Читать книгу Die Dirigentin - Maria Peters - Страница 6
1 New York, 1926
ОглавлениеDer falsche Platz. Pass gefälligst besser auf.« Direktor Barnes packt mich am Ellenbogen und wirft mir einen strafenden Blick zu. Erschrocken sehe ich, was er meint. Das Durcheinander in der Sitzreihe ist mir bislang nicht aufgefallen. Das ältere Ehepaar, dem ich eben einen Platz angewiesen habe, bahnt sich mühevoll den Weg zurück in den Gang. Schuldbewusst senke ich den Blick.
»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich möglichst unterwürfig, denn er ist mein Boss, und ich kenne meinen Platz in der Rangordnung. Direktor Barnes ignoriert mich und eilt dem Ehepaar zu Hilfe. Ich stehe verloren daneben, reiße mich aber zusammen und wende mich den nächsten wartenden Gästen zu.
Zum x-ten Mal leiere ich herunter: »Ich wünsche Ihnen ein schönes Konzert.« Leute zum richtigen Platz zu bringen ist meine Abendbeschäftigung. Tagsüber arbeite ich als Schreibkraft in einem großen Büro. Manch einer mag es merkwürdig finden, dass ich zwei Jobs habe, aber ich bin es nicht anders gewohnt. Meine Mutter will das so. Sie hat auch kein Problem damit, meinen Vater zwei Schichten hintereinander ackern zu lassen. Sie braucht das Geld, sagt sie.
Eigentlich tut es mir gut, so oft von zu Hause weg zu sein. Mutter ist nicht unbedingt das, was man einen Sonnenschein nennt. Wenn sie lacht, bildet ihr Mund allenfalls einen Strich; für gewöhnlich hängen ihre Mundwinkel aber nach unten. Als ich in die Schule kam, malte ich sie mit diesem Gesichtsausdruck. Voller Stolz zeigte ich ihr das Bild. Das hätte ich besser nicht gemacht, denn danach konnte ich zwei Tage lang nicht richtig sitzen. Zugegeben, die Zeichnung war kein Meisterwerk, vielleicht hatte sie also sogar recht.
Nach diesem Erlebnis habe ich mich selbst dazu gezwungen, jedes Mal wenn ich in einen Spiegel schaue, zu lächeln. Auch wenn es gerade nichts zu lachen gibt. Meine Einbürgerung steht zwar noch bevor, aber ich lebe schon den amerikanischen Traum. Inklusive des dazugehörigen Dauerlächelns und alles anderen.
Das Konzert heute Abend beginnt mit Beethovens Dritter. Hier in Amerika heißt sie Eroica Symphony, wir Holländer nennen sie die Heroische.
Ludwig van Beethoven schrieb die Symphonie zu Ehren von Napoleon Bonaparte, als dieser sich zum Kaiser von Frankreich ausrief. Um allen zu zeigen, wie die Machtverhältnisse waren, erlaubte Napoleon nicht, dass der Papst ihn krönte, sondern er setzte sich die Krone selbst auf. Männer können das.
Beethoven, der in derselben Zeit lebte, feierte die Heldentaten des Diktators. Für mich ist Beethoven ein größerer Held als dieser Napoleon. Er spürte, dass er mehr und mehr ertaubte, aber das tat seiner Streitlust keinen Abbruch. »Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ich ergebe mich ihm nicht«, war seine Reaktion auf den Hörverlust (oder zumindest so ähnlich). Daraufhin beendete er mit seiner Musik die Epoche der Klassik und schlug einen neuen Weg ein, hin zur Romantik. Damit kann man doch etwas anfangen.
Er ist seit neunundneunzig Jahren tot, aber die Menschen strömen noch immer in die Konzertsäle, um seine Meisterwerke zu hören. Ich deute einen Knicks an. Die beiden Herren, denen ich gerade den Platz anweise, beziehen das auf sich, aber in meinem Innern bedanke ich mich bei Beethoven für die Komposition des heutigen Abends. Das Hantieren der Orchestermitglieder, die ihren Platz einnehmen, lenkt mich ab. Bereits die Geräusche, die beim Stimmen der Instrumente entstehen, versetzen mich in Erregung. Ich betrachte die Härchen auf meinem Arm. Ich habe Gänsehaut, jetzt schon.
