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Halfdan Grini in Bærum, Juni 1830

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»Halfdan! So warte doch! Du gehst so schnell. Glaubst du, wir haben uns verlaufen?«

Halfdan hört die Stimme seines jüngeren Bruders hinter sich, er klingt, als ob er langsam unruhig wird, er ist außer Atem.

Er selbst ahnt nicht, wie lange sie schon so umhergewandert sind. Eine halbe Ewigkeit haben sie sich durch Farnkraut und dichten Fichtenwald gekämpft, doch plötzlich öffnet sich eine Wiese vor ihnen mit Hummeln in der warmen, schwirrenden Luft über Glockenblumen und Rotklee. Freitagnachmittag, Sommer im Wald und einer der hellsten Tage des Jahres.

Halfdan bleibt stehen, legt die Angelrute beiseite und blickt umher, wischt sich mit dem aufgerollten Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn und verscheucht einen aufdringlichen Mückenschwarm.

»Komm, es muss da unten liegen, hier entlang.«

»Bist du sicher?«

Hjalmar ist neun Jahre alt und bemüht sich, Schritt zu halten.

»Ja, sieh nur, die Sonne, es muss diese Richtung sein.«

Sie nähern sich dem Waldrand auf der anderen Seite der Wiese, abermals eine undurchdringliche Wand aus Dunkelheit und abweisendem Fichtengehölz. Auch hier kein Pfad. Hjalmar läuft ein Stück nach rechts und stöbert umher.

»Hier, Halfdan!«

Seine Stimme klingt ein wenig stolz. Hjalmar hat einen kleinen Weg gefunden, eine Öffnung zwischen den Bäumen. Sie folgen ihm, es ist ein unwegsamer Trampelpfad. Der Wald wird lichter, Laubbäume filtern das Sonnenlicht durch üppiges Blattwerk. Es geht steil nach unten. Sie müssen einen kleinen Sumpf durchqueren, überall ist es feucht, Spuren von Tieren im Schlamm. Auf Stöcke gestützt, müssen sie die schlimmsten Stellen überspringen, sie machen ein Spiel daraus, bei dem es gilt, das Gleichgewicht zu halten.

»Gib acht! Du trittst in einen Kuhfladen!«

Halfdan springt zur Seite, rettet sich in letzter Sekunde, und Hjalmar lacht.

Sie müssen sich doch der Ortschaft nähern? Einem der Höfe vielleicht? Auf der anderen Seite des Birkendickichts stoßen sie auf einen Lattenzaun, erspähen torfbedeckte Dächer, aus einem der Schornsteine kommt Rauch.

Der Schweiß tropft. Die kühle Erfrischung beim Bad im Østernvann ist nur noch eine ferne Erinnerung. Sie teilen sich den Rest aus der Wasserflasche, und Halfdan bereut, sie nicht aufgefüllt zu haben, als sie vor einiger Zeit den Bach kreuzten. Er blickt auf seinen kleinen Bruder hinunter, der darauf wartet, dass er einen Vorschlag macht.

»Wir müssen hier rüber, Hjalmar. Der Fluss ist gleich da unten.«

Jetzt weiß er, wo er ist, an dieser Kate ist er schon einmal mit seinem Großvater vorbeigeritten.

»Hier rüber?«, fragt Hjalmar unsicher, der Lattenzaun erscheint ihm wohl recht hoch. »Sollen wir etwa direkt über die Weide gehen?«

»Doch sicher, das ist der schnellste Weg. Jetzt beeil dich!«

Unten auf dem Gut ist bald Essenszeit. Das ist Hjalmar anscheinend nicht bewusst, umso besser, denn sonst würde er sich nur ängstigen. Hjalmar tut, was er kann, um Streit zu vermeiden. Er weiß sehr gut, wie wütend der Großvater werden kann.

Gleich nach dem Frühstück sind sie in den Wald gezogen, um zu baden und zu angeln, Hjalmar hat seine Malsachen im Rucksack mitgenommen. Zu Hause glauben sie jetzt wohl, dass die Jungen schon längst zurückgekommen sind.

»Komm, ich helfe dir. Fass die Latte an, da oben.«

Er hievt den zart gebauten Bruder hinauf. Hjalmars Leinenhemd ist aufgekrempelt und entblößt die sonnengebräunten Arme, die von einem Dutzend Mückenstichen übersät sind. Halfdan packt den Fuß des Bruders und entdeckt eine Schürfwunde am Knie, die schon dabei ist, wieder zu heilen. Jetzt hat Hjalmar Halt und kann sich auf der anderen Seite hinunterlassen. Nach einer weichen Landung bleibt er auf einem Bett aus Margeriten sitzen. Mit einem Grashalm zwischen den Daumen versucht er zu pfeifen. Halfdan hat es ihm viele Male gezeigt, aber Hjalmar will es nicht recht gelingen.

Er wirft ihre Sachen über den Zaun und springt hinterher. Die Kühe grasen unbeirrt weiter und scheinen sie dort am Rande der Weide gar nicht wahrzunehmen. Unten auf dem kleinen Bauernhof sind Menschen. Sie hören Stimmen zwischen den niedrigen Blockhäusern und bemerken einen Jungen in Hjalmars Alter, der an einer Hausecke steht. Er ist der Sohn eines der Männer, die dem Großvater im Frühjahr beim Bestellen der Felder geholfen haben.

Doch niemand sieht sie. Lassons Enkel. Feine Leute aus Grini, die ungefragt hier herumschleichen, das schickt sich nicht. Da gilt es fortzukommen. Ein Hofhund bellt, doch sie laufen einfach weiter, klettern über die Mauer auf den Weg und gehen weiter durch den Wald auf den Fluss zu.

Ja, hier kennt er sich aus. Dort glitzert der Fluss zwischen den Bäumen. Das Wasser steht höher als gewöhnlich, es war ein regenreicher Frühsommer. Sie finden die Stelle, wo der Fluss am schmalsten ist.

»Wir müssen hinüberwaten.«

Hjalmar schaut zweifelnd umher.

»Nun komm schon! Nimm die Angel und den Rucksack, dann kannst du auf meinem Rücken sitzen.«

Halfdan krempelt sich die Hosenbeine auf, beugt sich hinunter und spürt Hjalmars Gewicht, als er die dünnen Jungenbeine umfasst. Besser ist es wohl, dass nur er nass wird, dass er es ist, der den Ärger über sich ergehen lässt, wenn sie heimkommen. Irgendeine Erklärung wird ihm schon einfallen. Dann stapft er ins Wasser, eiskalt fühlt es sich auf der sonnengewärmten Haut an. Um ihn herum gluckst es, vorsichtig bewegt er sich weiter, bahnt sich den Weg an großen Steinen vorbei und sucht Halt, sobald es glatt wird. An einigen Stellen ist das Wasser tiefer, als es aussieht, aber dann, endlich hat er wieder festen Boden unter den Füßen.

Da stehen sie am grasbewachsenen Ufer, blicken einander an und betrachten Halfdans Hose, die pitschnass geworden ist und von den Hosenträgern noch gerade eben gehalten wird. Gleichzeitig brechen sie in Lachen aus, Hjalmar steht vornübergebeugt da und hält sich den Bauch, das ist so typisch für ihn. Er muss sich auf das feuchte Moos setzen.

So ist es immer, wenn sie beide allein sind, wenn sie den Augenblick genießen können und Hjalmar sich sicher fühlt. Zu Hause ist er stets auf der Hut. Wie so oft ist Halfdan froh, dass er mit seinem jüngeren Bruder allein ist, dass sie trotz des Altersunterschiedes etwas Gemeinsames haben.

