mutter sitzt weinend vor dem Fernseher. So zerbrechlich habe ich sie noch nie gesehen.

Ich muss hier raus!

Niemand bemerkt, wie ich aufstehe. Alle schauen gebannt auf den Fernseher. Mutter schluchzt herzerweichend, Tante Claudia ebenfalls.

Auf Zehenspitzen schleiche ich mich aus dem Wohnzimmer, den Karton unter dem Arm. Das Display leuchtet schon wieder. Keine weitere Nachricht. Ein Foto.

Das Mädchen von vorhin.

Dasselbe Kleid.

LISSI.

Aber etwas ist anders. Das Kleid ist schmutzig.

Blut am Saum.

Wer hat dieses Foto gemacht?

Was ist hier los?

Ich stürzte aus dem Haus.

Wohin?

Onkel Dieter ist nicht zu sehen.

Ich laufe zur Schaukel vor der Garage.

Papas Domizil.

Hier stand das Mädchen vorhin. Dasselbe Kleid. Jetzt ist es schmutzig. Blutig! Was ist passiert?

Ich presse den Karton an mich, schaue hinein, als würde ich dort eine Antwort finden.

Das Handy. Wieder eine Nachricht.

Finde mich!

Wie kann das sein? Wie soll ein kleines Mädchen mir diese Nachricht schicken?

Noch ein Foto.

Dasselbe Kleid. Bis über den Bauch hochgezogen. Kein Schlüpfer. Blut. Das Mädchen sitzt auf einer Werkbank. Eine Tüte Gummibärchen in der Hand.

Ich hasse Gummibärchen!

Mein Blick schweift durch den Garten, verharrt am Haus. Soll ich die anderen rufen? Irgendetwas in mir schreit, dass sie nicht helfen werden. Warum? Jeder würde doch helfen, wenn ein kleines Mädchen in Gefahr ist. Oder?

Einem inneren Drang folgend, stelle ich den Karton auf die Schaukel, nehme das Handy und laufe zur Garage. Es sind nur ein paar Meter, doch die Distanz ist plötzlich riesig, als würde sich das Garagentor mit jedem Schritt weiter entfernen. Ich atme tief ein, noch einmal. Das Handy in meiner Hand vibriert.

Gleich hast du mich gefunden. Beeil dich!

Noch ein Foto.

Die kleine Lissi ist nicht allein. Noch immer sitzt sie auf der Werkbank. Ein Mann steht vor ihr. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Die nackten Beinchen des Mädchens links und rechts neben seinem beharrten Hintern. Seine Hose hängt in den Kniekehlen. Die Tüte Gummibärchen. Lissis Hand verkrampft sich darum.

Ich muss sie finden.

Endlich halte ich den Griff des Garagentors, ziehe daran. Es ist schwer, viel zu schwer für ein kleines Mädchen. Ich ziehe kräftiger, bis sich der Rollmechanismus in Gang setzt. Halb hoch. Für mehr reicht meine Kraft nicht. Ich bücke mich, tauche ab in die Dunkelheit. Gestank penetriert meine Sinne.

Glitzer und Staub.

War ich je hier gewesen? Papa hatte uns verboten, seine Garage zu betreten. Niemand durfte hier rein außer Onkel Dieter.

Es ist so finster.

»Lissi?«, rufe ich in die Dunkelheit. Meine Augen suchen in den Schatten nach einem Lichtschalter. Stattdessen finden sie den unteren Teil der Werkbank. Grobes Holz im Strahl der einfallenden Sonne. Ich stecke das Handy in die Tasche meiner Jeans, stemme beide Hände unter das Rolltor und ziehe. Ein Knarren, gefolgt von einem Quietschen. Jetzt endlich bewegt es sich weiter, überwindet die Sperre und gleitet nach oben.

Licht! Ich sehe die Werkbank. Keine Lissi. Wo ist das Mädchen? Ich muss es retten vor diesem Kerl, diesem Ungeheuer.

Ungeheuer.

Etwas in mir schreckt auf bei diesem Wort. Ich hole das Handy aus meiner Hosentasche, starre auf das Foto. Der Mann, er steht mit dem Rücken zur Kamera. Jetzt bewegt er sich. Mein Herz rast. Wie kann das sein? Ein Foto auf einem uralten Handy?

