Читать книгу Wenn nicht heute, vielleicht irgendwann - Maria Honoratus S. - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеErste Zeit
Diese erste Zeit mit dir war prägnant prägend. Ich sollte nun erste berufliche Erfahrungen sammeln und du hattest die Ehre mich hierbei begleiten und anleiten zu dürfen. Was du auch getan hast, allerdings auf eine ganz andere Art, als ich es erwartet habe.
In den ersten Wochen war ich froh und dankbar, zu sehen, dass dieser mein Anleiter in seiner Funktion als Diplom-Sozialpädagoge so gar nicht meinen sorgfältig auserkohrenen Vorurteilen diesem Berufsbild gegenüber entsprach. Naja, das mit dem vielen Reden, das kommt vielleicht doch hin.
Unsere Arbeitszeiten, die wir fortan nun immer aufeinander abstimmen mussten, waren sehr angenehm, denn du bist kein Frühaufsteher, wie sich später noch zeigen sollte.
Du hast mich vom ersten Tag an wie einen vollwertigen Mitarbeiter behandelt. Du hast mir in der Arbeit freie Hand gelassen, sodass ich mich ausprobieren konnte. Du hast mich lehren können, was nur wenigen Menschen bisher gelungen ist. Danke dafür! Das Wichtigste, was ich nämlich gelernt habe war: Ich kann annehmen! Von jemandem, der weiß wovon er spricht, mir dennoch nicht seine Meinung aufzwingen will, sondern mir die Freiheit für meine eigenen Gedanken lässt.
Alle anderen sollen mich in Ruhe lassen, mit ihrem vermeintlichen Wissen, was sie sich ihrerseits bereitwillig von jemandem einimpfen ließen, der es genauso gut wusste, wie nun sie.
Jedenfalls war ich, wie viele Berufsanfänger, in einer unerträglichen Weise übermotiviert: du hast das ertragen und mich gewähren lassen. Ich sollte aus eigener Erfahrung noch lernen, wie begrenzt meine Möglichkeiten doch waren.
Ich stürzte mich also in die Arbeit und lernte. Diese erste Berufserfahrung im sozialen Bereich in der Behindertenarbeit mit Erwachsenen brachte alles durcheinander. Theorie und Praxis waren nun verschiedene Welten. Waren sie wohl zuvor auch schon, nur, da wusste ich es noch nicht.
Zu dieser Zeit hatte ich noch Spaß an der Arbeit, immer in dem Glauben, dass meine Tätigkeit sehr wichtig war und ich doch gewiss etwas bewirken konnte. Wie gesagt- meine Motivation reichte bis in den Himmel. Zudem war ich stolz, denn schon zum Ende des Jahres arbeitete ich für ca. eine Woche alleine in der WG, weil Harry im Urlaub war.
Ich erinnere mich noch an meine erste WG-Versammlung, die ich alleine mit den Betreuten abhielt. Eine dieser Erinnerungen, bei denen man sich an jedes Detail erinnert und die man nicht mehr vergessen kann, weshalb auch immer. Ich war stolz, die Versammlung nun zum ersten Mal allein und völlig eigenverantwortlich abhalten zu können.
Später lernte ich diese WG-Versammlungen hassen, ebenso wie den größten Teil meiner anderen dienstlichen Aufgaben. Ein unaufhaltsamer Prozess geriet in Gange.
Um diesen Prozess später genauer zu beschreiben und um ihn zu verstehen, komme ich nicht umhin auch meine damalige Tätigkeit etwas genauer zu definieren. Diese bestand, einfach formuliert, in der Betreuung der in der WG lebenden Personen. Die Betreuung wiederum bestand im Hauptteil aus Einzelterminen mit den Betreuten, in welchen diese Gelegenheit hatten, all ihre Anliegen zu besprechen. Auch die bereits erwähnten wöchentlichen WG-Versammlungen sowie geplante Gruppenfreizeitaktivitäten wie Ausflüge, Kinobesuch u.ä. gehörten zu meiner Tätigkeit. Nicht zu vergessen, wenn nötig, die Begleitung zu Behörden und zu Ärzten. Auch die Treffen mit den gesetzlichen Betreuern fanden sich in regelmäßigen Abständen in meinen Dienstplänen wieder. Später war es dann auch meine Aufgabe Entwicklungsberichte und Hilfepläne zu erstellen, selbstverständlich im Dialog mit dem betreffenden Betreuten. Und zur Krönung des Ganzen musste diese ganze Tätigkeit in Worte gekleidet, dokumentiert, werden. Bis dahin also.
Der Grund, weshalb ich in der ersten Zeit meiner Tätigkeit noch Spaß an eben dieser hatte, war natürlich nicht nur meine Motivation und die Überzeugung, dass ich nun endlich Gelegenheit hatte mit meiner so wichtigen Arbeit die Welt zu retten, sondern natürlich die Zusammenarbeit mit Harry- dem Verbalakkrobaten!
