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12. Kapitel

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18. Juni. Vater und ich sind gegen 13.00 Uhr in Bonn, stellen den Wagen in der Nähe des Hauptbahnhofs ab. Wir haben einen Termin bei Professor S., dem Chefarzt der Robert Janker Klinik. Durch eine Bekannte haben wir von dieser Fachklinik für Tumorerkrankungen erfahren.

Verunsichert, wie wir alle sind, wollen wir die Meinung eines zweiten Onkologen hören. Ohnehin eine Empfehlung, die jeder Kranke befolgen sollte.

„Unser Haus ist alt und platzt aus allen Nähten“, wie Prof. S. uns erzählen wird, „ein Umbau wäre dringend erforderlich.“ Aber es macht einen gepflegten Eindruck, und auf mehreren Gängen sind die Maler bei der Arbeit. Was uns sofort auffällt, und fast ein wenig befremdet, ist der Umgangston, der hier herrscht. Überall wird uns Freundlichkeit und Wärme entgegengebracht. Das geht von der Dame an der Information, über die Sekretärin, bis hin zu den Schwestern und Ärzten. Wie wohltuend und beruhigend wirkt sich alleine diese Herzlichkeit aus! Denn wie sehr braucht ein schwerkranker Mensch ein bisschen Zuspruch, einfach etwas Menschlichkeit. Und gerade die ist in unserer heutigen Zeit so rar geworden. Prof. S. erweist sich als ruhiger, väterlicher Typ, zu dem ich sofort Vertrauen fasse. Nachdem er den Bericht seines Kollegen aus dem Franziskushaus gelesen hat, rät auch er zu einer erneuten CT des Hüftgelenks. „Uns bleibt praktisch gar nichts anderes übrig, erst müssen wir das abklären. Wir müssen wissen, ob es sich um Metastasen handelt.“ Montag morgen sind wir wieder in Bonn. Die CT wird durchgeführt. Am frühen Nachmittag sollen wir die Ersten in der Sprechstunde des Professors sein. Was wir während dieser vier Stunden gemacht haben? Sind wir durch die Stadt gelaufen? Haben wir uns in ein Café gesetzt oder waren wir im angrenzenden Park? Ich weiß es nicht. Jegliche Erinnerung daran ist weg.

Dafür sehe ich Vater und mich noch genau wie wir vor dem gewaltigen Schreibtisch im Zimmer des Professors sitzen. Sehe diesen hereinkommen, den braunen Umschlag mit den Röntgenaufnahmen in der Hand. Sehe, wie er sie in den Leuchtkasten an der einen Wand des Raumes einklemmt und sie aufmerksam betrachtet.

Meine Finger krallen sich in die Lehne des Sessels, ich wage kaum zu atmen, spüre wie mir schlecht wird vor innerer Anspannung.

„Nichts! Ich kann ihnen definitiv sagen, da ist nichts! Ich taste nach der Hand meines Vaters. Sie ist eiskalt. Mit Mühe räuspert er sich: „Was schlagen Sie vor, wie soll es weitergehen?“

Auch er ist nicht für eine Operation, führt in unserem Beisein noch ein Telefonat mit dem Chefarzt einer weiteren Klinik, der ebenfalls `bei der Ausdehnung des Tumors eine operative Entfernung nicht befürwortet`. Beide sind der Meinung, man sollte eine kombinierte radiologisch - zytostatische Therapie einleiten und zu einem späteren Zeitpunkt über das weitere Konzept erneut entscheiden. Bliebe Vater in Bonn, hieße das: Als erstes würde über einen Zeitraum von drei Wochen eine Chemotherapie durchgeführt. Zu dieser, wie zu weiteren Behandlungen, würde er jedesmal stationär aufgenommen werden. Nach Hause dürfe er an den Wochenenden.

Ginge es hier um mich, ich würde aus meinem Gefühl heraus sofort zustimmen und in dieser Klinik bleiben. Und das sage ich auch. Aber, wie Prof. S. richtig bemerkt: „Das ist alleine die Entscheidung ihres Vaters, die wir zu respektieren haben.“

„Nicht wahr, Herr B., jeder von uns hat nur ein Leben, und was wir damit machen, liegt bei jedem selbst. Sie müssen von der Therapie überzeugt sein, müssen fühlen: Das ist das richtige für mich. Da kann und darf Ihnen niemand reinreden. Wenn Sie denken: Das ist hier nichts für mich, wählen Sie eine andere Klinik oder eine andere Behandlung. Ich bin überzeugt davon, Sie machen das für Sie persönlich richtige. Ich wünsche ihnen ganz viel Glück.“ Wort für Wort dieses Gespräches höre ich noch.

Er drückt Vaters Hand, mit seiner Linken umfasst er dessen Schulter.

Der schriftliche Befund der Untersuchung geht uns zwei Tage später zu. Heute liegt er bei meinen Unterlagen ganz obenauf: Weil dieses Schreiben herausragt aus all den anderen Papieren. Es beginnt mit: Lieber Herr B. und endet: Mit freundlichen Grüßen, herzlichst Ihr Prof. S. Was machen doch ein paar liebe Worte, was machen ein paar Gesten aus?

Diesen Arzt werden wir beide noch einmal wiedersehen. Ich werde am Ende noch einmal mit ihm telefonieren, und auch vor dieser Klinik werde ich nach Vaters Tod noch einmal stehen.

Zufall?

1990, kurz nach meiner Heirat mit einem Seemann trat ich dem `Verband der Seemannsfrauen` bei, um von irgendwoher Informationen über den Beruf `Seemann` und über die Seefahrt im allgemeinen zu bekommen. Denn, aufgewachsen in Mönchengladbach, also im tiefsten Binnenland, hatte ich schlichtweg keine Ahnung von der Welt der Seeleute.