»Komm jetzt, wir müssen weiter.«

»Sind wir sehr verspätet, Halfdan? Jetzt wird Großvater bestimmt böse.«

»Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht noch rechtzeitig.«

Die Sonne steht jetzt tiefer am Himmel, aber sie sind fast zu Hause. Das letzte Stückchen rennen sie über den staubigen Weg, bis sie Grini vor sich erblicken, die wuchtigen Hofgebäude, das Wohnhaus, den Stall und die hellgrünen Felder, die sich nach Westen hin ausdehnen.

Natürlich ist es Halfdan, der vorangehen muss. Vorsichtig öffnet er die Doppeltür zum Esszimmer und wird unmittelbar von der durchs Fenster scheinenden Abendsonne, von glitzerndem Kristall und blankgeputztem Silber geblendet.

Inzwischen sind sie wieder zu Atem gekommen, die Herzen pochen nicht mehr so heftig. Als sie durch den Rosengarten liefen, schlug die Uhr. Hjalmar hatte die Abkürzung durch ein Beet genommen und sich in einem Dornenbusch verheddert, sein Hemd riss und bekam ein Loch. Mit schnellen Schritten erklommen sie die Treppe, streiften verdreckte Schuhe und feuchte Kleider ab, wuschen die schmutzigen Hände in der Waschschüssel und fuhren sich mit einem Kamm durchs Haar.

Jetzt stehen sie in der Tür zum Esszimmer, direkt vor der schweigenden Versammlung. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, und Hjalmar verbirgt sich halbwegs hinter dem älteren Bruder.

Halfdan schaut zum Großvater am Tischende, öffnet den Mund zu einer Erklärung, sie waren nur am Østernvann, haben geangelt, gebadet und die Zeit vergessen. Doch er bleibt stumm, denn das Gesicht des Großvaters ist ausdruckslos, offenbar ist eine Erklärung oder Entschuldigung gar nicht erwünscht. Ein strenger Blick auf die beiden leeren Plätze ist ein unausgesprochener Befehl. Leise setzen sie sich, Hjalmar neben Ida, deren Haar zu kunstvollen, von Bändern zusammengehaltenen Zöpfen geflochten ist, ein hübsches, etwas verwachsenes Kind mit ordentlich gefalteten Händen in einem rosa Seidenschoß.

Halfdan nimmt seinen Platz neben Regnald ein, dem elfjährigen jüngeren Bruder. In seinem frisch gebügelten Hemd sitzt er mit ordentlich gekämmtem Haar brav am Tisch und beißt sich nervös auf die Unterlippe.

Prüfend lässt Halfdan den Blick weiterwandern. Neben Regnald, am kurzen Tischende, sitzt die Mutter, ihr burgunderroter Mund ist zusammengekniffen. Sie sieht ihn warnend an und richtet ihre gehäkelte Stola, die kurz davor ist, von der Schulter zu gleiten. Und dann – ein winziges, entnervtes Zucken mit dem Kopf. Er weiß, was sie denkt. Dass die Jungen nie pünktlich sind und ihren Großvater stets reizen müssen. Aber freut sie sich denn nicht, sie zu sehen? Es ist doch kein Weltuntergang, wenn sie ein paar Minuten zu spät kommen zum Abendessen beim Großvater in Grini? Jetzt sitzen sie doch hier, beide wohlbehalten, nichts Schlimmes ist geschehen. Aber so denkt sie wohl nicht, das weiß er nur zu gut.

Die Abendsonne fällt schräg ins Zimmer und lässt eine silbergraue Haarsträhne an ihrer Schläfe aufleuchten. Alle sagen, sie sei eine Schönheit. Aber fühlt sie sich alt? Seit einiger Zeit benutzt sie so viel Schminke, trägt so prachtvolle Kleider. In diesem Licht, vor der grünen Tapete mit Pfauen und Schlingpflanzen, sieht es aus, als wäre sie Teil einer Theaterinszenierung. Vielleicht hat sie auch Pläne für den Abend. Vielleicht gibt es ja eine Gesellschaft in Bogstad, Halfdan glaubt, dass es am Abend zuvor erwähnt wurde, gerade als sie angekommen waren und der Großvater im Garten Erfrischungen bereithielt. Als er kleiner war, hatte er Angst bekommen, wenn die Mutter plötzlich nicht mehr da war, wenn er spät am Abend wach wurde und merkte, dass sie nicht zu Hause war. Nach einer Weile ließen die Tränen nach, und das Kindermädchen brachte ihn wieder ins Bett.

Am langen Ende des Tisches sitzen die beiden Kleinen mit dem Rücken zum Fenster. Axel ist sieben, mit allzu großen Schneidezähnen und einem neugierigen, zum Bersten gespannten Blick. Wo seid ihr gewesen, scheint er zu fragen? Neben Axel, gegenüber von Halfdan, sitzt Theodor mit dem hellblonden Haar und den prallen Gliedern, fast scheint es, als wäre einer der rundlichen Engel aus einem Gemälde des Großvaters herabgestiegen, zu Fleisch und Blut geworden und hätte sich der Gesellschaft angeschlossen. Damit allerdings endet auch die Ähnlichkeit mit überirdischen Wesen, denn gleich unter seinen Stirnlocken glüht der beleidigte Blick des Vierjährigen, der darauf hindeutet, dass vermutlich erst vor wenigen Minuten ein Wutausbruch stattgefunden hat. Theodor hat mehr Temperament als sie alle zusammen, doch ob es am Alter liegt oder einfach ein Teil seiner Persönlichkeit ist, lässt sich nur schwer einschätzen.

An seiner Seite sitzt natürlich Dorthe. Sie ist schon so lange ihr Kindermädchen, wie Halfdan zurückdenken kann, eine entfernte Verwandte des Vaters aus Dänemark. Jetzt ist sie in fortgeschrittenem Alter und etwas runder, als es ihr stünde. Sie trägt das Haar unvorteilhaft in der Mitte gescheitelt. Die meiste Zeit ist sie mit Theodor beschäftigt. Unaufhaltsam jagt sie ihm nach, sie schwitzt und keucht und schimpft, je mehr sie sich aufregt, desto unverständlicher wird ihr Dänisch. Jetzt starrt sie Halfdan und Hjalmar resigniert an, als stünde ihre Berufsehre auf dem Spiel, jetzt, da alle sehen können, dass die Jungen das mit der Pünktlichkeit noch nicht begriffen haben.

Halfdan sieht seinen Vater an. Der sitzt am Tisch, als wäre das völlig normal, und doch ist es eher überaschend. Eine Weile war er bettlägerig und hatte sogar in Erwägung gezogen, das Wochenende zu Hause in Bakkehus zu bleiben, doch kurz vor der Abreise ging es ihm besser. Rein physisch scheint er anwesend zu sein, zusammen mit ihnen, aber sein Blick ist fern und jetzt auch fieberglänzend. Und selbst wenn er bemerkt haben sollte, dass Halfdan und Hjalmar erst in letzter Sekunde gekommen sind, scheint es ihn doch nicht zu interessieren, er wirkt, als sehnte er sich zurück in seine friedliche Kammer, in die Stille mit weichen Federbetten und Samtvorhängen, die den Sommerabend aussperren.

Halfdan wirft einen Blick auf den Großvater, der am Tischende thront. Über seiner glänzenden, hohen Stirn ist das Haar zurückgestrichen, seine Nase ist ausgeprägt wie bei einem Raubvogel. Niels Qvist Lasson aus Grini. König in seinem eigenen Reich. All die Geschichten, die er so lebhaft und einfühlsam erzählen kann, wenn er in rechter Stimmung ist. Über seine Vergangenheit als Pächter in Bogstad, über die enge Verbindung zu den Familien Anker und Collett. Weitschweifige Erzählungen aus ferner Vergangenheit, lange bevor Halfdan geboren wurde. Streng und kompromisslos ist er, aber auch großzügig, wenn es ihm passend erscheint.