Unsere Beziehung war zunächst natürlich kollegialer Art, denn in erster Linie arbeiteten wir zusammen, aber zu einem Freund bist du für mich geworden, als ich keine andere Schublade für dich finden konnte und das war ja so ziemlich am Anfang. Um mit mir auszukommen, um mich zu mögen, um von mir gemocht zu werden, muss man so sein wie du. Meine Reserviertheit, meine zur Schau getragene Normalität, meine Grenzen- du hast alles einfach weggewischt. Dich hält so schnell nichts auf. Weil du nicht so kaputt bist, wie die ganzen Anderen. Das klingt irgendwie abgedroschen, ist aber so und lässt sich auch erklären, für die, die es so nicht verstehen. Du bist im Kontakt und in der Beziehung einfach du selbst- selbstbewusst ohne Minderwertigkeitskomplexe oder andere Störungen, daher beziehst du auch reserviertes Verhalten anderer Menschen nicht auf dich und machst einfach weiter, bleibst wie du bist, gehst darauf nicht ein, ziehst dich nicht zurück, passt dich nicht an.
Du musst zu diesem Zeitpunkt so etwa 60 Jahre alt gewesen sein und ich war zarte 20 Jahre alt. Nun war das für mich damals nicht sehr ungewöhnlich, denn ich hatte schon immer eher ein Faible für ältere Menschen als für Gleichaltrige. Das Alter eines Menschen sagt so gar nichts über diesen Menschen selbst aus. In der folgenden Zeit fand ich in dir die Ansätze einer Vaterfigur, die ich nie wirklich hatte. Du warst für mich da und hast für mich gekämpft. Und gleichzeitig fand ich ein Kind, dass so unbeschwert zu sein versteht, wie es eben gewöhnlich nur Kinder sein können. Auch ich konnte so noch einmal Kind sein und begreifen, wie schön das doch ist.
Das erste Mal „ernst“ wurde es, als einer unserer Betreuten aus der WG ausziehen musste, weil dieser Betreute das schwächste Glied der Gruppe war. Am Ende der Nahrungskette. Sozusagen. Nein, DAS war NICHT unsere Entscheidung. Ich akzeptiere auch heute keinen anderen Grund für diesen Umzug. Dieser Betreute zog in ein Wohnheim, wo es eine dichtere, intensivere Betreuung gab, was natürlich nicht schlecht ist. Aber die Frage nach der Notwendigkeit dieses Umzugs muss ganz klar mit einem Nein beantwortet werden. Wir hätten diesen Betreuten davor bewahren müssen und können, aber es gelang uns nicht. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass auch in sogenannten geschützten Rahmen, denn das sollte diese WG ja sein, gilt: Der Stärkere gewinnt. „Fressen und gefressen“ werden.
Warum nun konnten wir dies nicht verhindern? Das Einfachste und Natürlichste in dieser Situation wäre es gewesen, die beiden Aggressoren, die den oben genannten Betreuten ständig schikanierten, so sanktionieren zu können, dass sie es unterlassen hätten, das schwächste Glied zu unterdrücken, ja man kann sagen, zu mobben. Hätten wir beide die entsprechende Entscheidungsgewalt gehabt, dann wären eben diese beiden Hauptverantwortlichen ausgezogen, die vermeintlich Stärkeren und nicht der Schwächste. Aber diese Entscheidungsgewalt oblag uns nicht. Ich könnte an dieser Stelle diejenigen beschuldigen, die diese Entscheidung anstelle unserer hätten treffen können und es nicht taten. Aber was und wem würde das noch nützen?
Betriebswirtschaftlichkeit steht in sozialen Vereinen ganz oben auf der Liste der Dinge der Wichtigkeiten. Ich habe bis heute keinen sozialen Verein kennengelernt, bei dem das anders ist.
Dies muss wohl das erste Mal gewesen sein, dass mein Enthusiasmus einen Wachstumsschub bekam. In die Falsche Richtung. Er wuchs nicht. Er begann zu schrumpfen. Ich begann, eine Antipathie, gegen alle, aus meiner Sicht, Schuldigen dieses Ereignisses, zu entwickeln. Auch gegen die beiden Betreuten, die schikaniert und gemobbt haben. Man mag sich vorstellen, dass ich in Folge dessen möglicherweise nicht mehr fähig war, so professionell mit diesen beiden Menschen umzugehen, wie ich es vielleicht dennoch hätte tun müssen. Aber es kümmerte mich nicht sehr und rückblickend kann ich nur sagen, dass genau dieser Punkt doch auch dem in der Behindertenpädagogik bekannten Normalisierungsprinzip entspricht. Diese beiden Betreuten hatten sich sehr schlecht verhalten und haben hierfür die Konsequenzen tragen müssen, welche meinerseits daraus bestanden, dass sich meine Neutralität und Unvoreingenommenheit ihnen gegenüber verflüchtigt hatte. Im weiteren Betreuungsverlauf mit diesen beiden Menschen wuchs meine Verachtung durch weitere ähnliche Vorkommnisse, wie zuvor geschildert. Und ich schäme mich dessen keineswegs, denn diese beiden Menschen waren keinesfalls so behindert, dass sie nicht gewusst hätten, dass gewisse Dinge und Verhaltensweisen unrecht sind.