Einmal mit dem Virus `Seefahrt` infiziert, kommt man nicht mehr davon los, wie ich feststellen durfte. Ich begann meine Erlebnisse und Eindrücke niederzuschreiben. Nachdem zahlreiche Artikel in verschiedenen Fachzeitschriften erschienen waren, kam dann im Oktober 1994 mein erstes Buch heraus. Zu Beginn des nächsten Jahres erhielt ich durch die Verbandsvorsitzende eine Einladung nach Bonn. Frau Prof. Dr. Süßmuth, die Schirmherrin des Verbandes, wollte einige Seemannsfrauen zu einem Gespräch empfangen, in dessen Verlauf ich die Gelegenheit bekommen sollte, ihr mein Buch `Verheiratet mit einem Seebären` zu überreichen.

Ich fuhr also nach Bonn, sah noch einmal die mir bekannten Straßenschilder und erwischte einen Parkplatz, keine 200 m vom Klinikgebäude entfernt. Wie magisch angezogen, ging ich hinein und setzte mich noch einmal auf einen der Stühle im großen Warteraum.

Nichts hatte sich verändert. Hier nicht.

Dann erst machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof, um mich mit den anderen zu treffen. Mit der U-Bahn gelangten wir zum Regierungsviertel und zu Fuß weiter bis zum Bundeshaus.

13. Kapitel

15. Juli. Köln, Uniklinik, Station 13 D, Krebsstation. Ein Zweibettzimmer, rechts die Tür zum Bad, schmale Wandschränke, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Besuchersessel in der Ecke am Fenster, zwei fahrbare Nachtschränkchen, unter jedem Bett ein zusätzlicher Hocker (der für sonntags, dem `Großkampftag`), an der Decke die Flutlichtbeleuchtung, und an der Wand, hinterm Bett, der Anschluss fürs Radio, und der Knopf mit dem Schwesternruf. Das Übliche. Und doch nicht ganz. Beim Betreten des Raums fällt der Blick als erstes auf die Bilder und verweilt dort: Naive Malerei, Landschaften am Meer, Sonne, Strand und blauer Himmel, zarte, lichte Farben.

Etwas zum Festhalten in dieser sterilen Krankenhauswelt. Etwas, das auch sofort nach Verlassen des Aufzugs ins Auge fällt: Hier oben ist alles hell und freundlich, diese Station ist anders als all die anderen. Überall leuchten bunte Blumensträuße, Mobiles tanzen im Luftzug hin und her, die Flure sind tapeziert mit Bildern und Zeichnungen, alle gemalt in den Farben der Hoffnung.

Hier wird Vater sechs Tage bleiben: Zur ersten Chemo. Er hat sich für Köln entschieden, einzig aus dem Grund, dass bis auf diese erste Behandlung alle weiteren ambulant durchgeführt werden können. Es sei denn, es würden schwere Nebenwirkungen auftreten. Aber die schließt er einfach aus: „Es wird schon gutgehen, warum sollte ich das nicht schaffen. Macht euch da mal keine Sorgen drum.“ „Habt keine Angst, macht euch keine Sorgen“, bis zum Schluss wird er das zu uns sagen. Dabei ist er es doch, der sie aushalten muss: Diese Angst, die zum ständigen Begleiter werden wird. Die Angst vor der nächsten Behandlung, der nächsten Untersuchung, dem nächsten Ergebnis ...

Nur wenige Male wird er uns sehen lassen, wie diese Furcht in ihm hochkriecht.

Aber nie wird sie ganz von ihm Besitz ergreifen. Er will sein Leben so normal wie möglich weiterführen. Und es wird ihm gelingen, wir alle werden ihm helfen, am meisten jedoch hilft ihm seine enorme Willensstärke und seine eiserne Disziplin.

„Aufgeben gilt nicht“ wird er sich selbst Mut machen.

Er braucht seine Arbeit, braucht den Kontakt zu seinen Freunden und Bekannten. Er muss unter die Leute und er muss über Land fahren können. Daraus schöpft er einen Großteil seiner Kraft. Nur drei Tage vor seinem Tod wird er mich fragen: „Was meinst du, am Mittwoch bekommen P. die neue Maschine. Ob ich rübergehen und mir die ansehen kann? Es tut mir so leid, aber im Moment bin ich nicht fähig, die anzuschließen. Dafür müssen P. jemand anderen nehmen. Hoffentlich verstehen die das.“

Meine Gefühle in dem Moment lassen sich kaum beschreiben. Dieser Mensch, von dem ich weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat, dieser verrückte Mensch, macht sich Sorgen um andere und um eine blöde Maschine. Papa, Papa!

Antworten werde ich: „Klar, ich gehe mit dir rüber. Den ‘Kasten’ stecken wir in deine Hosentasche, und den dünnen Schlauch sieht unter’m Hemd eh niemand.“

Der `Kasten` enthält die Morphiumspritze, und durch den millimeterfeinen Schlauch gelangt das Schmerzmittel durch die Haut seines Arms in den Körper.

Diesen Mittwoch jedoch wird es für Vater nicht mehr geben.

Mama und ich werden am Fenster stehen und zusehen wie der riesige Kran die tonnenschwere Maschine anhebt und allmählich hinter dem Dach der Reinigung verschwinden lässt. Die Augen schließen, all die Menschen nicht sehen müssen, von denen er die meisten gekannt hat.

Menschen, die reden, die lachen, die staunend dieses Spektakel beobachten.

Weglaufen! Meine Hände graben sich in den Stoff der Gardine. Ich habe verdammt nochmal hier stehenzubleiben und mir das anzugucken! Ich tu’s für meinen Vater mit!

Am Ende des Regenbogens

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