Großvater Lasson räuspert sich laut, alle Aufmerksamkeit richtet sich auf ihn. Dann spricht er das Tischgebet, die Gläser werden gehoben, schweigend nickt man sich zu. Danach werden dampfende Suppenterrinen gebracht, eine Platte mit aufgeschnittener Entenbrust, Gemüse, Saucen. Die Stimmung lockert auf. Zwar muss Theodor noch einmal ermahnt werden, nimmt sich aber schließlich zusammen.

Halfdan blickt zum Vater, der mit der großen Silbergabel schweigend in seinem Essen herumstochert. Die Mutter hat das erste Glas schon ausgetrunken, bekommt noch mehr von Großvaters selbst hergestelltem Wein eingeschenkt, der ihr anscheinend gut bekommt. Ihr Gesichtsausdruck ist jetzt entspannter, ihr Blick fast versöhnlich, und da, nun lächelt sie sogar. Sie beugt sich zu ihm herüber.

»Gott, es wurde aber auch Zeit, dass ihr kommt, Halfdan! Ich war so beunruhigt. Hjalmar ist ja schließlich kein besonders erfahrener Schwimmer, nicht wahr?«

Unverhofft ergreift der Vater das Wort, so als wäre er plötzlich erwacht.

»Die Gefahr besteht wohl nicht. Wenn er nicht unbedingt muss, würde der Junge ja nicht mal den großen Zeh in einen kalten Waldsee stecken.«

Kaum hörbar lacht er über seinen Scherz.

Hjalmar blickt auf seinen Teller.

Der Großvater möchte wissen, welchen Waldweg sie genommen haben, ob sie jemandem begegnet sind und ob das Wasser kalt war. Wieder der entschlossene Blick, der belehrende Ton, als handle es sich um eine Lektion in der Kunst, ein Gespräch zu führen.

Als Dessert gibt es Erdbeerkompott und Meringen, die auf einem großen Servierteller angerichtet sind, außerdem werden französische Törtchen mit Eiercreme serviert. Die Erwachsenen bekommen goldenen Dessertwein, hergestellt aus Stachelbeeren vom letzten Jahr. Erdbeerkompott ist Hjalmars Lieblingsdessert. Halfdan späht zu seinem jüngeren Bruder hinüber, doch Hjalmar scheint es nicht zu bemerken, er sitzt nur schweigend da.

Draußen hinter den hohen Fenstern ist der Hügelkamm im Westen zu einer dunklen Silhouette vor dem Abendhimmel geworden. Doch es ist Juni, und die Sommernächte sind hell. Endlich verkündet der Großvater, dass das Abendessen beendet ist und es Zeit wird, sich in den Salon zu begeben.

Die Stühle schaben über den Fußboden, die jüngeren Geschwister lachen, schubsen einander herum und laufen in den Flur, Halfdan hört sie die Treppe hinaufstapfen. Anscheinend wollen sie das Geländer hinunterrutschen und oben in den Gängen Fangen spielen, sofern es niemand bemerkt. Die Chancen stehen gut, dass sie ihrem Treiben ungestört nachgehen können. Der Vater hat ganz und gar nicht gesund ausgesehen, er hat sich entschuldigt und ist verschwunden, wahrscheinlich hat er sich wieder hingelegt.

Hjalmar bleibt ein wenig hinter den anderen zurück, er steht in der Tür, als wüsste er nicht so recht, was er nun anstellen soll. Halfdans Blick fällt auf die zarten Schultern des Bruders, Hjalmar wirkt so klein. Halfdan versetzt ihm einen Stoß, ganz leicht, eine spontane Aufmunterung. Hjalmar sieht ihn an und lächelt.

Der Großvater und die Mutter sind in den Salon gegangen, um das Programm für das Hauskonzert zu besprechen, das in nur zwei Tagen stattfinden soll. Schon beim Dessert war die Diskussion in Gang gekommen, eigentlich nur Bagatellen, eine Uneinigkeit über die Reihenfolge, wie üblich hatten sich die Mutter und der Großvater aufgeregt. Aus dem Verhältnis der beiden wird Halfdan wohl niemals schlau werden. Wenn sie in den kommenden Tagen bloß friedlich bleiben. Er ist nervös vor dem Konzert, Krach und Streitereien, die alles nur schlimmer machen, sind das Letzte, was er jetzt braucht.

Noch im Halbschlaf hört er den Sommerregen, das gleichmäßige Geräusch des Wassers, das an den Hauswänden herunterläuft, das Trommeln an den dünnen Fensterscheiben, das Geplätscher in der Dachrinne und die Tropfen, die in die Regentonne an der Hausecke und auf den Efeu fallen, der sich wie ein Urwald um das Fenster rankt. Bis hier hinein spürt er hinter den weißen Vorhängen die Feuchtigkeit im Bettzeug, den Geruch von feuchter Erde und regenschwerem Fichtenwald.

Es ist Samstag. Mai und Juni sind so schnell vergangen. In nur wenigen Wochen werden die Abende dunkler, die Grashüpfer kommen und bald ist es Spätsommer. Wie unbarmherzig doch der kurze Sommer ist.

Neben ihm liegt Hjalmar. Er schläft noch immer, friedlich, den Kopf auf die Hände gelegt. Auf dem Kissen ist ein dunkler Speichelfleck entstanden. Hjalmars Haut ist sommerbraun, sein Haar von der Sonne gebleicht. Oft wird gesagt, Hjalmar sei ein hübscher Junge, was er natürlich mit einem verächtlichen Schnauben quittiert, aber er ist es. Es ist etwas Besonderes an ihm, und das liegt nicht nur an den braunen Augen. Er hat das, was keiner der anderen hat, ja, abgesehen von Ida natürlich, aber sie ist ja schließlich ein Mädchen. Er strahlt etwas Sanftes aus, was dazu führt, dass man ihn beschützen möchte. Etwas Feines liegt in seinen Zügen. Halfdan hat es die anderen oft sagen hören, aber jetzt sieht er es selbst. Gleichzeitig ist Halfdan klar geworden, dass er vielleicht Hjalmars Gegenstück ist. Er betrachtet sein Gesicht im Spiegel und hofft, ein wenig Schönheit darin zu erkennen. Doch er sieht nur, dass die Nase zu groß und die Haut unrein ist, und dass sich ein heller Flaum auf Kinn und Oberlippe ausgebreitet hat. Alles an ihm wächst, doch leider nicht proportional. Seine Brust ändert langsam die Form, die Beine sind plötzlich lang und behaart, ganz zu schweigen von der fremdartigen Stimme, hell in einem und dunkel im nächsten Augenblick.

Die dünne Decke ist von Hjalmars nackten Schultern gerutscht, aber das macht nichts, es ist warm.

Wie immer teilen sie sich das Gästezimmer, Halfdan, Hjalmar und Regnald. Regnald liegt in dem Bett, das an der gegenüberliegenden Wand steht. Ein einfaches Bett vor der hellen Wandverkleidung. Halfdan und Hjalmar teilen sich das Himmelbett. Schon seit früher Kindheit war es so, als sie noch klein waren und er Geräusche hörte, die die Fantasie beflügelten. Manchmal war es der Wind, an späten Herbstabenden heulte er in dem alten Haus. Mitunter erschrak Halfdan vom Geräusch einer Bodendiele, die ohne Vorwarnung und völlig unerklärlich knackte, oder er sah eine Bewegung in den schweren Gardinen, Schatten, die zu Gestalten wurden. Dann stand er auf, lief mit nackten Füßen über den kalten Fußboden durch den Korridor, vorbei an all den Gemälden mit ihren Gesichtern. War da nicht eines, das ihm zuzwinkerte, Lippen, die sich bewegten? Er stürzte die Treppe hinunter zu den Erwachsenen in den Salon, wurde nach oben gebracht – wieder und wieder, bis beschlossen wurde, dass er das Zimmer mit seinen jüngeren Brüdern teilen sollte.