Er dreht sich zu mir. Lissi wimmert hinter ihm, ihre kleinen Schenkel sind gespreizt. Blut klebt auf ihnen. Blut und Sperma. Das Gesicht des Mannes ist jetzt direkt vor der Kamera. Sein rechter Zeigefinger berührt senkrecht seine Lippen. Ich soll still sein.

»Ich bin still«, flüstere ich und schlage mir abrupt die eigene Hand vor den Mund.

»Was tust du hier?«

Onkel Dieter. Er steht am offenen Garagentor, eine qualmende Zigarette in der Hand.

Steht er wirklich dort?

»Wo ist Lissi?«, rufe ich ihm entgegen. Onkel Dieter scheint real zu sein. Sein Blick ist nicht zu deuten, während er an seiner Zigarette zieht und sich dann abwendet. »Ich werde deine Mutter holen.«

»Nein!« brülle ich panisch.

Onkel Dieter schüttelt den Kopf und läuft zum Haus. Ich schaue ihm nach, dann auf das Handy. Hier habe ich doch den Beweis ...

Das Display ist schwarz.

Ich drücke sämtliche Knöpfe.

Nichts.

Hektisch laufe ich zur Schaukel, suche im Karton nach einem Kabel. Sagte Mutter nicht vorhin, sie hätte versucht, es aufzuladen? Da ist das Kabel, unter den Tagebüchern. Es ist kaputt, direkt am Stecker gebrochen. Ich will es trotzdem versuchen und laufe zurück in die Garage, den Karton unter meinem Arm. Irgendwo muss hier doch eine Steckdose sein? Den Karton stelle ich auf die Werkbank, wo meine Augen akribisch nach Blutflecken suchen.

Doch da ist nichts.

Kein Blut. Kein Sperma.

Eine Steckdose. Direkt vor mir an der Wand. Ich ramme den Stecker hinein, verbinde das Kabel mit dem Handy.

Nichts.

Wieder drücke ich alle Knöpfe.

Das Display bleibt schwarz.

»Was tust du hier?«

Meine Schwester steht jetzt an derselben Stelle wie eben noch Onkel Dieter. Auch sie taxiert mich.

»Wo ist Lissi?«, stelle ich ihr dieselbe Frage.

»Mel, beruhige dich! Du wirst gleich abgeholt.«

Abgeholt? Von wem? Hat Mutter meine Tasche gefunden, kann ich endlich mit dem Taxi ins Hotel und morgen zurück nach New York?

Aber vorher muss ich Lissi finden.

Ich soll still sein, aber das will ich nicht.

Nicht mehr.

»Mama telefoniert gerade mit deinem Therapeuten. Alles ist gut, Mel.«

Nichts ist gut. Welcher Therapeut?

»Willst du mich verarschen? Ich habe hier Beweise, dass ...« Ich halte das Handy hoch, es fühlt sich kalt an. Verzweifelt schaue ich auf das schwarze Display. »Da waren Fotos«, rufe ich und strecke meiner Schwester das Telefon entgegen.

»Nein, Mel. Da waren keine Fotos. Du bildest dir das nur ein.«

Was? Warum sollte ich das tun? Ich habe sie doch deutlich gesehen.

Die Nachrichten.

Die kleine Lissi.

Und Papa.

Aber Papa ist tot.

Wir waren heute bei seiner Beerdigung. Jemand hat sich einen schlechten Scherz mit mir erlaubt. Oder kommt das vom Kiffen? Die Sehnsucht nach einem Joint ist plötzlich übermächtig. Ich muss mich beruhigen.

Sei still!, dröhnt es in meinem Kopf.

Aber ich will nicht still sein, will mich nicht beruhigen. Nicht mehr. Das alles kann doch nicht nur Einbildung sein.

Das Handy in meiner Hand vibriert.

Schau unter die Werkbank!

Triumphierend halte ich das Telefon gegen das Sonnenlicht. Jetzt habe ich den Beweis. Doch meine Schwester ist nicht mehr da. Verwirrt sehe ich in den Garten. Die Haustür schließt sich gerade.

Wieder vibriert das Handy.

Beeil dich!

Ich stürze zurück in den Schatten und falle auf die Knie. Jede Menge Kisten stehen unter der Werkbank. Nur mit Mühe gelingt es mir, sie beiseitezuschieben. Was soll ich hier finden? Meine Finger tasten in der Dunkelheit, bis in die letzte Ecke – dort, wo kein Licht scheint.

Da! Ich fühle etwas Weiches.

