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Am Ende des Regenbogens

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1. Kapitel

MISS ME, BUT LET ME GO

When I come to the end of the road

and the sun has set for me,

I want no rites in a gloom-filled room.

Why cry for a soul set free?

Miss me a little, but not too long.

And not with your head bowed low.

Remember the love that we once shared.

- Miss me, but let me go. -

For this is a journey we all must take,

and each must go alone.

It’s all a part of the master’s plan,

a step on the road to home.

When you are lonely and sick of heart,

go to friends we know

and bury your sorrows in doing good deeds.

- Miss me, but let me go! -

(Edgar A. Guest)

Wenn du dich fürchtest,

weil die Krankheit

dir die Schwäche zeigt,

dann denk an den Regenbogen

in der Nacht.

Wenn du dich fürchtest,

weil der kalte Hauch der Einsamkeit

dich berührt

und die Nacht schwarz ist,

dann wisse,

dass in der dunkelsten Nacht

der Geburtsort der Sonne ist,

der Mutter der Farben

und des Regenbogens.

Wenn Ihr euch fürchtet,

dann denkt an den Regenbogen

in der Nacht,

und tut euch zusammen, jeder mit seiner Farbe,

und überzieht den Himmel

mit den Farben der Liebe.

Krankengebet

Krebs - Sternbild des Tierkreises am nördlichen Himmel.

Mein Sternzeichen.

Krebs - bösartige Geschwulst. Das Wesen des Krebses ist durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: Selbständigkeit der Geschwulst, die sich nicht in den geordneten Bauplan des Organismus einfügt, sondern auf dessen Kosten eigengesetzlich wächst und wuchert. Die Krebsgeschwulst dringt in die gesunde Umgebung ein und zerstört dabei das normale Körpergewebe. Die meisten Krebse neigen dazu, frühzeitig Metastasen zu bilden. Auf diese Weise übertragen sie ihr schrankenloses Wachstum vom Entstehungsort auf entfernte Körperteile und überschwemmen so den ganzen Organismus. Ein sich selbst überlassener Krebs hört erst mit dem Tod des Trägers auf zu wachsen.

Krebs - Die Krankheit, die mir meinen Vater nehmen wird.

Die Krankheit, die uns so nahe bringen wird, wie nichts zuvor.

Krebs - Die Krankheit, mit der sich 20 Jahre später unser Neffe auseinandersetzen muss. Maximilian, ich danke dir dafür, dass ich dich auf deinem Weg begleiten durfte. Es war eine so unendlich wertvolle Zeit.

2. Kapitel

Hautnah mit dem Sterben, mit dem Tod in Berührung gekommen bin ich bisher dreimal. Das erste Mal in der Kindheit, als meine Großmutter an einem Herzinfarkt starb. Die Oma, mit der ich abends noch erzählt und gelacht und der ich `eine gute Nacht` gewünscht hatte und von der es am nächsten Morgen hieß: Sie ist tot. Gestorben. Weg für immer.

Meine geliebte Oma. Die Frau, die mich all die Jahre mit ihrer Güte, ihre Liebe und ihrer Wärme umhüllt hatte. Eine Oma, wie jedes Kind sie sich wünscht und wie jeder kleine Mensch sie haben müsste - weil er sie braucht. Bei ihr war es so herrlich gemütlich. An sie konnte ich mich ran kuscheln, wenn wir zusammen auf dem breiten, alten Sofa saßen. Heute noch meine ich oft, die weiche Wolle ihres großen, grauen Schultertuches auf meiner Haut zu spüren. Einen kurzen, glücklichen, wehmütigen Augenblick lang.

Und nun war diese Oma gestorben. Sie lag da in ihrem Bett, die gefalteten Hände auf der Decke. Die Augen geschlossen, stumm, mit einem seltsam wächsernen Gesicht. Und plötzlich war sie so weit weg, so fremd.

Und das Mädchen von 13 Jahren stand in der Tür zu ihrem Schlafzimmer. Voller Angst schaute es auf diese reglose Gestalt und wagte sich nicht hinein in diesen Raum, in dem ja jetzt wohl nur noch der Geist oder die Seele der Oma waren.