Jetzt ist er fast fünfzehn und schämt sich für seine Furcht. Noch immer ist es so, die beiden anderen schlafen, doch er selbst liegt im Halbdunkel und hört ihre gleichmäßigen Atemzüge, er denkt nach, sieht Schatten an der Zimmerdecke, betrachtet die Quasten an den Vorhängen des Himmelbetts, zählt die Bretter in der Wandverkleidung hinter Regnalds Bett, lauscht den Stimmen unten oder dem Wind vor dem Fenster. Einmal glaubte er, ganz deutlich das Heulen eines Wolfs im Wald zu hören.

Doch die Nähe der anderen beruhigt ihn, und jedes Mal, wenn sie nach Grini kommen und sich im Gästeflügel ausbreiten, werden sie auf genau die gleiche Weise verteilt. In den Augen der Eltern oder des Großvaters ist er wohl doch noch nicht erwachsen.

Hjalmar rührt sich neben ihm, streckt die Arme über den Kopf und ist wach. Er späht umher und sieht müde aus, sein Haar steht in alle Richtungen ab.

»Regnet es etwa?«, sagt er und setzt sich auf. »Typisch, wo ich doch so gern noch einmal in den Wald wollte. Jetzt dürfen wir bestimmt nicht ausgehen.«

Er seufzt und wirkt enttäuscht.

Hjalmar hat recht. Wenn es draußen nass ist, wird in der Regel streng darauf geachtet, dass sie sich im Haus aufhalten. Die Mutter ist davon überzeugt, dass feuchte Luft gesundheitsschädlich ist, ja, um jeden Preis müssten Nässe und Unterkühlung vermieden werden. Sogar die kleinste Erkältung könne zu ernsthaften Problemen führen, sagt die Mutter, und erinnert sie ständig daran, dass die Natur sie alle mit schwachen Lungen ausgerüstet hat. Nicht allein der Vater, sondern auch Ida war im Winter krank gewesen, mit Fieber und Hustenanfällen, die niemals wirklich nachließen. Glücklicherweise geht es Ida jetzt besser, der Vater allerdings kränkelt. Kaum wechselt er ein Wort mit den anderen, das Wenige, das er äußert, handelt meist davon, wie er sich fühlt. Inzwischen hat Halfdan gelernt, die Ohren zu verschließen.

Auch er fühlt sich oft matt und antriebslos. Die Mutter behauptet, das liege an seinem Hang zum Grübeln. Sie spricht wohl aus Erfahrung. So lange er zurückdenken kann, hat die Mutter dunkle Phasen durchlebt. Er musste damit leben lernen, dass sie unkalkulierbar ist. Wie an jenem Septembertag vor langer Zeit, als er sieben Jahre alt wurde. Allzu früh war er erwacht, lauschte nach klirrenden Frühstücktabletts und flüsternden Stimmen im Gang, so aufgeregt, dass er nicht stillliegen konnte. Bald würden sie mit den Geschenken kommen und für ihn singen. Er hatte sich Zinnsoldaten gewünscht, solche, die er bei seinem Vetter gesehen hatte, und geglaubt, die Chancen stünden gut für die Erfüllung seines Wunsches. In den Wochen zuvor hatte er sehr darauf geachtet, gehorsam zu sein und seinen Pflichten nachzukommen, und war überzeugt, es sei nicht unbemerkt geblieben.

Doch er bekam sie nie, denn die Mutter hatte sich mit dem Vater gestritten und wollte ihn mit einem Totalrückzug bestrafen. Eine Weile glaubten alle, sie sei nach Grini hinaufgefahren, doch dann wurde klar, dass sie sich wohl nur in einem der Gästezimmer oben eingeschlossen hatte.

Der Vater war unfähig, eine morgendliche Geburtstagsüberraschung zu organisieren, und so wurde nichts daraus. Ida versuchte, Halfdan zu trösten, in der Küche hatte sie ein paar gefüllte Waffeln stiebitzt, auf einen kleinen Teller gelegt und auf den Nachttisch gestellt. Trotzdem brannte sich die Enttäuschung in sein Gedächtnis ein.

Als kleiner Junge unternahm er alles Erdenkliche, um die Mutter froh zu machen. Einmal arbeitete er den halben Tag an einer Zeichnung von ihr mit all den kleinen Details. Dann wieder saß er stundenlang am Klavier und übte Stücke ein, bis er sie auswendig konnte, in der Hoffnung, sie wäre stolz auf ihn.

Nach und nach hat er resigniert, er kommt nicht an sie heran. Alle Gefühlsausbrüche haben nur dazu geführt, dass er sich zurückzieht, in der Nähe seiner Geschwister bleibt und Zuflucht bei Büchern oder Musik nimmt. Ihre Stimmungsschwankungen erschrecken ihn nicht mehr so sehr. Mit Hjalmar ist es anders. Er ist noch immer verletzlich, er wird ängstlich, sein Gesichtsausdruck wird unsicher, besonders dann, wenn er sich einbildet, er sei der Schuldige. Auch wenn er ganz offensichtlich nichts getan hat, was die Gefühle der Mutter verletzt haben könnte, scheint er nicht zur Ruhe zu kommen. Er versucht etwas zu sagen, bemüht sich, die Wogen zu glätten, als könne er die angespannte Stimmung nicht lange aushalten.

Halfdan sieht zu Hjalmar hinüber, der am Fußende des Bettes sitzt und enttäuscht aussieht.

»Vielleicht wird das Wetter ja später besser, Hjalmar. Und außerdem muss ich für das Hauskonzert üben.«

Hjalmars Gesicht hellt sich auf. Offenbar hatte er das Konzert ganz vergessen, doch jetzt freut er sich darauf. Er liebt es, wenn die Mutter singt, doch am besten gefällt es ihm, Halfdan spielen zu hören. Niemand freut sich so sehr über sein Spiel wie Hjalmar, niemand hört so aufmerksam zu. Manchmal ist es Halfdan fast peinlich, zu hören, dass sein jüngerer Bruder ihn bei anderen lobt und sagt, er könne ein weltberühmter Pianist werden und ins Ausland reisen, wenn er älter ist.

Halfdan ist nervös. Vielleicht konnte er deshalb letzte Nacht nicht so gut schlafen. Noch nie zuvor hat er eine seiner eigenen Kompositionen präsentiert, jetzt hat er drei neue Romanzen für Klavier geschrieben, recht kurz und vielleicht ein wenig einfach, aber der Großvater war begeistert, als er sie hörte, und wollte gleich alle zum Hauskonzert einladen. Großvater Lasson ist stolz auf ihn, das weiß er. Zufällig hat er Gespräche mit angehört über das seltene musikalische Talent, das die Natur ihm geschenkt hat. Es erfüllt ihn mit Freude, denn der Großvater verwendet ansonsten nur selten Superlative und ist nicht so ohne Weiteres zu beeindrucken.

Wenn er doch nur von sich selbst ganz überzeugt wäre. Zeitweilig verspürt er eine schöpferische Kraft, die geradezu in den Fingern kribbelt, eine Energie, eine Freude, sich mit der Musik zu beschäftigen, er kann völlig in ihr aufgehen und ist unendlich dankbar, wenn ihm klar wird, dass er sie meistern kann. Im nächsten Augenblick allerdings, ohne dass er weiß, wodurch es ausgelöst wird, wird er von unbarmherziger Selbstkritik niedergestreckt. Er schämt sich, weil er sich in seiner eitlen und naiven Dummheit eingebildet hat, ein Künstler zu sein. Wie peinlich. Ja, vielleicht vermag er ein Klavier zu traktieren, ungefähr so, wie ein Handwerker ein Werkzeug verwendet, denn er hat sowohl die technischen Fähigkeiten als auch das Gehör. Aber gerade deswegen sollte er doch zuallererst wissen, dass Kunst zu erschaffen etwas ganz anderes erfordert.

