Читать книгу Wenn nicht heute, vielleicht irgendwann - Maria Honoratus S. - Страница 4

Kapitel 2

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Der Frühling kam früh in diesem Jahr. Das kam mir gerade Recht: mein wetterbedingtes Stimmungstief hielt sich schon viel zu lange. Endlich wieder mehr Licht, mehr Bewegung, mehr frische Luft, mehr Grün. Ich mutierte so langsam wieder zu einem einigermaßen zufriedenem Menschen. Gut für mich und gut für meine Umwelt.

Bis Mitte Juni verlief mein Leben in gewohnten Bahnen: Arbeiten, Familie, Freunde, Einkaufen, Putzen. Mindestens einen Panikanfall im Monat. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse.

Die Frau und ihren Mann hatte ich seit Januar nicht wieder gesehen, obwohl ich täglich mit Gringo an ihrem Haus vorbei spazierte. Bis zu diesem Tag im Juni. Es war ein sehr heißer Tag, und ich hatte die Runde mit Gringo bewusst auf den späten Nachmittag verschoben, weil ich uns allen die beißende Mittagshitze ersparen wollte: Alisar, mir und auch dem Hund. Alisar, kurz vor ihrem 4.ten Geburtstag bestand darauf, ihr Laufrad mitzunehmen. Ich versuchte, ihr das Laufrad auszureden, weil ich aufgeschürfte Knie befürchtete. Eine lange Hose bei den Temperaturen undenkbar. Sie ließ sich selbstverständlich nicht davon abbringen das Laufrad mitzunehmen. Auf Grund der Wärme waren wir relativ langsam unterwegs und ich dachte schon, meine Sturzfantasien würden sich vielleicht doch nicht bewahrheiten. Und dann, auf Höhe genau des Hauses, die Straße leicht bergab, sodass Alisar mit viel Schwung an mir vorbei schoss, wurde meine Prophezeihung war. Alisar verlor die Kontrolle und fiel. Die Zeit nach dem Aufprall, ich lief zu ihr und zählte die Sekunden, die vergingen, bis ihr grelles Schreien erklang um abschätzen zu können, wie schwerwiegend dieser Sturz sein würde. Eins-zwei-drei-vier-fünf, schwerwiegend. Ich nahm sie in den Arm und sprach beruhigende Worte vor mich hin, von denen ich nicht wusste, wen sie eigentlich beruhigen sollten, Alisar oder mich. Gringo kam beim ersten Sopran sofort angerannt und stand unschlüssig neben uns. Es war laut, sehr laut. Und es würde lauter werden, sobald ich fordern würde, einen Blick auf die Knie zu werfen. In solchen Momenten nehme ich meine Umgebung kaum mehr wahr. Alles konzentriert sich nur auf die Situation. Es gibt keine klaren Gedanken mehr und auch keine Umgebung. Daher realisierte ich nicht, dass die Tür des Hauses, vor dem wir uns befanden, sich öffnete. Ich sah nicht die Frau, die aus der Tür heraus zu uns hinüber sah. Ich sah nicht, dass sie sich wieder ins Haus zurück zog, die Tür offen, um einen Moment später wieder dort zu erscheinen, mit einem Verbandskoffer in der Hand. Für einen Moment war die Frau noch unschlüssig, sie war nicht bemerkt worden und konnte sich lautlos wieder ins Innere des Hauses zurück ziehen. Doch sie entschied anders. Einmal entschlossen, war sie in wenigen aber beherzten Schritten bei uns. Sie schob sich an den Rand meines Tunnelblicks und fragte, ob sie helfen könne. Ich habe hier, sehen Sie her, Verbandsmaterial. Alisar unterbrach ihr Geheul, blickte neugierig die Frau mit dem Verbandskoffer an und erbat sich in aller Höflichkeit, einen Blick in den Koffer werfen zu dürfen, da sei sicher was drin, was ihr helfen würde. Vorsichtig konnte ich einen ersten Blick auf das betroffene Knie werfen. Es sah aus, wie ein aufgeschürftes Knie eben so aussieht. Die Frau öffnete den Koffer und Alisar inspizierte aufmerksam deren Inhalt. Das größte Pflaster, was der Koffer hergab, suchte sie sich aus. Es ging mir grad durch den Kopf, da hörte ich auch schon die Worte: die Wunde sollte zuvor gesäubert werden. Alisar holte nach diesem Satz tief Luft, Eins-Zwei-Drei-Vier, diesmal immerhin nur Vier und es folgte ein weiterer Sopran. Die Frau, sich bewusst werdend, dass sie diese erneute Aufruhr verschuldet hatte, versuchte es wieder gut zu machen, indem sie Alisar abzulenken versuchte. Mir wurde langsam klar, dass ich hier die Mutter war: ich musste das Ganze wieder unter Kontrolle und vor allem zu einem Ende bringen. Ich entschied, dass Alisar das Pflaster auf das Knie kleben konnte, ohne diese vorher zu reinigen. Der Frau zugewandt teilte ich im Flüsterton mit, dass ich dies zu natürlich zu Hause nachholen würde, wenn das Kind sich etwas beruhigt hätte.

