Читать книгу Die Dirigentin - Maria Peters - Страница 8
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Der Mann, der für Dirigenten und Solisten Konzerte organisiert, so würde ich meine Tätigkeit beschreiben. Meine Visitenkarte ist prägnanter, dort lautet die Berufsbezeichnung: Concert Manager, und heute Abend steht Willem Mengelberg auf dem Programm.
Im Konzertsaal geht es drunter und drüber. Jeder will ihn sehen. Ich muss mich durchkämpfen, um vom Dirigentenraum, wo Mengelberg sich vorbereitet, zu meiner Loge zu gelangen. Immer wieder halten mich Freunde und Bekannte auf, die mir zum Erfolg der Tournee gratulieren wollen. Ich bedanke mich höflich und gebe meine Standardantwort, die ich übrigens stets an das Heimatland des jeweiligen Dirigenten anpasse, also diesmal: »Alles Gute kommt aus den Niederlanden.« Indem ich Mengelberg ein Kompliment mache, lenke ich die Aufmerksamkeit von mir ab. Und ich brauche nicht einmal zu lügen: lieben wir Amerikaner es doch, mit unseren europäischen Wurzeln anzugeben.
Niemand hier muss wissen, dass ich mit dieser saloppen Bemerkung versuche, meinen Schmerz zu betäuben. Die Leute haben nicht die blasseste Ahnung, dass Musik für mich die einzige Medizin ist, um die alles übertönenden Kriegserinnerungen, die ich aus diesem verfluchten Europa mitgebracht habe, für eine Weile verstummen zu lassen. Wenn nicht so viel Schönheit diesem Kontinent entstammte, würde ich ihn für immer und ewig vergessen wollen.
Ich war zu jung, um in diesen blutigen Krieg geschickt zu werden; zu jung und viel zu naiv, wie so viele meiner Kameraden. Und dabei genoss ich noch das Privileg, nicht in die Hölle der Schützengräben zu müssen, sondern in den Feldlazaretten hinter der Front die Schweinerei in Ordnung bringen zu dürfen. Ich arbeitete dort als Medical Officer, da ich in Amerika Medizin studierte. Den Rang hatte ich jedoch nur, weil meine Mutter zum britischen Adel gehört. Tatsächlich war ich allenfalls ein Krankenpfleger. Ich trat meinen Dienst in jenem Jahr an, das später als Gaskriegsjahr in die Geschichtsbücher eingehen würde, aber das konnte ich damals noch nicht ahnen. Aber was soll’s, ich lebe noch. Neun Millionen Soldaten können das nicht von sich behaupten – also welches Recht habe ich, mich zu beklagen?
Willem Mengelberg hat kaum unter dem Weltkrieg zu leiden gehabt, wie er mir einmal erzählte. Die Niederlande wahrten Neutralität, was Amerika zumindest in den ersten drei Kriegsjahren ebenfalls glückte. Als Amerika 1917 in den Krieg eintrat und ich mit kaum zwanzig – ich war noch grün hinter den Ohren – nach Europa aufbrach, war Mengelberg bereits seit gut zwei Jahrzehnten Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters. Sein Ruhm sollte immer weiterwachsen.
Natürlich bin ich stolz darauf, ihn nach New York geholt zu haben. In Amerika ist das Publikum verrückt nach Prominenten, und für die klassische Musik gilt: Nur wenn man es in Europa geschafft hat, gehört man wirklich dazu.
Endlich erreiche ich die Loge, in der meine Eltern bereits auf mich warten. Ich begrüße sie herzlich und setze mich rasch, denn der Konzertmeister ist bereits aufgestanden. Er signalisiert der Oboe, den Kammerton anzugeben, nach dem dann die anderen Musiker ihre Instrumente stimmen.
Als sie fertig sind, betritt Mengelberg die Bühne. Das löst einen Sturm der Begeisterung aus. Der brausende Applaus tut mir gut. Mengelberg schüttelt die Hand des Konzertmeisters und nimmt dann seinen Platz am Pult ein.