Die Gardine am Fenster flattert leicht. Eine niedrige dunkle Wolkendecke verbirgt die mit Fichten bewachsenen Hügel, und ein grauer Regenschleier hat sich über die Felder gelegt.

Musiker. Ist er ein Musiker? Ist es das, was er will? Und wenn er nicht über die nötigen Fähigkeiten verfügt, was in Himmels Namen soll dann aus ihm werden?

Wenngleich er selbst unsicher ist, so hat er doch bemerkt, dass andere die Antwort kennen. Halfdan soll Jurist werden. So wurde es über seinen Kopf hinweg beschlossen. Ihn selbst hat niemand gefragt, aber so lautet der elterliche Plan, sein Schulbesuch soll eine juristische Ausbildung zum Ziel haben, es ist wie ein Naturgesetz, eine Tatsache. Dass er die Schulfächer womöglich nicht mag, weil er sich davor graust, was ihn am Ende erwartet, ist ein Gedanke, der weder seinem Großvater noch seinen Eltern gekommen ist. Offenbar sind sie nur enttäuscht und manchmal auch gereizt, weil er die Prüfungen immer wieder aufs Neue ablegen muss. Auf Kosten von Großvater Lasson und in dem verzweifelten Versuch, ihn auf die rechte Bahn zu bringen, musste sogar ein Privatlehrer für Latein angeheuert werden. Doch die Verbkonjugationen sind genauso vergeblich wie all die Jahreszahlen, die er pauken soll und die ihn nie wirklich interessieren. Er fühlt sich gefangen, kann aber nicht entkommen. Nur die Musik hilft ihm, verschafft ihm den Raum, den er für sich braucht, und ein Gefühl des Erfolgs. Doch er räumt ihr zuviel Zeit ein und vernachlässigt die Fächer, die tatsächliche Anforderungen an ihn stellen.

Hjalmar ist plötzlich hellwach, gut gelaunt und fröhlich. Er klettert aus dem Bett und schüttelt Regnald, der sich grunzend die Decke über den Kopf zieht und abweisend zur Wand hin dreht. Das alte Bett knirscht. Dann zieht Hjalmar ihm die Decke weg und springt im Nachthemd im Zimmer herum.

»Hör auf!«, faucht Regnald und wirft ein Kissen nach ihm, das sein Ziel jedoch verfehlt und den Spiegel über der Kommode trifft. Er schwingt am Haken hin und her. Zum Glück fällt er nicht herunter, erst fasst sich Hjalmar erschrocken an den Mund, doch dann muss er lachen, steht da und hält sich den Bauch.

Was für ein Chaos. Ebenso gut kann er aufstehen, Halfdan zieht den Bettvorhang zur Seite, während der Regen weiter an die Fensterscheibe trommelt.

Beim Versteckspiel macht Halfdan nicht mit. Aus Prinzip. Das ist zu kindlich, schlichtweg unter seinem Niveau. Dass er nun doch mitspielt, liegt an Idas und Hjalmars unermüdlichem Gebettel, dem nicht nachlassenden Regen sowie der Tatsache, dass er die Stücke, die er morgen vorspielen soll, bereits mehr als genügend geübt hat. Der Roman, den er von zu Hause mitgebracht hat, ist schon durchgelesen.

Die Erwachsenen sind mit den Vorbereitungen für das morgige Ereignis beschäftigt. Die Mutter schwirrt durch die Zimmer, gefolgt von Anna, der alten Haushälterin des Großvaters, sowie dem neu eingestellten Dienstmädchen. Alle laufen hinter der Mutter her und versuchen, die einander widersprechenden Anweisungen zu verstehen, nein, nicht da, Anna, stell die Gläser hier hin. Wie viele Stühle haben wir? Nein, auf keinen Fall dort, nicht so nah am Klavier, das musst du doch begreifen, alles muss weiter vorgezogen werden.

Der Vater erwachte am Morgen mit erhöhtem Fieber und kräftigen Kopfschmerzen, niemand rechnet also heute mit ihm. Großvater Lasson hat nach dem Arzt schicken lassen, der einer seiner engsten Jagdkameraden ist und hoffentlich bald auftaucht trotz des trostlosen Wetters.

Theodor ist mit Dorthe im Kinderzimmer, die anderen Geschwister schleichen sich davon. Halfdan glaubt, sie verspüren dasselbe wie er, einen Drang, der drückenden Atmosphäre im Haus zu entkommen. Er folgt ihnen in die Bibliothek, wo dunkelgrüne Samtvorhänge das Tageslicht aussperren. Der vertraute Duft von Großvaters Zigarren vermischt sich mit dem Geruch der staubigen Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichen, in Leder gebundene Gesetzeswerke, Enzyklopädien, deutsche und französische Romane, Äsops Fabeln, die Bibel, Landkarten – alles nach einem ausgeklügelten System geordnet, so stehen die Bücher schon über Generationen da.

Als kleines Kind hatte er sich oftmals weggeschlichen, war in diesem dunklen Kabinett verschwunden, hatte über die Schulter geblickt und gehorcht, war behutsam mit den Fingern über Gegenstände gefahren, die er nicht berühren durfte, hatte den ausgestopften Hermelin mit den stierenden Glasaugen befühlt und die Marmorbüste, hatte vorsichtig die Holzkästchen auf Großvaters Schreibtisch geöffnet, verstohlen auf die Sammlung aus Vogeleiern, Käfern und Schmetterlingen geblickt, sich mit der großen türkisen Feder über die Wange gestrichen, hatte die Federhalter auf dem schmalen Brettchen gezählt und die kleinen, mit schwarzer Tinte gefüllten Glasfässchen, hatte an Zigarrenschachteln gerochen und die hübschen glatten Steine auf dem Rauchtisch berührt. Manchmal war er im Lehnstuhl sitzengeblieben, um die flämischen Malereien zu betrachten, hatte vor sich hingeträumt und sich vorgestellt, er sei einer der Bauernjungen, die dort, umgeben von Fasanen und Körben voller Äpfel, auf dem Hof standen. Aber das alles ist lange her.

Jetzt sind die anderen hier, Ida, Regnald, Hjalmar und Axel. Alle wollen spielen, denn alles, was die Langeweile auf Abstand halten kann, ist herzlich willkommen. Hjalmar ist so aufgeregt, dass er nicht stillstehen kann, vor lauter Spannung trippelt er auf der Stelle herum. Halfdan muss lachen, er kann nicht anders, als ihm die Faust gegen die Schulter zu boxen, nicht fest, nur als Zeichen ihrer brüderlichen Verbundenheit. Hjalmar grinst und hält seine Hand fest, bettelt. Ja doch. Er wird bis hundert zählen. Nein, er wird nicht gucken.

Ida klatscht in die Hände und ist trunken vor Vorfreude. In dem weißen, knöchellangen Sommerkleid wirkt sie plötzlich so erwachsen. Und doch verhält sie sich wie ein Kind, steht da und kichert, ihre Wagen werden rot. Sie ist bloß zwei Jahre jünger als er und seine einzige Schwester. Ida, die so oft krank gewesen ist. Er denkt zurück an all die Nächte, in denen er von den ernsten Stimmen der Erwachsenen draußen auf dem Flur geweckt wurde und Ida im Nebenzimmer husten und nach Luft ringen hörte. Ungleich schlimmer war es allerdings, wenn er von ihrem Weinen erwachte, denn mitunter hatte sie starke Schmerzen in der Brust. Dann krümmte er sich zusammen, vergrub sich so tief wie möglich im Bett und zog sich das Kissen und eine zusätzliche Wolldecke über den Kopf.