Ich sitze etwas versteckt auf dem Flur. Eine Take-away-Mahlzeit liegt auf meinen Oberschenkeln. Die Türen des Saals sind jetzt geschlossen. Wir dürfen nicht mehr hinein. Ich rühre mit den Essstäbchen durch die chinesischen Nudeln, die längst kalt sind.
Es ist immer höchste Eisenbahn, wenn ich von meinem Tagesjob zu meinem Abendjob wechsle. Im Büro haben wir nur eine Stechuhr, und wenn man Pech hat, wartet da schon eine Schlange. Die Schreibkräfte haben es nicht eilig – wenn man langsam macht, erweckt man den Eindruck, länger gearbeitet zu haben. Wenn ich mich also ganz hinten einreihen muss, bin ich die Dumme.
Ich habe keine Zeit, zwischendurch nach Hause zu gehen. Mutter gibt mir jeden Tag Reste mit, aber die esse ich nie. Sie sind nämlich nicht vom Vortag, denn die isst sie selbst. Sie sind auch nicht zwei Tage alt, denn die bekommt mein Vater. Die Reste, die mir zustehen, sind mindestens drei Tage alt. Es dauerte eine Weile, bis ich ihr System begriff, und zu Anfang bin ich sogar schon mal richtig krank von dem verdorbenen Essen geworden. Deshalb werfe ich das fiese Zeug jetzt immer gleich weg. Allerdings darf ich ihr das auf keinen Fall verraten. Sie würde einen Anfall bekommen: Essen wegzuwerfen ist eine Todsünde.
Der kürzeste Weg vom Büro zur Konzerthalle führt quer durch Chinatown. Mit einem kleinen Restaurant habe ich einen Deal machen können, der mich nicht viel kostet. Sie verkaufen auch außer Haus an der Straße. Mr Huang hat mein Essen bereits fertig, wenn ich vorbeikomme. Er weiß, wie wenig Zeit ich habe. Meistens schlinge ich es sofort herunter, aber wenn ich mich verspäte, hat er es schon für mich eingepackt, sodass ich es mit zur Konzerthalle nehmen kann. Am Anfang hat er mich ausgelacht, als er sah, wie ich mit den Essstäbchen kämpfte, aber als er merkte, wie rasch ich damit zurechtkam, verschaffte mir das Respekt.
Die Nudeln pappen zusammen, und ich habe immer weniger Appetit. Ich habe genug davon in meinen Mund gestopft. Ich frage mich, ob das Konzert schon lange genug läuft, um auf die Herrentoilette zu gehen. Es ist niemand zu sehen. Die Luft ist rein. Auf dem Weg werfe ich das Essen in einen Abfalleimer. Ein Stäbchen behalte ich und verberge es in einer Rockfalte meiner mausgrauen Uniform.
Ich kann nichts dagegen tun, die Herrentoilette der Konzerthalle zieht mich an wie ein Magnet. Sie befindet sich in einem der unteren Geschosse, direkt unter der Bühne. Es wäre wesentlich praktischer, wenn dort die Damentoilette wäre; aber in der hört man leider überhaupt nichts vom Konzert. This is the place to be.
Vorsichtig betrete ich den großen, quadratischen Raum, der vor kurzem neu gekachelt wurde. Der hübsche, moderne Stil wird Art déco genannt. Mit einem Blick sehe ich, dass das Pissoir frei ist. Nachdem ich kontrolliert habe, ob auch niemand eine der zahlreichen Toiletten benutzt, stelle ich mich mitten im Raum auf, schließe die Augen und lausche. Ich lausche der Musik, die durch eine akustische Verbindung zur Bühne so klar klingt, als würde ich direkt vor dem Orchester stehen.
Beethovens Musik durchdringt jede Faser meines Körpers. Sie spielen den ersten Satz der Symphonie, insgesamt sind es vier. Es ist das Allegro con brio, das lebendig und feurig gespielt werden muss. Ein echter Held strotzt natürlich immer vor Energie. Ich hebe das Stäbchen hoch und stelle mir alles vor, sehe mich als Dirigentin vor dem Orchester stehen. Hundert Männer folgen meinen Handbewegungen und lassen sich durch mich leiten, die Heroische so zu spielen, wie ich es für richtig halte. Das Stäbchen hebt und senkt sich im Dreivierteltakt. Das macht mich unglaublich glücklich. Als würde mein Leben so viel reicher. Diese Glücksexplosion macht abhängig.