Es stand da und wartete, dass diese geschlossenen Augen sich wieder öffnen, dieser Mund wieder lächeln und diese erstarrte Gestalt endlich wieder die Oma sein würde, die es kannte und liebte, und die einen nicht verlassen darf! Und da war er zum ersten Mal: Dieser Schmerz um etwas, das man für immer verloren hat.

Beim zweiten Mal war ich 21. Es war an einem Samstagmorgen und ich betrat das Krankenzimmer genau in dem Moment, als der Tod zu meinem Großvater kam.

Er kam wie ein flüchtiger Schatten, der sich auf sein Gesicht legte, wie ein leiser Hauch, wie ein sanftes Auslöschen. So, wie man die Flamme einer Kerze behutsam auspustet.

Ich hatte mir gerade im Bad das Blut von den Händen gewaschen. Das Blut meines Großvaters, das er in einem dunkelroten Schwall in die Schale erbrochen hatte, die ich für ihn hielt. Mehr konnte ich nicht tun. Seltsamerweise waren meine Hände dabei völlig ruhig. Kein Zittern. So, als sei das, was ich tat, das Natürlichste von der Welt.

Ich durfte während seiner letzten Stunden bei ihm sein. Ich war bei demjenigen, der, seit ich denken kann, Tag für Tag für mich da gewesen war. Hier hatte ich keine Angst mehr. Ihn konnte ich streicheln. Ein letztes Mal. Ein gnädiges Schicksal ließ ihn friedlich und in Würde sterben.

Man sagt: Der Mensch stirbt so, wie er gelebt hat.

Meine Mutter hatte den Vater verloren und ich den Mann, der in so vielen Dingen mein Lehrer war. Für uns alle war er der Fels in der Brandung des Lebens, den mancher Schicksalsschlag angekratzt, aber über den nichts die Macht gehabt hatte, ihn stürzen zu lassen. Ihm verdanke ich meine Liebe zur Natur, zu den Tieren. Er lehrte mich Dinge überhaupt wahrzunehmen, mit wachen Augen zu sehen, zu beobachten. Ich kann Freude empfinden an dem tanzenden Blatt im Herbstwind, an dem Geruch des Waldes nach einem Regenschauer, an flaumweichen Schneeflocken, die alles in eine Märchenwelt verzaubern. Ich staune, wenn aus einem winzigen Samen etwas so Prachtvolles wie eine Sonnenblume emporwächst. Ich finde es herrlich, barfuß über ein Stoppelfeld zu laufen und an einem Sommertag auf einer Wiese zu liegen und in den blauen Himmel über mir zu schauen. Mehr nicht, nur schauen und träumen und längst Vergangenes wieder sehen.

Ich mag einen feuchten Hundekuss, und es macht mich glücklich, wenn ich meine Wange an die samtenen Nüstern eines Pferdes legen kann, und es mir seinen warmen Atem ins Gesicht pustet. Ich liebe den Wald und seine heilsame Stille und wenn mir danach ist, umarme ich Bäume.

Ob ich es noch kann? Bis auf den höchsten Ast eines Apfelbaumes klettern, mich so lang machen, dass ich mit den Fingerspitzen auch den Apfel ganz da oben ertasten kann. Dann würde ich sie wieder hören, die Stimme meines Großvaters: „Na, kriegst du den auch noch?“ Und ich würde ihn wieder sehen, wie er erwartungsvoll zu mir hinaufblickt.

Von ihm habe ich das Positiv-Denken und die Gabe, Menschen zu erkennen. Er brachte mir bei, da Gelassenheit und Besonnenheit zu zeigen, wo beides angebracht ist. Ich bin sicher, wäre ich nicht so schüchtern, ich könnte ganze Gesellschaften unterhalten, genau wie er es konnte und liebte.

Wenn es so etwas gibt wie Stolz und wenn man solch ein Gefühl zulassen darf, dann ... Dann würde ich sagen: „Opa, darauf, dass ausgerechnet du mein Großvater warst, darauf bin ich mächtig stolz!“

Am Tag seiner Beerdigung begann meine Esssucht. Die Stärke, mich dem Trennungsschmerz zu stellen, besaß ich nicht. Damals noch nicht. Wieder war eine Verbindung zu meiner Kindheit unwiderruflich zerstört.