Oft hat er drinnen bei ihr gesessen und mit ihr geplaudert. Die kleinen Brüder waren viel zu wild, doch er durfte an ihrem Bett sitzen und ihr vorlesen, Gedichte oder Bruchstücke von Romanen, an denen er seine Freude gehabt hatte und die sie, wie er wusste, mögen würde. Manchmal lag sie auch zu Hause auf der Chaiselongue im Wohnzimmer, dort, wo das Klavier stand. Er spielte ihr vor, so lange, bis er jedes Zeitverständnis verlor, aber immer wieder warf er einen Blick über die Schulter und sah, dass sie mit geschlossenen Augen dalag. Sie schlief nicht, sie lauschte, und wenn er aufhörte, bat sie ihn weiterzuspielen.

Ida kam wieder zu Kräften, das Fieber sank, der Husten verschwand und die Nächte wurden ruhiger. Solche Phasen haben sie mehrmals erlebt, das letzte Mal im Frühjahr, als sie so viel Zeit brauchte, um eine gewöhnliche Erkältung zu überstehen. Doch dann, im Mai, ja, am selben Tag, als Axel und Theoder mit dem ersten Strauß aus Buschwindröschen hereingestürmt kamen, erholte Ida sich wundersamerweise. Jetzt schaut er sie an, wie sie dort voller Erwartung steht, als versuche sie, alles nachzuholen. Begierig nimmt sie alles auf, als hätte sie schon erfahren, dass man keine Zeit verschwenden darf, dass jeder einzelne Tag, jede Stunde, die einem gegeben wird, ein Geschenk ist.

Mit den Händen vor dem Gesicht dreht er sich zur Zimmerecke und zählt, hört pfeilschnelle Schritte zur Tür hinaus.

»Neunundneunzig, hundert!«

Dann beginnt er zu suchen. Im Treppenhaus ist niemand, doch die Tür zum Keller steht einen Spaltbreit offen. Ist einer von ihnen dort verschwunden? Vorsichtig schleicht er die Stufen hinunter. Es riecht nach Feuchtigkeit, nach eingekellerten Kartoffeln mit langen Keimen, nach Spinnweben. Er erschrickt, als er gegen einen Zinkeimer stößt, der laut über den Steinboden schabt. Er hält inne, glaubt plötzlich, eine Ratte über den Boden huschen zu sehen, aber das ist vielleicht nur Einbildung. Die Kellerräume liegen im Dunkeln, aber Streifen aus Sonnenlicht dringen durch die Abzüge herein. Seine Augen gewöhnen sich schrittweise an die dunkle Umgebung, doch sein Puls pocht in den Schläfen.

Er ist in Großvaters Weinkeller, schleicht an der Wand mit Jahrgangsweinen vorbei, an unzähligen Brettern mit eingemachten Pflaumen und Apfelmost. Geräte, Töpfe und Rechen. Nein, hier unten ist niemand. Er zwingt sich, denselben Weg ganz ruhig zurückzugehen, auf die Treppe zu, dort, wo von oben das Licht hereindringt.

Er steigt die Treppe hinauf, nimmt mehrere Stufen auf einmal, sein Herz pocht im Hals, unsichtbare Hände, die gleich nach seinen Knöcheln fassen werden, dann richtet er sich auf und entkommt der Dunkelheit.

Aus dem Salon hört er laute Stimmen und Möbel, die herumgeschoben werden. Er stellt sich die Mutter vor, bestimmt ist sie hektisch und hellauf begeistert. Sie liebt solche Veranstaltungen. Liebt die Aufmerksamkeit. Besonders dann, wenn sie Halfdan präsentieren kann, den Ältesten, der so unglaublich musikalisch ist, spreizt sie die Federn.

Halfdan erklimmt die breite Treppe in den ersten Stock, kommt an dem Zimmer vorbei, in dem sein Vater ruht, und bleibt einen Augenblick vor der Tür stehen. Er hört ihn schwach husten, durch das Schlüsselloch sieht er, dass die Vorhänge zugezogen sind. Er geht weiter, vorbei an den Familienporträts in schweren Goldrahmen, Vorfahren mütterlicherseits, weiße Gesichter und hervorstehende Augen, tiefe Ausschnitte und bunte Uniformen. Hier fühlt er sich stets beobachtet. Strenge Blicke ziehen ihn zur Verantwortung, erwarten etwas von ihm. Halfdan Kjerulf. Was soll aus dir werden?

Am Ende des Korridors fährt er zusammen. Ein plötzlicher Luftzug hat anscheinend die Tür zum Dachboden zufallen lassen. Dort oben müssen sie sein, obwohl ihnen streng untersagt wurde, dort jemals zu spielen. Der sicherste Weg, um sich Ärger einzuhandeln. In regelmäßigen Abständen erinnert sie der Großvater daran, und da es keinen Mangel an Orten gibt, wo man sich austoben kann, hat keiner von ihnen den Drang verspürt, dem Verbot zu trotzen. Bis jetzt. Die Tür ist angelehnt, mit einem Mal wird er von Neugier übermannt. Es ist sicher kein Vergehen, solange sie vorsichtig sind. Und offensichtlich bekommen die Erwachsenen nichts mit.

Die Treppe ist eng, fast wie eine Leiter, grau und verschmutzt. Oben angekommen, muss er sich ducken, um nicht mit dem Kopf an einen niedrigen Balken zu stoßen.

Sobald er die groben Dielenbretter betritt, hört er jemanden kichern. Irgendjemand sagt pst. Aber er kann den Ursprung der Laute nicht genau orten, der Regen prasselt allzu heftig auf das Dach gleich über ihm. Durch eine kleine Scheibe dringt Licht ein, aber die Wolfspelze, die hier den Sommer über hängen, werfen lange Schatten in das unübersichtliche Halbdunkel. Als er an einem von ihnen vorbeikommt, muss er niesen von all dem Staub.

Hört er da nicht jemanden flüstern? Es ist ganz in der Nähe, jemand atmet. Die Augen gewöhnen sich an das Dunkel, dann sieht er vier gespannte Gesichter hinter einem Schrank, alle sind am selben Ort.

Regnald kommt freudig hervorgesprungen.

»Hab ich’s nicht gesagt, ich wusste, dass er uns nicht so leicht finden würde«, ruft er und dreht sich zu den anderen.

Hjalmar, Axel und Ida kommen ebenfalls hervorgekrochen.

Ida streicht sich das Kleid glatt und kichert. Aus einem großen Korb nimmt sie einen altmodischen, samtenen Damenhut, schüttelt ihn durch, sodass eine Staubwolke aufwirbelt, setzt ihn auf und stellt sich vor den Spiegel.

»Bin ich nicht schön?«, sagt sie lächelnd und posiert übertrieben.

»Ja, aber es ist wohl besser, wenn wir wieder runter gehen. Wir dürfen hier oben nicht sein«, sagt Halfdan.

»Merkt doch sowieso keiner«, kommt es von Regnald.

Halfdan und Hjalmar bilden die Nachhut, sie schlängeln sich an Möbeln, Kisten und Körben vorbei, die anderen sind schon fast wieder unten.

Hjalmar geht voran, plötzlich hat er es eilig und läuft zur Treppe vor.

»Komm schon, Halfdan, beeil dich!«, ruft er mit ängstlicher Stimme.

Im selben Moment hört Halfdan ein klägliches Piepsen aus der dunkelsten Ecke. Er muss nachsehen, kriecht auf allen Vieren auf eine kleine Öffnung im Gebälk zu.

Hjalmar bleibt stehen. Durch das Dachfenster fällt Licht auf ihn.

»Lass uns runtergehen«, drängelt er.

»Warte. Hier ist ein Schwalbennest, Hjalmar. Mit Jungen!«

Vier graue, flauschige Federknäuel piepen hungrig und warten auf Fütterung, anscheinend völlig unberührt von der Anwesenheit der Zuschauer. Halfdan bleibt einen Augenblick sitzen, beobachtet sie und bemerkt zunächst gar nicht, dass Hjalmar schon die Stufen hinabsteigt.