Trotzdem versuche ich, ihr nicht zu oft nachzugeben. Ich gönne sie mir nur einmal pro Woche, immer an unterschiedlichen Tagen. Es darf den anderen Platzanweiserinnen, die sich im Foyer leise miteinander unterhalten, nicht auffallen, dass ich verschwinde. Und ich mache das immer am Anfang des Konzerts. Die erste halbe Stunde ist sicher, ich weiß aus Erfahrung, dass quasi jede Blase so lange durchhält. Mein Vater kann es Gott weiß wie lange einhalten – manchmal geht er nur zweimal am Tag –, aber es sind immer ältere Männer, die während des Konzerts die Toilette besuchen. Dann muss ich mich wieder aus dem Staub gemacht haben. Aber im Augenblick gehört die Herrentoilette mir allein.
Ich mache eine Geste in Richtung der ersten Geige: lauter. Der zweiten Geige: etwas zurückhaltender. Jede Instrumentengruppe erhält einen Hinweis. Ich gehe derart darin auf, dass ich mich selbst vergesse. Es ist eine Art Trance. Wenn auch eine ganz andere als jene, in die Mutter sich versetzen will, wenn sie mit ihrem Frauenclub Séancen abhält. Damit kann sie mir gestohlen bleiben, an diesen Unfug glaube ich nicht. Dass ihr allerdings Beethoven und Liszt bei einer diesen Séancen erschienen sind und allen mitgeteilt haben, ich würde eine große Musikerin werden, kam mir doch sehr zustatten. Sonst hätte sie mir nie die Klavierstunden erlaubt. Aber wieso sie und ihre Freundinnen wussten, wie Ludwig van Beethoven und Franz Liszt aussehen – und das sogar als Geister –, ist mir heute noch ein Rätsel.
Die Tür öffnet sich, und ich erschrecke mich zu Tode. Rasch lasse ich die Arme sinken. Ich höre, wie das Essstäbchen auf die Fliesen fällt. Ein junger Mann kommt herein und schaut mich erstaunt an. Ich versuche, nicht ertappt zu wirken, hebe den Kopf und blicke ihn möglichst gelassen an. Schließlich arbeite ich hier und nicht er.
»Das ist die Herrentoilette«, sagt er.
Offensichtlich hält er es für nötig, seine Anwesenheit hier zu begründen. Es dauert einige Sekunden, bis ich die Sprache wiedergefunden habe. »Ich … kontrolliere kurz alles.«
Er betrachtet meine Kleidung, ich trage ganz offensichtlich die Uniform einer Platzanweiserin.
»Was kontrollierst du hier?«
»Ob auch alles sauber ist.« Ich reiße ein paar Türen auf und inspiziere die Kabinen. »Die Herrentoiletten verschmutzen schneller, daher kontrollieren wir sie häufiger.«
Er behält mich im Auge. Der Störenfried kann nicht viel älter sein als ich. Maximal Ende zwanzig. Es regt mich auf, dass er gut aussieht. Seine Kleidung zeugt von Wohlstand. Auch das regt mich auf, denn dadurch fühle ich mich immer unwohler.
»Und bist du jetzt fertig damit?«
Ich nicke: »Alles ist sauber.« Ich halte die Tür zu einer der Kabinen auf und hoffe, dass er dahinter für immer und ewig verschwinden möge. Aber er bleibt stehen, schiebt die Hände lässig in die Hosentaschen, als hätte er alle Zeit der Welt, und blickt mich immer noch an.
»Sie verpassen das Konzert.«
»Das habe ich schon öfter gehört«, antwortet er.
Ich schaue ihm tief in seine viel zu hübschen braunen Augen, als könnte ich ihm damit meinen Willen aufzwingen. Aber nein, er bleibt an der Tür stehen. Also muss ich zum Ausgang gehen. Er tritt zur Seite, um mich vorbeizulassen, wendet den Blick aber nicht ab.