Ich wählte die Flucht, versuchte mich zu betäuben. Letztendlich war es nur ein Hinauszögern der Trauer. Der Trauer um diesen Mann und um alles, wofür er gestanden, um alles, was ich auf immer verloren hatte. Aber der Trauer entgeht man nicht. Sie lauert einem auf, und früher oder später muss man sich ihr stellen.

Für mich wurde daraus ein langes, zähes Ringen: Die Suche nach meinem Weg im Leben, nach meinen Zielen, meinen Wünschen, nach mir selbst. Diesen Weg bin ich alleine gegangen, musste ihn alleine gehen. Nichts war mir damals klarer als das. Ich habe mein Ziel erreicht - auch über Umwege.

Aus dieser Zeit, aus diesem Wissen heraus, stark genug zu sein, um mich nicht aufzugeben, daraus schöpfe ich einen Großteil meiner Kraft.

Ein `Ich kann nicht` gibt es seither für mich nicht mehr. Auch ein Mosaiksteinchen zu diesem Puzzle, das Wozu heißt.

Beim dritten Mal erlebten wir ein qualvolles, ein elendes Sterben mit. Ein Sterben, verlängert durch eine Apparatemedizin, die in all ihren Möglichkeiten ausgenutzt wurde, deren Einsatz von niemandem hätte verhindert werden können - einzig von der Patientin selbst. Nur war diese längst schon nicht mehr in der Lage sich zu artikulieren. Längst war sie gefangen in ihrer eigenen Gedanken- und Gefühlswelt, tauchte nur manchmal aus dem Nebel der Betäubungsmittel und aus den Grenzen ihrer Krankheit auf und kehrte zu uns zurück.

Die Tochter kapitulierte unter dem psychischen Druck der Ärzte - `Wollen Sie das verantworten?` - und wir ließen zu, dass der Leidensweg einer 83jährigen Frau um weitere Wochen verlängert wurde. Durch eine Operation, deren Sinnlosigkeit wir von Anfang an mit brutaler Gewissheit vor Augen hatten.

Damals war ich 34, und zu dritt begleiteten wir meine `kleine Oma` bis zum Ende. Gemeinsam mit meiner Mutter und meiner Schwester wachte ich drei Tage und fast drei Nächte an ihrem Krankenbett. Im Morgengrauen des vierten Tages wurde sie erlöst.

Die Wochen zuvor waren grausam und menschenunwürdig.

Ein Abbild dessen, was sie durchlitten hatte, blieb auf ihrem Antlitz zurück. Sie hatte es mit bewundernswerter Tapferkeit erduldet.

Diese Oma hatte ich geachtet und respektiert, aber ich war ihr nie richtig nah gewesen. Wir waren zu verschieden in unserem Denken und Handeln. Irgend etwas mir Fremdes war in ihrem Wesen, etwas, das sich mir nicht erschloss. Es blieb ein gewisser Abstand, ein Rest von Zurückhaltung.

Nun war sie gestorben. Wir hatten mit ansehen müssen, wie die Krankheit ständig mehr Besitz von ihr ergriff, sie aufzehrte, ihren Körper und ihren Geist verfallen ließ. Sie dämmerte dahin, auf der Grenzlinie zwischen Leben und Tod. Wochenlang, weil sie zu stark war, den Kampf aufzugeben. Denn das war sie - eine Kämpferin zeit ihres Lebens. So manche Begebenheit kam uns wieder in den Sinn, während wir neben ihr wachten. Wir hatten viel Zeit. Zeit zum Reden. Zeit zum Schweigen. Zeit zum Lachen. Ja, auch zum Lachen.

Da saßen wir am Sterbebett einer Kranken, erinnerten uns an deren liebenswert schrullige Angewohnheiten der letzten Jahre, und uns wurde ein Lachen geschenkt. Inmitten dieser Atmosphäre aus Leid, Schmerz und Aussichtslosigkeit war es plötzlich da. Unwirklich, irreal fast, und wir haben es als das erkannt, was es sein sollte: Ein Geschenk.