An dieser Stelle hätte die Situation abgeschlossen sein können. Auf Wiedersehen und den Heimweg antreten. Aber mir ist sowas natürlich nicht vergönnt. In dem Moment, in dem ich mich verabschieden wollte, mit bestem Dank für die freundliche Hilfe, das gibt es ja heut zu Tage kaum noch, erledigte Gringo sein großes Geschäft direkt auf den Grünstreifen vor dem Grundstück der Frau. Ich sah es, sie sah es. Alisar kommentierte es. Es war peinlich. Unangenehm. Einfach unendlich unangenehm. Natürlich hatte ich nichts dabei, womit ich in der Lage gewesen wäre, dieses kleine Missgeschick zu beseitigen. Ich entschuldigte mich über alle Maßen, als hätte ich gerade vor ihren Augen ihr Haus in Brand gesetzt oder dergleichen und ich versprach, dies heute noch zu beseitigen. Sie meinte, es sei alles halb so schlimm, eben nur ein Hundekackhaufen, der sich nach einiger Zeit selbst zersetzen würde. Ich beließ es dabei und erwähnte noch mal wie furchtbar unangenehm mir das Ganze sei, als Alisar plötzlich anfing zu quengeln, sie habe Durst. So ist das immer bei mir, schon seit Anbeginn meiner Zeit. Ein Fauxpas ist immer nur der Anfang. Die Frau ging sofort darauf ein und bat uns ins Haus, inklusive des hechelnden Gringo. Alisar durfte wählen und entschied sich für einen Orangensaft. Ich nahm ein Wasser, obwohl ich eigentlich gar nichts trinken wollte. Ich wollte nichts als weg, aus dieser Situation, die ich mir nicht erbeten hatte. Alles, was mir wiederfährt und was ich mir nicht ausdrücklich gewünscht habe, empfinde ich nämlich als nicht richtig. So war dieser Spaziergang nicht geplant und nicht gewünscht und das bedeutete, dass nun irgendwas nicht richtig lief. Die Frau bat uns auf die Terrasse, die man von der Küche aus, in welcher wir uns befanden, erreichen konnte. Hochwertige Holzmöbel mit sauberen Sitzpolstern, alles machte einen sehr ordentlichen, ja geordneten Eindruck. Erneut stieg Panik in mir auf: ich sah Alisar bereits mit ihren Sandalen auf den Stühlen herum klettern. Die Frau, deren Namen ich immer noch nicht kannte, bat uns, Platz zu nehmen. Beiläufig, im Weggehen begriffen, erwähnte sie, dass sie übrigens Ella hieße. Ella, dies sei ihr Name. Ich stutze, weil sie dies gleich zweifach erwähnte. Ich kam nicht mehr dazu mich vorzustellen, sie hatte die Terrasse bereits verlassen. Im nächsten Augenblick war sie aber schon wieder da, mit einem Eis für Alisar. Ich überspielte eine erneut aufwallende Unruhe (das Eis und die Gartenmöbelgarnitur!) gekonnt und stellte auch mich vor: ich bin übrigens Dana. Unangenehmes Schweigen breitete sich aus, es war alles gesagt und Ella war, genau wie ich, nicht besonders gut darin, Belanglosigkeiten auszutauschen. Gringo inspizierte derweil den Garten. Dass er sich hier erleichtern würde, brauchte ich ja immerhin nicht mehr zu befürchten. Dann ein erstes vorsichtiges Fragen: Wo im Dorf