Ich bin schon auf dem Flur, als ich ihn hinter mir sagen höre: »Du hast etwas vergessen.« Ich drehe mich um. Er schaut auf das Stäbchen, er hat also gehört, wie es hinfiel. Es liegt zu seinen Füßen, aber er macht keine Anstalten, es aufzuheben. Ich bücke mich.
An diesem Abend bildet das ganze Personal eine lange Reihe. Direktor Barnes verteilt selbstgefällig die wöchentlichen Lohntüten. Es ist Freitagabend, und wie üblich zählt er auf, welche Konzerte uns in nächster Zeit erwarten. Ich höre mit gespitzten Ohren zu, diesen Teil finde ich interessanter als meinen Lohn.
»Und dann haben wir nacheinander Aufführungen der Vierzigsten Symphonie von Mozart, der Hundertsten von Haydn, der Dritten von Schumann, des Violinkonzerts von Mendelssohn …«
Meine Kollegin Marjorie wendet sich mir zu und flüstert: »Ich langweile mich zu Tode. Willst du etwas von meinem Kaugummi abhaben?«
Marjorie und ihr Kaugummi sind unzertrennlich. Sie hat immer mehrere Päckchen auf Vorrat. Adams’ New York Gum No. 1 – Snapping and Stretching. Wenn niemand zuschaut, macht sie Kaugummiblasen und lässt sie zerplatzen. Niemand scheint mitzubekommen, dass sie die ganze Zeit über das Zeug im Mund hat; wie sie das schafft, weiß ich nicht. Einmal klebte sogar Kaugummi in ihrem geflochtenen Haar, das sie immer um den Kopf drapiert. Sie erzählte, es müsse im Schlaf passiert sein. Es dauerte Tage, bis sie alle klebrigen Reste rausgepfriemelt hatte.
»Mir wird von Kaugummi immer schlecht«, flüstere ich zurück.
»Na klar.« Marjorie denkt, ich veräppele sie. Aber es ist die Wahrheit. Ich konzentriere mich wieder auf den Direktor.
»Und dann ist es natürlich eine außergewöhnliche Ehre, dass nächsten Monat der berühmte niederländische Dirigent Mengelberg bei uns zu Gast sein wird …«
Mengelberg!
»… mit Mahlers Vierter Symphonie«, beendet Barnes seine Übersicht.
»Da muss ich dabei sein«, flüstere ich Marjorie zu. Ich bin vollkommen aus dem Häuschen. Marjorie schaut mich an, als wäre ich das siebte Weltwunder. Aber als sie in meinem Gesicht erkennt, dass ich es ernst meine, und Barnes nur noch zwei Schritte von mir entfernt ist, zischt sie mir zu: »Frag ihn einfach!«
Der Direktor bleibt vor mir stehen und begutachtet mich von oben bis unten. Der penetrante Geruch seines Achselschweißes dringt mir in die Nase. Seine Aufmerksamkeit habe ich wahrscheinlich dem Rüffel heute Abend zu verdanken, oder hat der Toilettenbesucher sich etwa doch über meine Anwesenheit auf dem Herrenklo beschwert? Ich verliere den Mut, den Direktor um etwas zu bitten. Schließlich bleibt sein Blick an meinem ausgefransten Kragen hängen.
»Besorge dir eine neue Bluse. Diese ist zerschlissen.«
Ich halte die Augen geradeaus auf die Wand gerichtet und nicke. Er überreicht mir die Lohntüte und geht weiter zu Marjorie.
»Mr Barnes? Sie würde gerne zu dem Konzert gehen«, sagt sie.
»Wie bitte?«
»Willy möchte zu dem Konzert von Mengelen.«
»Mengelberg«, verbessere ich sie schnell.
»Sag ich doch.«
Barnes wendet sich mir zu. »Unmöglich.«
»Aber …«
»Das Konzert war innerhalb eines Tages ausverkauft.«
Barnes geht weiter. Ich schlucke meine Enttäuschung hinunter und habe die Nase gestrichen voll davon, dass das Personal während der Konzerte keinen Zutritt zum Saal bekommt.
Als ich den Direktor einige Minuten später im Flur rieche und sehe, wie er sein Büro betritt, gehe ich doch noch nicht zum Personalausgang. Ich klopfe an die offen stehende Tür und bleibe auf der Schwelle stehen.