Dass sie dieses Lachen mitgenommen hat, das wünsche ich mir.

Einmal noch habe ich meine Oma besucht: In der Leichenhalle, in der man sie aufgebahrt hatte. Ich gab ihr etwas zurück, auf das sie mehr Anrecht besaß als ich: Den Ehering meines Großvaters, ihres Mannes. Dreizehn Jahre lang hatte ich ihn verwahrt. Wie schon so manches Teil, das mir anvertraut wurde. Alles nur auf Zeit, nichts war für immer. Alles nur so lange, bis der Zeitpunkt da war, sich zu trennen.

Beim vierten Mal verlor ich den gerade wiedergefundenen Vater.

3. Kapitel

Vorwort

Juli 1995. Hochsommer. Urlaubszeit.

Temperaturen um die 35°C. Hitze, Tropenklima. Fast nicht auszuhalten.

Genau wie vor einem Jahr. Du hast das alles ertragen ohne zu klagen:

Die wochenlange Schwüle in den Räumen - oben, direkt unterm Dach -,

die Schmerzen, die Angst und auch die Hoffnung. Immer wieder die Hoffnung ...

Es war dienstags. Es waren noch sechs Tage bis zu meinem Geburtstag. Es war der 12. Juli 1994. Die Zeiger meiner Armbanduhr standen auf 9.35 Uhr.

Es war die Todesstunde meines Vaters.

Langsam bewegt sich der Sekundenzeiger meiner Uhr weiter, Millimeter um Millimeter, unaufhörlich. Starr und fassungslos schaue ich ihm zu. Er läuft weiter. Mein Gott, er läuft weiter. Er muss doch stehenbleiben. Innehalten. Er muss! Er muss!!!

Die Zeit jedoch lässt nicht mit sich handeln. Nie! Weder in Momenten voller Freude und Glück, noch in Augenblicken voller Schmerz und Trauer. Es ist gut so.

Die Glocken der nahen Kirche läuten. Es ist 9.45 Uhr. Gleich beginnt in Holt die Messe für die Senioren der Gemeinde. Die Glocken werden uns erinnern. Jede Woche. Jeden Dienstag ...

4. Kapitel

Juli 1995. Eigentlich weiß ich schon lange, dass ich dieses Buch schreiben werde, schreiben muss. Im Unterbewusstsein war mir das schon klar, als ich im vergangenen Jahr damit begann, meine Gedanken und Gefühle zu Papier zu bringen.

Weil das half. Weil das tröstete. Weil das Kraft gab. Weil es mich müde machte und ich endlich nachts schlafen konnte.

Es war kein Tagebuch, das ich geführt habe. Es waren nur zwei Blöcke, in die ich, wenn mir danach zu mute war, reingeschrieben habe. Dem Papier konnte ich alles anvertrauen, mir meine ganze Angst von der Seele schreiben.

Heute morgen hatte ich den Mut, diese beiden Blöcke, die seit über einem Jahr in einer Schublade liegen, anzufassen, rauszuholen, die Notizen zu lesen. Lange, sehr lange habe ich das nicht gewagt. Ich wusste warum ...

Aber nun fühle ich: Es ist soweit. Ich kann es schaffen. Der richtige Zeitpunkt ist da.

Mit diesen Aufzeichnungen im Gepäck fahre ich in die Eifel. Fahre nach Frauenkron, in unser Dorf. Hier, und nirgendwo anders auf der Welt, werde ich es beginnen. Hier, auf einer Wiese oberhalb der Kyll, inmitten eines Meeres aus Sommerblumen, die sacht im Wind schaukeln, lasse ich mich auf dieses Abenteuer ein.

Denn, dass es eins wird, ist mir klar.

Neugier, Mut, Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit, Herz, eine Spur Verrücktheit, träumen können, staunen können - leben. Das macht ein gutes Abenteuer aus. Ein Wagnis ist es allemal. Aber solche Situationen hast Du doch gemocht. Stimmt’s? Also, Papa, fangen wir an. Schreiben wir es:

Unser Buch.