Jedes Mal bin ich wieder nervös, sozusagen stellvertretend für die Akteure. Eigentlich merkwürdig, denn ich habe nichts zu tun, ich darf mich einfach zurücklehnen. Aber so entspannt bin ich noch nicht. Ich hocke auf der Kante meines Sitzes und beobachte den Saal unten. All diese erwartungsvollen Menschen, die einen unvergleichlichen Abend erleben werden dank der besonderen Chemie zwischen dem Dirigenten Willem Mengelberg und dem verstorbenen jüdischen Komponisten Gustav Mahler.
Die Vierte Symphonie, die heute Abend aufgeführt wird, ist im Jahr 1900 entstanden, als das Leben dem Komponisten noch freundlich gesinnt war. Er schrieb die Symphonie während der Sommerferien, da er nicht daran gewöhnt war, einfach einmal nichts zu tun. Ein paar Jahre später sollte das Schicksal zuschlagen: Er verlor seine vierjährige Tochter, die Ehe mit seiner viel jüngeren Frau stand permanent unter Druck, die Ärzte diagnostizierten ein unheilbares Herzleiden, und er verlor seinen Posten an der Wiener Hofoper, wo er zehn Jahre lang das Sagen gehabt und einen Schlussstrich unter zahlreiche festgefahrene Traditionen gesetzt hatte. Die Hofoper hatte ihm viele Innovationen zu verdanken. Und trotz all dieser Schicksalsschläge wurden Gustav Mahler und seine Kompositionen immer berühmter. Seine Musik reflektierte sein Leben.
Der elf Jahre jüngere Willem Mengelberg war ein feuriger Bewunderer von Mahler und lud ihn einige Male nach Amsterdam ein, wo Mahler seine eigenen Symphonien dirigieren durfte. Sie wurden gute Freunde. Mit dem Segen des Meisters entwickelte sich Mengelberg zu einem der bekanntesten Mahler-Interpreten. In Amsterdam führte er mehr als zweihundertmal dessen Werke mit dem berühmten Orchester des Concertgebouw auf. Und heute Abend steht er hier, mit der Philharmonic Society of New York.
Die Beleuchtung des Saals wird heruntergedreht. Der Applaus verstummt. Diese magische Stille kurz vor dem ersten Ton, in der sich alle Konzentration verdichtet. Niemand wagt es, auch nur zu hüsteln.
Das Schlittengeläut erklingt zuerst. Es versetzt mich immer in meine Jugend, als meine Eltern dafür sorgten, dass der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten bei uns vorfuhr – allerdings wurde der Schlitten nicht von Rentieren, sondern von sage und schreibe sechs Pferden gezogen. Ich war bereit, alles zu glauben, wenn nur die Glöckchen auf den Rücken der Pferde läuteten. Ich danke Gott dafür, dass Musik mich immer noch so verzaubern kann. Sonst wäre ich verloren. Ich lehne mich zurück. Das Konzert hat angefangen.
Die Symphonie beginnt heiter, als ginge die Sonne im Saal auf. Nach etwa sechzehn Minuten kommt der erste Satz nach einem ausgelassenen Crescendo zur Ruhe. In der weihevollen Stille danach fällt eine Tür mit einem lauten Knall zu.
Gustav Mahler würde sich im Grab umdrehen. Ich glaube nicht, dass jemand hier im Saal weiß, dass Mahler selbst verantwortlich ist für die Stille zwischen den einzelnen Sätzen: Er brachte als Dirigent sein Publikum mit unmissverständlichen Gesten davon ab, zwischendrin zu applaudieren, wie es zur Gewohnheit geworden war.
Erstaunt sehe ich, wie die Leute unter mir die Köpfe zur Seite drehen. Da geht jemand durch den Mittelgang nach vorn. Das ist ungewöhnlich, denn Zuhörer, die zu spät kommen, stehen vor geschlossenen Türen – eine Regel, die ebenfalls von Mahler an der Wiener Hofoper eingeführt wurde.
Ich starre ins Dunkle. Es ist eine Frau, viel mehr kann ich nicht erkennen. Unter einem Arm trägt sie einen hölzernen Klappstuhl, unter dem anderen klemmt ein großes Buch. Sie läuft fast bis zur Bühne. Was hat sie bloß vor? Genau hinter dem Podest des Dirigenten stellt sie den Klappstuhl auf. Woher nimmt sie die Dreistigkeit, sich auch noch hinzusetzen? Im Saal ist empörtes Raunen zu hören.