lebt ihr? Ich beschrieb es ihr, was selbst für mich nicht sehr schwierig war, bei der einfachen Geographie des Dorfes. Damit das Gespräch, was noch keines war, gelang, erzählte ich das, was ich allen vorzutragen pflege. Im Sommer, so wie jetzt, liebe ich diesen Ort und unsere Wohnung mit Garten- man kann quasi den ganzen Tag im Freien sein. Draußen essen. Barfuß durch den Garten laufen. Im Winter hingegen hasse ich diesen Ort: trist, trostlos, einsam. Dann kommt es mir vor, als befände ich mich an dem hässlichsten Ort, den es gibt auf der Welt. Dies trug ich vor wie einen auswendig gelernten Vortrag, den ich schon viel zu oft vorgetragen hatte. Ella schob hier und da zustimmende Worte ein und nickte zur Untermalung des Ganzen leicht mit dem Kopf, was wohl hieß, dass sie meinen Gedankengängen folgen konnte. Um nicht nur von mir zu sprechen oder gar desinteressiert zu wirken, fragte ich Ella, ob sie denn schon immer hier leben würde. Sie gab mir einen kurzen Überblick: geboren und aufgewachsen in einem Nachbardorf. Dann im nächstgrößeren Ort zur Schule gegangen. Studium in der Hauptstadt. Studiert, ja? frage ich nach. Was denn, wenn ich fragen darf? Sozialpädagogik, nur Sozialpädagogik. Ich schweige. Mit allem hätte ich gerechnet, aber das? Ich versuche diese Information zu verarbeiten und mir gleichzeitig die nächste Frage zu überlegen, die ich stellen will. Aber mein Gehirn arbeitet zu langsam. Ella fährt fort, noch während ihres Studiums hat sie geheiratet und in ihrem letzten Studienjahr dann gemeinsam mit ihrem Mann dieses Haus hier gekauft. In diesem verdammten Ort. Dies sagt sie nicht, aber ich kann es trotzdem hören. Ich begreife, dass wir etwas gemeinsam haben und etwas in mir öffnet sich. Ich bin jetzt nicht mehr nur die Show. Ich werde zu dem Menschen, der ich bin. Ich folge weiter ihren Ausführungen, die eigentlich bereits ausgeführt sind. Ich frage sie, in welcher Einrichtung sie arbeitet und sie wehrt ab, sie arbeite im Moment nicht, aus gesundheitlichen Gründen. Ich besitze genug Taktgefühl, um nicht weiter nach zu fragen. Wir kennen uns kaum, so eine Frage wäre unhöflich. Da mir keine weiteren Gesprächsthemen einfallen, Alisar stillschweigend und ohne größere Schäden zu hinterlassen ihr Eis aufgegessen hat, frage ich nach der Uhrzeit und atme dann demonstrativ tief ein. Wir müssen jetzt unbedingt gehen, mein Mann wird gleich zu Hause sein und sich wundern, er wird mich nicht erreichen können, da mein Handy zu Hause liegt. Ich bedanke mich für Alles und bitte Ella, dass sie doch auch mal uns besuchen möge, jetzt wo sie weiß, wo im Dorf wir leben. Damit ich mich revanchieren kann. Im selben Moment bereue ich schon meine Worte, aber ich kann sie schlecht zurück nehmen. Sie verspricht zu kommen, wann würde es denn passen? Immer Donnerstag und Freitag, da muss ich nie arbeiten. Wunderbar, bis morgen dann.