Wie ein Donner ertönt plötzlich die Stimme des Großvaters. Halfdan weiß gar nicht, ob er zuerst sie oder zuerst die stapfenden Schritte hört. Jetzt steht der Großvater an der Treppe zum Dachboden und brüllt hinauf. Er muss die geöffnete Tür entdeckt haben.

In der dunklen Ecke mit dem Schwalbennest hockend, glaubt Halfdan ein Wimmern zu hören, bildet sich ein, dass Hjalmar dort zitternd auf den schmalen Stufen steht. Aber vielleicht war es nur eines der Vogelkinder, das ihn aus dem weichen Nest heraus anblickte. Wie versteinert sitzt er da, außerstande sich zu rühren, hält den Atem an und lauscht.

»Hjalmar Kjerulf. Was hast du hier zu suchen?«

Oben auf dem Dachboden schließt Halfdan die Augen, bereitet sich auf das Kommende vor, was immer es auch sein möge. Höchstwahrscheinlich ein Klatschen, wenn die Hand des Großvaters die sonnengebräunte Jungenwange trifft, spontan, denn der Anblick der ängstlichen Augen könnte ihn zögern lassen, könnte Nachgiebigkeit hervorrufen, wo doch eine feste Hand gebraucht wird. Kein harter Schlag, doch kräftig genug, damit er sich nicht noch einmal wiederholen muss. Haltet euch fern vom Dachboden.

»Bist du allein?«

Halfdan hört keine Antwort und vermutet, dass Hjalmar nickt, denn als der Großvater fragt, wo die anderen sind, bringt Hjalmar stammelnd hervor, sie seien unten. Niemand sonst ist hier gewesen, er wiederholt es, er hätte bloß so einen Einfall gehabt. Es täte ihm furchtbar leid.

Das darauf folgende Schweigen lässt Halfdan erschaudern, er kann hier nicht länger hocken. Er muss Hjalmar retten. So schnell er kann, kriecht er auf die Treppe zu, bleibt an einem Kleiderständer hängen, der krachend umstürzt, dann steht er auf der obersten Stufe und erwidert Hjalmars unglücklichen Blick. Der Großvater starrt ihn ungläubig an.

Halfdan setzt zu einer Erklärung an. Es war nicht allein Hjalmar, Großvater, es war nicht einmal seine Idee. Während er weiterredet, erscheint ein müder Ausdruck in den Zügen des Großvaters, und Halfdan erahnt einen Hoffnungsschimmer, vielleicht kommen sie ja dieses Mal noch mit einer Ermahnung davon.

Doch dann steht plötzlich der Vater da, er muss durch den Lärm gestört worden sein. Er hustet, schnäuzt sich die Nase und will ganz genau wissen, was vorgeht. Er baut sich vor ihnen auf, und obwohl er nicht in bester Form ist, strahlt er eine Aura militärischer Härte aus. Erst jetzt bekommt Hjalmar wirklich Probleme, denn der Vater bezeichnet ihn als charakterlosen Lügner und fordert ihn auf, möglichst schnell zu verschwinden, bevor er ihm die Ohren abreißt.

Hjalmar zieht den Kopf ein und sucht das Weite. Anscheinend weint er nicht, noch nicht. Halfdan hört den Vater brummen, dass er überhaupt nicht wisse, wie er einen Mann aus dem Lausejungen machen soll.

Halfdan rennt über den nassen Rasen und spürt die Feuchtigkeit in seine Schuhe dringen. Es hat aufgehört zu regnen, der Himmel ist heller. Er folgt dem kiesbedeckten Weg, es knirscht unter seinen Füßen, einer von Großvaters Jagdhunden bellt, als Halfdan am Hundezwinger vorbeieilt, bevor er schließlich die Jasminhecke umrundet, die in voller Blüte steht und einen intensiven, betörenden Duft verströmt.

Im Küchengarten hat der Regen Pfützen zwischen den Keimlingen hinterlassen. Kleine Schilder mit Pfanzennamen verraten, was in den schnurgeraden Reihen gesät wurde. Ringelblumen, Mohrrüben, Salat und Porree haben schon ausgetrieben. Die Kräuter sind bereits grün und kräftig. Er kennt all ihre Namen, Jahr für Jahr wachsen sie an derselben Stelle, Goldmelisse, Salbei, Liebstöckel und Thymian.

Er entdeckt ihn sofort, er sitzt auf der weiß gestrichenen Bank mit zur Brust herangezogenen Knien, das Gesicht verborgen. Es ist ihr geheimer Treffpunkt. Hjalmar blickt nicht auf, als Halfdan sich nähert.

Auf der Bank ist es feucht. Halfdan fegt die Tropfen mit den Händen herunter und setzt sich ebenfalls.

»Dummkopf. Warum hast du nicht gesagt, wie es war?«

Hjalmars Hose ist durchnässt. Er schnieft, zuckt mit den Schultern und sieht klein und zerbrechlich aus.

»Komm jetzt. Du musst hier doch nicht sitzen und frieren.«

Halfdan boxt ihm gegen die Schulter, ganz leicht, nur um ihn aufzuheitern. Und als auch das nicht hilft, steckt er die Hand in die Hosentasche. Er hat zwei Kampferdrops aufgespart. Die Papiertüte ist zerknittert, und die Bonbons haben sich am spitzen Ende festgesetzt. Eins für Hjalmar, eins für ihn selbst. Als Hjalmar sich endlich zu ihm umdreht und er ihm ein Bonbon reicht, da lächelt er und wischt sich mit dem Hemdsärmel über die Wangen.

Sonntag. Die Gäste treffen ein. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster hört Halfdan draußen auf dem Vorplatz Wagenräder und Pferde, Tante Kaias perlendes Lachen und andere fröhliche Stimmen und den Großvater, der die Gäste enthusiastisch willkommen heißt. Alle sind verspätet. Es hätte eine Matinee werden sollen, aber die Wege von Christiania hierher sind durch den Regen ganz aufgeweicht. Jetzt ist der Nachmittag schon weit fortgeschritten, und noch immer sind nicht alle eingetroffen.

Zum Glück war beschlossen worden, dem sonntäglichen Gottesdienst fernzubleiben, es regnete einfach zu viel, und der Vater war nicht in der Verfassung, das Haus verlassen zu können. Nur wegen des Kirchgangs wollte niemand bis auf die Haut nass werden, ohnehin würde es dafür ja später noch unzählige Gelegenheiten geben. Dagegen hatte Halfdan nichts einzuwenden, am letzten Sonntag war die Predigt unerträglich lang gewesen, kaum hatte er die Beine ruhig halten können, was zur Folge hatte, dass Dorthe ihn nach einer Weile mit ihrem strengen Blick bedachte. Der einzige Lichtblick war die Orgelmusik.

Stattdessen hat er heute die meiste Zeit des Tages am Klavier verbracht, und außerdem wollte Hjalmar Revanche für das Dominospiel. Gestern hat Halfdan ihn zum ersten Mal gewinnen lassen, danach aber drei Mal selbst gewonnen. Heute war das Spiel fast ausgeglichen. Es war eine angenehme Art des Zeitvertreibs. Als er wach wurde, war er nervös, doch als er im roten Zimmer mit Hjalmar auf dem Sofa saß und den Regen gegen das Fenster prasseln hörte, hatte er sich entspannt und das Konzert vergessen.

Jetzt allerdings spürt er die Aufregung im ganzen Körper. In einer knappen Stunde soll er auftreten. Seine eigene Komposition vorführen. Das belastet ihn sehr, er fürchtet sich vor einer Blamage. Da hilft es auch nicht, dass er das Publikum kennt, das macht es fast schlimmer. Er weiß nur zu gut, dass sie kritisch sind. Jemand aus Bogstad wird erwartet. Und der Onkel und die Tante vom Munkedamm, samt Freunden vom Theater. Ein paar von ihnen sind durchaus fähige Musiker.