Widerwillig greife ich danach.

Es könnte ein totes Insekt sein.

Entschlossen richte ich mich auf, halte dieses Etwas ins Licht. Sonnenstrahlen tanzen darum.

Ein rotes Gummibärchen.

Die mochte ich früher am liebsten.

Nein, Stopp! Ich hasse Gummibärchen!

Stimmen werden laut. Meine Mutter kommt aus dem Haus, läuft durch den Garten zur Straße.

Du wirst gleich abgeholt.

Panisch schaue ich mich um. Wo soll ich hin? Rund um den Garten ist eine Mauer, der einzige Weg nach draußen führt über das Tor zur Straße. Dort, wo meine Mutter jetzt steht und ...

Die Beweise! Ich muss die Beweise sichern. Das Handy. Sein Display ist wieder schwarz. Atemlos drücke ich darauf herum, ziehe das Kabel ab und schüttle es. Die hintere Klappe fällt ab. Kein Akku. Dieses Handy hat keinen Akku!

Habe ich mir tatsächlich alles nur eingebildet?

Aber das Gummibärchen!

Noch immer halte ich es in der Hand, die feucht ist vor Angst. Die rote Gelatine schmilzt, breitet sich aus wie Blut. Aus einem Impuls heraus stecke ich das Gummibärchen in den Mund.

Die roten mochte ich früher am liebsten.

Mir wird schlecht. Ich spucke roten Schleim.

Blut und Sperma.

Was ist nur los mit mir? Wer ist diese Lissi?

»Sie werden dich jetzt abholen.«

Meine Schwester ist wieder da. Wie ein Engel steht sie im Sonnenlicht und schaut voller Mitleid auf mich herab.

»Wer ist Lissi?«, frage ich verzweifelt.

»Hör auf damit! Du bildest dir das alles nur ein.«

Ich kann es nicht glauben. Kopfschüttelnd lege ich das Handy in den Karton. Wer auch immer mich jetzt abholt, ich werde die Erinnerungen mitnehmen. Behutsam ziehe ich den Deckel hervor, den meine Mutter vorhin unter den Karton gesteckt hat. Ich hebe ihn hoch, bedecke das Handy, meine Tagebücher und verschließe mein Memo. Sanft streichen meine Finger über den Deckel, bis sie etwas offenbaren, das mich erstarren lässt. Auf dem Deckel sind fünf Buchstaben. Ordentlich aus rosarotem Buntpapier ausgeschnitten, abgeklebt, mit einem Glitzerfilzstift umrandet.

LISSI.

Erkenntnis explodiert in meinem Kopf. Meine Finger krampfen sich um den Deckel mit den fünf Buchstaben. Es gibt keine Lissi. Nicht mehr! Ihre Seele starb an meinem sechsten Geburtstag.

»Mel-Schätzchen, dein Taxi ist da. Ich hatte so gehofft, dass du diesen Tag nicht kaputtmachst. Gerade heute zur Beerdigung deines lieben Papas.«

Mir wird wieder schlecht.

Ich schmecke Blut.

Blut und Sperma.

Wie einen Schutzschild halte ich den Karton vor meine Brust gepresst, als ich mich erhebe und an Mutter vorbeilaufe. Ich schenke ihr einen letzten hasserfüllten Blick. »Mein lieber Papa soll in der Hölle schmoren!«

Dann laufe ich in den Garten, vorbei an der Schaukel, den entsetzten Leichenschmaus-Gästen, meiner Schwester, Tante Claudia, Onkel Dieter ... hin zur Straße, wo Doktor Kramer auf mich erwartet. Mein Therapeut. Ich weiß jetzt wieder, dass es kein Apartment in Manhatten gibt. Seit fünfzehn Jahren lebe ich in einer betreuten Wohngemeinschaft und bin Dauergast der psychiatrischen Klinik in Berlin.

»Melissa! Ich freue mich, Sie wohlauf zu sehen«, empfängt mich Doktor Kramer. Er hat mir für heute freigegeben, damit ich meinen Vater beerdigen kann. Wahrscheinlich hofft er auf eine Traumabewältigung, dass mein Unterbewusstsein länger als ein paar Minuten die Vergangenheit preisgibt. Doch ich habe die Hoffnung längst verloren. Meine Seele wird nicht wieder gesund, sie ist gestorben, damals ... an meinem sechsten Geburtstag.

MAD-MIX2: Corona-Shorts

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