Du hast das alles genauso gesehen wie ich, wir waren in den meisten, aber vor allen in den wichtigsten Dingen einer Ansicht. Es liegt auf der Hand, dass wir viel über solche Vorfälle gesprochen haben, denn sie haben uns beschäftigt und eine gewisse Aufarbeitung/Reflexion ist unbedingt nötig, um mit dieser Art von Frustration im Berufsleben, leben zu können.
Dennoch ist der Frust damit ja nicht gänzlich aus der Welt und wir bemühten uns oft nach Kräften, Momente zu finden, in denen wir uns nicht mit solchen Dingen beschäftigen mussten. Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich kaum in Worte fassen, wie konträr und wunderschön diese anderen Momente waren. Solche Menschen, wie dich, trifft man so selten im Leben: echt, ehrlich, witzig, anständig und mit Herz. Nicht so eine widerlich kriechende oder machtgeile Kopie von einem noch mehr kriechendem oder mächtigerem Menschen, so Schnecken-schleimig- unecht- die Masse unserer heutigen Gesellschaft!
Ich erinnere mich daran, dass wir einmal auf eine Weihnachtsfeier vom Betrieb teilnahmen. Doch das Eigentliche der Geschichte geschah zuvor. Wir hatten uns auf dem Weihnachtsmarkt eingefunden und wohl zur Einstimmung ein Heißgetränk genossen. Es muss wohl nach dem Dienst gewesen sein, denn wir mussten die Zeit bis zum Beginn der Weihnachtsfeier noch irgendwie rumbringen. Was uns auch gelang, wir wären beinahe zu spät gekommen, was mich dieses eine Mal aber so gar nicht in Panik versetzte. Nach unserem kleinen Umtrunk entschlossen wir uns zu einem Besuch des Kaufhauses „Karstadt“. Bestimmt hast du damals gesagt „Elli, wir kaufen dir jetzt einen Hut“. Elli war mein Spitzname und solche verrückten Ideen kamen dir mindestens einmal am Tag in den Kopf. Ich weiß noch, dass ich einen wunderschönen Hut probiert und ihn dann aber doch nicht gekauft habe, was ich bis heute bereue. Ich habe keine Passion für Hüte, ich besitze keinen einzigen, aber dieser eine wäre es wert gewesen, allein der Erinnerung wegen, meinen Kleiderschrank zu hüten. Du redest noch heute, Jahre später, von diesem Hut. Auch du hast es nicht vergessen. Wir entschieden uns als nächstes für die Kosmetikabteilung und ich hatte dort so viel Spaß, wie selten im Leben. Als wir Karstadt verließen, hast du nach 4711 gerochen und vielleicht noch nach der ein oder anderen Note, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann. Deine Nägel waren dunkel lackiert, die Haare gestylt und überall hast du geglitzert, wie ein Weihnachtsbaum-passend zum Anlass-wie immer! Ich habe die ganze Zeit über nur gelacht und gedacht, wie kann es sein, dass man mit einem erwachsenen Menschen so viel Blödsinn treiben kann. Kaum einer von denen, die ich sonst so kannte, hätte das mitgemacht. Auch so manch jüngere Person nicht. Ich habe während dieser Zeit in der Kosmetikabteilung alles um mich herum vergessen, alles. Ich habe keine komischen Blicke anderer Kunden bemerkt und es gab für diese kurze Zeit wirklich nur den Moment, kein Vorher, kein Nachher, nur das Jetzt. Für mich war dieses Erlebnis grade deshalb so besonders, nicht wegen unserer Kinderei.
Wenn ich heute mit meiner Tochter spiele und tobe, ergeht es mir manchmal ganz ähnlich: selbstvergessen, unbeschwert, mit Haut und Haaren bei der Sache ohne Wenn und Aber, ohne Zweifel, ohne Ängste , ohne Sorgen, als gebe es nur diesen einen Moment auf der Welt und uns. Sonst nichts.
Während unserer gemeinsamen Zeit gab es so viele solcher Momente und auch heute ist unser Beisammensein, was leider viel zu selten stattfindet, davon geprägt. Du bringst mich einfach immer zum Lachen, was ich ebenfalls viel zu selten tue, und diese doch mitunter sehr spezielle Art von Humor, die wir beide verstehen und mögen, verbindet uns-bis heute.