Soll ich Dir was verraten? Neben mir - weißt Du was da liegt? Ein Berg von Taschentüchern. Ich werde ihn abarbeiten. Stück für Stück. Ich verspreche es Dir. Danach wird es gut sein. Wir werden uns noch näher, noch vertrauter sein - weil wir es geschafft haben. Wir beide, gemeinsam. Denn ohne Deine Hilfe wird es nicht gehen.

Vor uns liegt ein langer Weg. Ein Weg voller Erinnerungen, voller Hindernisse, voller Fallen, in die wir hineinstolpern werden. Aber zusammen werden wir die Kraft finden, es durchzustehen, werden die letzten vierzehn Monate Deines Lebens noch einmal durchleben. Mit allem! Mit den Tränen, der Verzweiflung, den Schmerzen, der Hoffnung, den Glücksmomenten, mit der Freude, dem Lachen und mit Deinem Humor, den Du bis zum letzten Tag nicht verloren hast. Sicher, es hat auch Tage gegeben, an denen Du mutlos warst, keinen an Dich rangelassen hast, stundenlang nur vor Dich hingegrübelt hast, nicht mit uns hast reden wollen. Es gab wohl einiges, das musstest Du alleine abmachen mit Dir.

Schließlich war es an Dir, das alles auszuhalten, die Torturen der Behandlung auf Dich zu nehmen, durchzustehen, weiterzumachen, zu leben mit allen Konsequenzen. Und leben, das wolltest Du. Es schaffen, die Krankheit überwinden, das wollten wir alle. Einer hat dem anderen Kraft gegeben, ihm geholfen. Zum Glück hatten wir unsere Tiefpunkte - die Löcher in die wir oft fielen - nicht gemeinsam. So konnte immer einer den anderen trösten, ihm Mut geben, neue Hoffnung vermitteln. Der Stärkste von uns warst Du. Hast uns Deine Angst nur ganz selten sehen lassen, wolltest vor uns verbergen, dass Du verzweifelt, dass Du am Ende warst. Wie oft wirst Du es gewesen sein, nachts, wenn Du nicht schlafen konntest, Du auf den neuen Morgen gewartet hast? Wie Vieles wissen wir nicht? Wie Vieles weiß keiner vom anderen?

Wir beide sind uns ganz allmählich nähergekommen: Während Deiner Krankheit. Wir haben uns neu kennengelernt. Das Gemeinsame, die Vertrautheit, war uns verlorengegangen. Irgendwann nach den Jahren meiner Kindheit. Wir haben nur nebeneinander hergelebt. Lange Zeit, eine sehr, sehr lange Zeit. Fast 26 Jahre.

Deine Krankheit war unser Weg. War uns vorher bestimmt um wieder zueinander zu finden. War unsere Chance. Wertvolle Zeit, die uns geschenkt wurde.

Zeit, für die ich unendlich dankbar bin. Wie vielen gibt das Schicksal diese Chance?

Wie viele erkennen sie nicht? Wir bekamen 14 Monate. Wir haben sie genutzt.

5. Kapitel

Frauenkron. Ein kleines Eifeldorf, nahe der belgischen Grenze. Ein Flecken mit nicht ganz 200 Einwohnern, die größtenteils immer noch von der Landwirtschaft leben. Einige arbeiten in der Holzfabrik im Nachbardorf, einige Jüngere haben in größeren Städten - wie Köln, Koblenz oder Trier - eine Beschäftigung gefunden und sind nur am Wochenende bei der Familie.

Am Ortseingang, links, in einem ehemaligen Fabrikgebäude, sind Asylanten untergebracht. Isoliert, abgeschnitten von der Dorfgemeinschaft. Das einzige, was sich hier verändert hat. Das einzig Wesentliche in all den Jahren. Immerhin sind es jetzt schon siebenunddreißig. Ich war sechs, noch nicht eingeschult, da kam ich zum ersten Mal hierher, mit Großeltern, Eltern und Schwester.

Großvater hatte hier sein Jagdrevier, kannte jeden, hatte viele Freunde, ließ sich, so oft es ihm möglich war, von Mönchengladbach hierher fahren. Selbst hatte er keinen Führerschein, also übernahm Vater die Rolle des Chauffeurs und die Liebe zu diesem Dorf und seinen Menschen.