»Mr Barnes, können Sie mich dann auf die Warteliste setzen lassen? Bitte?! Nur dieses eine Mal?« Es erstaunt ihn, dass ich ihm gefolgt bin, das sieht man deutlich.
»Bitte?«, wiederhole ich.
»Fängst du jetzt an zu betteln?« Er schaut mich prüfend an. »Die einfachste Kategorie kostet einen Dollar.«
Als wüsste ich das nicht. Der teuerste Platz kostet zwei Dollar fünfundsiebzig. Als Studentin käme ich für fünfundzwanzig Cent hinein. Ich will das Geld aus meiner Lohntüte nehmen, aber er hält mich auf.
»Du musst erst bezahlen, wenn tatsächlich ein Platz frei wird.« Er nimmt seinen Füller und setzt meinen Namen mit zierlichen Buchstaben auf die Warteliste.
Pfeifend laufe ich die schier endlosen Treppenstufen der Mietskaserne hoch, in der meine Eltern ihre Wohnung haben. Ich weiß, dass es sich für Mädchen nicht schickt, laut zu pfeifen, aber heute ist mir das egal. Ich fühle mich innerlich ganz leicht.
Als ich die Wohnung betrete, gehe ich sofort in mein Zimmer und hole eine der Partituren hervor, die ich unter dem Bett versteckt habe. Ich setze mich auf den Rand des Bettes. Mit Ehrfurcht lese ich den Namen auf der Vorderseite: Gustav Mahler, Vierte Symphonie. Meine Augen gleiten gierig über die Notenblätter und die Anmerkungen, die ich mit rotem und blauem Stift danebengekritzelt habe. Ich schaue auf die Wand, an der eine ganze Reihe von Bildern meiner beiden Idole hängt. Ich betrachte die Fotos von Mengelberg.
»Willy?«
Ich höre, wie meine Mutter in der Diele lärmt. Rasch schlage ich die Partitur zu und will sie wieder unters Bett legen, aber es ist zu spät. Mutter kommt ins Zimmer. Das macht sie immer ohne Ankündigung, sogar jetzt, wo ich schon dreiundzwanzig bin. Sie streckt mir die Hand hin.
»Deinen Lohn.«
Ich gebe ihr die Lohntüten meiner beiden Jobs, und während sie das Geld zählt, schiebe ich mit dem Fuß die Partitur weiter unter das Bett. Sie ahnt nicht, dass mein kleines Zimmer eigentlich eine Ansammlung von Verstecken ist. Das beste befindet sich hinter der Holzverkleidung meines maroden Klaviers. Mit zwei Handgriffen kann ich die unterste Leiste lösen und abheben. Dahinter verstecke ich das Geld, das ich mir vom Mund abspare. Davon bezahle ich unter anderem Mr Huang.
»Ich brauche eine neue Bluse.«
»Jammere nicht rum. Diese ist noch gut.«
»Ich bin deswegen ermahnt worden …«
»Die kannst du noch ausbessern.«
»… sonst würden sie mich rausschmeißen«, beende ich den Satz. Damit habe ich sie in der Hand, denn weniger Geld im Haus wäre für sie eine Katastrophe.
Meine Mutter zögert. Dann gibt sie mir zwei Dollar.
»Ich glaube nicht, dass das reicht«, versuche ich mehr herauszuhandeln, aber sie geht nicht in die Falle.
»Mehr bekommst du nicht.«
Und mit dieser Bemerkung lässt sie mich allein.
Der nächste Tag ist ein Samstag, und ich muss nicht ins Büro. Meine Mutter ist nicht da. Sie liest für einen Kunden aus Teeblättern. Mit diesem Betrug verdient sie sich hin und wieder etwas dazu. Ich nehme Nadel und Faden aus ihrem Nähkästchen und kümmere mich um den verschlissenen Kragen an meiner Arbeitsbluse.
An diesem Abend gehe ich dem Direktor nicht aus dem Weg.
»Schauen Sie«, sage ich, als ich ihm im Foyer begegne. Ich zeige auf meine Bluse und lächle.
»Schon besser«, kommentiert er. »Ich freue mich, dass du auf mich hörst.«