Mengelberg bekommt davon nichts mit, er blickt so konzentriert auf die Noten, dass er für alle Nebengeräusche taub ist. Ein weiterer Beweis, wie selektiv unser Gehör ist. Mengelberg lässt sich nicht stören.
Die Frau auf dem Stuhl schlägt das Buch auf und wartet wie alle anderen. Meine Mutter beugt sich zu mir herüber.
»Solltest du nicht etwas unternehmen?«
Es ist mir ein Rätsel, warum ich bis jetzt einfach nur wie gelähmt zugeschaut habe.
Ich laufe über den dicken Teppich die Treppe hinunter, als mir Direktor Barnes entgegenkommt.
»Sorgen Sie dafür, dass sie da verschwindet«, sage ich zu ihm.
»Wer?«
Offensichtlich hat er von dem ganzen Vorfall noch gar nichts mitbekommen, aber das ändert sich jetzt. Er folgt mir zu einer Seitentür, durch die man den Gang vor der Bühne sehen kann. Als ich die Tür ein wenig öffne, strömt uns allgemeines Murren wie eine Welle entgegen. Ich spähe in den Saal und kann nur das Profil der Frau erkennen.
»Warum hat das Personal sie nicht aufgehalten?«, frage ich wütend.
»Weil sie zum Personal gehört«, antwortet Barnes kleinlaut.
Erst dann erkenne ich sie. Die Toilettenfrau.
In diesem Augenblick dreht sich Mengelberg doch zum unruhigen Publikum um. Sein Blick bleibt am Klappstuhl hängen. Alle halten den Atem an. Genau wie der Saal warte auch ich darauf, was passieren wird.
Ich sehe, wie sie Mengelberg zulächelt. Ihr Lächeln ist ihm trotz der auf ihn gerichteten Schweinwerfer aufgefallen, denn er lächelt freundlich zurück. Das bringt mich noch mehr aus der Fassung.
Gerade als Barnes losstürmen will, fängt Mengelberg mit dem zweiten Satz von Mahlers Vierter an. Ich brauche heute Abend nicht noch mehr Chaos und halte Barnes auf. Aber ich kann die Augen nicht von dem dreisten Rotzlöffel abwenden. Während das geheimnisvolle Scherzo erklingt, sehe ich, wie sie die Partitur auf ihrem Schoß mitliest, und werde fuchsteufelswild.
»Sie brauchen mich nicht zu schubsen, ich kann selbst gehen.«
Sie versucht sich loszumachen. Ich packe sie fester am Arm, an dem ihre Tasche schlaff hin und her baumelt. Unter dem anderen Arm trägt sie die Partitur.
Ich habe sie im Flur erwischt, als sie den Klappstuhl auf den Stapel neben der Herrentoilette zurücklegen wollte. Und nun bringe ich sie zum Personalausgang.
»Menschen wie dich muss man wegsperren«, blaffe ich sie an.
»Darf ich mich denn nicht entschuldigen?«, entgegnet sie deutlich ruhiger.
»Bei wem? Dem ganzen Saal?«
»Bei Maestro Mengelberg.«
Oh mein Gott, was heckt sie denn noch alles aus? Ich schüttele den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass ich dich in seine Nähe lasse? Einen großen Musiker behandelt man mit Respekt!«
Ich öffne die Tür zum Ausgang.
»Du bist entlassen«, sage ich, als ich sie hinausschiebe.
Sie stolpert und fällt beinah die Treppe hinunter, aber sie fängt sich wieder und blickt mich funkelnd an.
»Sie sind nicht mein Chef«, ruft sie mir zu.
»Dein Chef hat schon eingewilligt«, sage ich. Das stimmt sogar. Natürlich habe ich das mit Barnes besprochen.
Sie fleht mich an, dass sie diesen Job braucht, aber das kann mir egal sein. Ich sehe, dass sie weder ein noch aus weiß, empfinde aber kein Mitleid. Als sie einwendet, sie habe ihren Lohn für die letzte Woche noch nicht erhalten, zücke ich das Portemonnaie und drücke ihr etwas Geld in die Hand. Als sie den Betrag sieht, hält sie endlich den Mund. Vermutlich war es zu viel.