Bis morgen? fragte ich mich im Weggehen. Morgen war Freitag. Sie hatte doch nicht tatsächlich vor, bereits morgen bei uns auf zu tauchen? Immerhin hatte ich sie eingeladen und morgen war halt eben Freitag. Ganz großartig hatte ich das hinbekommen, nun hieß es also Wohnung putzen. Nicht, dass ich sonst nicht putzen würde oder es schmutzig oder unordentlich wäre, aber so ziemlich jede Frau kennt das, bevor seltener Besuch kommt, muss eben alles einer Generalüberholung unterzogen werden. Zuallererst natürlich die Wundversorgung bei Alisar, was nicht ohne weitere Tränen ihrerseits von statten ging. Danach also das Putzen und ständige Gedanken darüber, ob ich morgen einfach nicht zu Hause sein sollte. Sollte dies später jemals zur Sprache kommen, könnte ich erklären, mir sei was Dringendes dazwischen gekommen. Ich sinnierte und philosophierte und wusste doch, dass ich es nicht tun würde: ich würde nicht fern bleiben. In der folgenden Nacht schlief ich schlecht, am Morgen war ich unendlich erschöpft. Es dauerte einen Moment, ehe ich mich erinnerte, was am Vortag passiert war. Schnell überlegte ich, was bis zum Nachmittag noch zu tun war, sie würde doch nicht schon am Vormittag auftauchen? Getränke kaufen, wir hatten nur Wasser im Haus. Ich brachte Alisar in den Kindergarten, führte Gringo aus, erledigte den Einkauf, kochte das Mittagessen und holte Alisar aus dem Kindergarten ab. Wir aßen gemeinsam auf der Terrasse und auch der Rest unseres alltäglichen Lebens spielte sich draußen ab. Gegen 15.00 Uhr, ich war gerade dabei den Geschirrspüler auszuräumen, hörte ich den Hund draußen bellen. Es gab zwei wahrscheinliche Möglichkeiten: die Post oder Ella. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte: Ella, die gerade auf unserer Haus zuging. Trotz der Wärme trug sie eine lange Hose. Auf einmal fühlte ich mich quasi nackt mit meinen Shorts. Egal, es war nun nicht mehr zu ändern. Ich trat auf die Terrasse und begrüßte sie, öffnete das Gartentor und ließ sie ein. Alisar nahm sie sofort in Beschlag, zeigte das neue große Pferdepflaster, welches wir gestern gegen das andere getauscht hatten. Zwei Stunden lang verlief alles ohne Peinlichkeiten, Verletzungen und sonstige Vorfälle. Wir plauderten über dies und das, die typischen Konversationen, die einen zu Tode langweilen können. Wahrscheinlich taten wir dies beide auch: uns langweilen. Der Grund, weshalb Ella nicht einfach nach einer Stunde ging, war Alisar. Sie bettelte immer wieder, dass Ella noch einen kleinen Moment bleiben möge. Gegen 17.00 Uhr bat ich Ella ein Glas Wein an, mit dem Hinweis, dass ich mir ebenfalls ein Glas gönnen werde. Eine neue Bekanntschaft, das müsse man doch gebührend feiern. Sie bejahte und bereits nach einer halben Stunde entwickelten sich unsere Gespräche in eine andere Richtung. Ich berichtete von meinen Problemen im Alltag: dem Kind, der Arbeit und Freunden gerecht werden, ebenso wie eine Partnerschaft und einen Haushalt führen und pflegen. Dazu meine hohen Ansprüche an mich selbst. Ich wollte in allen Bereichen perfekt sein und wenn etwas schief ging empfand ich es als großes Versagen meinerseits.

Ella gewährte mir ihrerseits einen Einblick, allerdings einen etwas persönlicheren Einblick, in ihr Leben.


Wenn nicht heute, vielleicht irgendwann

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