Damals fuhr man noch `über die Dörfer`, schön gemächlich. Heute sucht man viele Orte umsonst, sie existieren nicht mehr. Die hat der Braunkohlenbagger zerstört, einfach weggebaggert. Die Landschaft hat sich total verändert.

Früher kam mir die Fahrt immer unendlich lang und anstrengend vor. Kein Wunder, wurde mir doch regelmäßig schlecht, und musste ich gegen das Würgen im Hals ankämpfen. Das habe ich übrigens beibehalten. Ob im Auto oder im Bus: bloß nicht hinten sitzen. Dann kann ich für nichts garantieren.

Ein paar Jahre später dann, als wir das Pony und die Kutsche hatten und immer in den Ferien hinfahren durften, saß ich mit im Viehtransporter. Da ging es besser, da saß ich vorne.

Noch später hinter dem Steuer des ersten eigenen Wagens, der meine Glückszahl - die fünf - gleich dreimal auf dem Nummernschild hatte.

Ich besaß den Führerschein, hatte mich von hinten rechts nach vorne links hingelebt. Dank Autobahn schaffe ich die Strecke heute in knapp einer Stunde. Der Fluchtweg raus aus der Großstadt hat sich beträchtlich verkürzt.

Großvaters und Vaters Freunde habe ich - soweit sie noch leben - samt Kinder und Enkelkinder übernommen. Hier, bei der Familie Häring, die die einzige Gaststätte im Dorf betrieb, haben die beiden so manche Nacht durchgemacht. Viel Freude gehabt, viel gelacht, aber auch so manchen Kummer mitgetragen, waren heimisch hier, gehörten dazu. Dieses Dorf und seine Einwohner haben ihnen zeitlebens viel bedeutet.

Für mich gibt es - neben meinem Elternhaus - zwei Orte, an denen ich das Gefühl verspüre: Hier bist du zuhause. Zwei ganz verschiedene Orte, aber an jedem bin ich geborgen. Frauenkron ist einer davon.

Hierher musste ich kommen, um Vaters Geschichte - unsere Geschichte - aufzuschreiben. Das geht nur hier, sonst nirgendwo. Hier bin ich ihm nah, nicht auf dem Friedhof, nicht, wenn ich an seinem Grab stehe. Was selten vorkommt, denn dort ist nur das, was von seinem Körper übrig geblieben ist - was von uns allen nur zurückbleibt - Knochen. Nichts weiter als ein paar Knochen in einem Sarg aus Eichenholz, der einmal zerfallen wird. Das, was den Menschen, was meinen Vater ausgemacht hat, das ist nicht dort unten in der Erde, das ist in mir und in allen drin, denen er etwas bedeutet hat. In jedem von uns ist ein Teil von ihm zurückgeblieben. Wenn ein Mensch geliebt wurde, kann nicht alles verlorengehen. Jeder von uns hat seine eigenen, ganz persönlichen Erinnerungen. Jeder von uns hat ihn anders erlebt, für jeden hat er etwas anderes bedeutet: Den Mann, den Vater, den Opa, den Onkel, den Bruder, den Freund. Jeder hat ein Stück seiner Persönlichkeit entdecken dürfen, jeder vermisst etwas anderes.

Weißt Du, was ich mir wünsche, wirklich von Herzen wünsche, Papa? Dass der liebe Gott mir nie die Erinnerung an den Klang Deiner Stimme, an Dein Weinen, an Dein Fluchen, die Erinnerung an Dein leises Lächeln, an Deinen Gang, an Deine Hilflosigkeit, an Deine Stärke, und besonders die Erinnerung an die letzten Stunden mit Dir nimmt. Vor diesem Tag hätte ich Angst.

Wir beide, Du und ich, haben schon vieles gemeistert im Leben. Jeder für sich - allein - oder einer mit dem anderen - gemeinsam. Wir waren schon ein tolles Team. Oder etwa nicht?

Wie viele Momente voller Traurigkeit haben wir erlebt - durchlebt. Wie oft haben wir uns umarmt, stumm, nur die Tränen flossen. Wie viele frohe, glückliche Stunden haben wir gehabt - auch während Deiner schweren Krankheit.

Am Ende des Regenbogens

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