Seine Mutter wird singen, sie soll das Hauskonzert einleiten, so etwas liebt sie schließlich. Vielleicht wird ihre Freude ja auf ihn abfärben, so etwas hat er schon früher erlebt, er muss nur seinen Teil dazu beitragen. Komme, was da wolle.

Er steht vor dem Spiegel an der Kommode und fährt sich mit dem Kamm durchs Haar. In der Frühe hat er unter dem Zierrat seiner Mutter eine Dose mit Puder entdeckt, hat ein wenig davon genommen und es unbemerkt in seinem Taschentuch verborgen. Jetzt versucht er, ein paar der roten Pickel damit zu verdecken, aber die Mühe hätte er sich sparen können, es sieht aus, als hätte er Mehl im Gesicht. Hoffnungslos. Er wischt sich das Gesicht ab, eine feine weiße Staubwolke legt sich auf die Brustpartie seiner Brokatweste. Nun denn, die Kleider sitzen immerhin wie sie sollen, das Halstuch sieht hübsch aus, und die Schuhe sind poliert.

Dann hört er Schritte im Flur. Die Mutter. Hektische, vertraute Schritte. Sicher freut sie sich darüber, dass er schon vorbereitet ist. Nur keine Trödelei. Die Noten liegen unten bereit, er hat es noch einmal überprüft, bevor er hinaufgelaufen ist, um sich umzuziehen. Er dreht sich um und wartet darauf, dass die Türklinke heruntergedrückt wird, aber nichts geschieht. Er öffnet die Tür, sieht hinaus und erspäht ihren Rücken im Flur, das rote Seidenkleid und das zu einem hohen Knoten aufgesteckte Haar, das den Blick auf die langen, tropfenförmigen Ohrringe freigibt. Das Rascheln des Kleiderstoffs gleicht einem bedrohlichen Zischeln, als sie weiter in den Ostflügel stürmt. Ihre Zimmertür fällt krachend ins Schloss.

Es ist nicht das erste Mal. Die Mutter reagiert mitunter heftig, und oftmals kann er den Zusammenhang nicht begreifen. Abwartend bleibt er stehen und lauscht. Unten im Salon ertönt schon Stimmengewirr. Gläser und Zigarren werden herumgereicht, während alle auf die Gastgeberin warten, Lassons älteste Tochter, die wohl sicher nur nach oben gegangen ist, um ihren Sohn zu holen. Sie warten auf ihn, auf das junge Musiktalent, auf Halfdan Kjerulf, der hier fertig angezogen, gestriegelt und gekämmt vor dem Spiegel steht, aber nicht weiß, was er nun anfangen soll. Geplant war doch, dass er mit ihr zusammen herunterkommen sollte, wenn alles soweit wäre.

Stampfende Schritte auf der Treppe. Es sind der Großvater und Tante Kaja, wo um Himmels willen Elisabeth denn jetzt sei? Herrgott.

Halfdan stottert bloß, weiß nicht, was er sagen soll. Am liebsten würde er verschwinden. Der Großvater blickt ernst, sein Mund ist verkniffen. Seine Arme hängen an den Seiten herab, die behaarten Hände ballen sich, sodass die Knöchel weiß aufleuchten. Tante Kaja blickt hinter seiner Schulter hervor, schnalzt resigniert mit der Zunge und verdreht die Augen.

Halfdan bleibt vor dem Bett stehen, hört schnelle Schritte durch den Flur eilen, der Großvater will die Tür zum Zimmer der Mutter öffnen, aber sie ist von innen abgeschlossen und niemand antwortet. Den Worten kann Halfdan entnehmen, dass es irgendeine Meinungsverschiedenheit gegeben hat. Bevor sie wieder hinuntergehen, versucht der Großvater ein paar versöhnliche Worte zu formulieren, ohne sie dabei wie eine Entschuldigung klingen zu lassen, darin ist er Meister, stets achtet er darauf, nicht das Gesicht zu verlieren.

Erst dann entdeckt Halfdan seinen Bruder. Ganz leise ist Hjalmar plötzlich aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Jetzt steht er in der Türöffnung und blickt ihn erwartungsvoll an. Er hat sich wohl gefragt, wo der große Bruder nur bleibt.

»Kommst du nicht, Halfdan?«, fragt er und sieht ihn an.

Halfdan zögert. Dann kommt Hjalmar schließlich einen Schritt auf ihn zu und boxt ihm mit seiner kleinen Faust gegen die Schulter. Die brüderliche Freundschaftsgeste, behutsam und ungefährlich, sie sagt alles.

Ja, wieso steht er hier eigentlich und trödelt herum? Er folgt Hjalmar die Treppe hinunter in das Gewirr aus Stimmen, Gelächter und klirrenden Gläsern, derweil der Großvater im Gartenzimmer die Stimme erhebt.

»Liebe Freunde, meine Damen und Herren.«

Der Großvater heißt alle zum Hauskonzert der Familie Lasson willkommen, welch eine Freude, dass so viele dem Wetter getrotzt und sich auf den Weg hinaus nach Grini gemacht haben. Und er könne garantieren, dass sie eine unvergessliche Vorstellung erwarte, es gäbe Einiges, worauf die Gäste sich freuen dürften.

Halfdan stellt sich an die Wand, verbirgt sich halbwegs hinter dem großen Piedestal mit der palmenartigen Pflanze. Hjalmar steht neben ihm, an die gelb gestreifte Tapete gelehnt. Das Herz klopft, es fühlt sich an, als wollte es gleich zerspringen, Halfdan schlottern die Knie. Er sieht zu Hjalmar hinüber, der strahlt und sich freut. Hjalmar glaubt an ihn, hält ihn für den Besten von allen.

Er wirft einen Blick auf die Versammlung, entdeckt bekannte und unbekannte Gesichter. Onkel Peder nickt ihm feierlich zu, doch deswegen fühlt er sich auch nicht besser.

Die Mutter ist nicht wieder erschienen. Aber der Großvater nimmt alles in die Hand. Mit einem breiten Lächeln kann er alle beruhigen, seine Älteste, Elisabeth, wurde von einem plötzlichen Unwohlsein befallen, nichts Ernstes, sie braucht nur ein wenig Ruhe. Und ausdrücklich habe sie darum gebeten, das Hauskonzert beginnen zu lassen.

Tante Kaja und Tante Otilie vom Munkedamm beginnen mit einer Arie aus »Die Puppe, die auch was mitbringt« und ernten stürmischen Applaus.

Dann ist er an der Reihe. Auf geradezu mysteriöse Art gelingt es ihm, jedwede Nervosität abzuwerfen. Mit dem Rücken zum Publikum präsentiert er seine neuen Kompositionen für Klavier. Als säße er allein zu Haus und übte, nur mit Hjalmar als Zuschauer. Als gäbe es sonst nicht anderes. Nur ihn und die Musik. Keinerlei Zögern.

Erst als der letzte Ton verklingt, wird ihm bewusst, dass er ihnen fast den Atem geraubt hat, so begeistert ist das Publikum über seine Leistung. Die Gesellschaft erhebt sich applaudierend. Er schiebt den Klavierhocker zurück, stellt sich davor, die Erleichterung durchströmt jede Pore. Er hört Onkel Peder »Bravo!« rufen. Der Großvater nickt anerkennend und sonnt sich unverhohlen im Glanz der Vorstellung.

Halfdan tritt einen Schritt vor und verbeugt sich tief.

Und da ist Hjalmar. Niemand ist jetzt glücklicher als er. Der stolze Gesichtsausdruck, die leuchtenden Augen. Halfdan sieht seinen jüngeren Bruder an und verspürt ein tiefes Gefühl der Zärtlichkeit für ihn, er weiß nur zu gut, dass er hier nicht stehen würde, wenn es Hjalmar nicht gäbe.

Betsys Brief

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