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Hans Bonn, 21. März 1847

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»Halfdan, Halfdan!«

Hjalmars Ruf ertönt aus dem Schlafzimmer. In jähem Erschrecken zuckt Hans zusammen, der Bleistift rutscht über das Papier und hinterlässt einen langen Strich. Er springt auf, stößt dabei den Stuhl um und eilt zu Hjalmar hinein, der im Bett sitzt, nach Luft ringt und verängstigt umherblickt.

»Hab ich geträumt? Hans, war das ein Traum? Sag, dass ich nicht geträumt habe!«

»Aber nein. Beruhige dich, Hjalmar.«

»Wo ist Halfdan? Er war doch eben noch hier. Wo ist er?«

Hjalmar krallt sich an Hans’ Arm fest, schüttelt ihn, wie um die Antwort aus ihm herauszuzwingen.

»Leg dich wieder hin, Hjalmar. Alles ist in Ordnung. Dein Bruder ist hier, er ist nur schnell zur Apotheke gelaufen. Er ist schon bald wieder zurück.«

Hjalmars Gesicht ist ängstlich verzerrt, sein Blick ist fieberglänzend. Der Kopfkissenbezug muss gewechselt werden, er ist ganz feucht und gelblich verfärbt, Hjalmar hatte wohl wieder einen dieser Schweißausbrüche.

»Jetzt trink etwas.«

Zitternd leert Hjalmar das Wasserglas.

»Bist du sicher, dass Halfdan zurückkommt, Hans? Das sagst du doch wohl nicht nur so?«

»Ganz sicher. Ich bleibe jetzt ein Weilchen bei dir sitzen.«

Hjalmar legt sich zurück und wirkt beruhigt. Draußen hat der Wind wieder aufgefrischt. Heulend streicht er durchs Zimmer. Es herrscht Durchzug. Hans schließt das Fenster und befestigt den Haken.

»Was für ein Tag ist heute?«

»Mittwoch.«

»Ist er gestern gekommen?«

»Ja, er ist gestern Mittag angekommen.«

Hans war an der Tür stehen geblieben und hatte Halfdans unsichere Schritte in Hjalmars Zimmer hinein beobachtet. Einen Augenblick hatte es so ausgesehen, als wollte Halfdan nicht weitergehen, ein paar Sekunden stand er nur da und nahm das halbdunkle Schlafzimmer in sich auf. Die Vorhänge waren zugezogen, und die Luft war wie üblich feucht und stickig. Hans war ja an den Anblick gewöhnt, nun aber blickte Halfdan in das spärlich möblierte Zimmer, eine Kommode aus Walnussholz mit einer Waschschüssel, Garderobenhaken mit Kleidung. Ein Nachttisch mit einem in die Jahre gekommenen Flickenteppich auf dem Boden davor. Ganz hinten an der Wand das schmale Eisenbett. Hjalmars Gesicht zur Wand gedreht, von der Tür aus war nur sein schwarzes Haar auf dem weißen Kopfkissen erkennbar. Erst als sich der ältere Bruder auf die Bettkante setzte, drehte sich Hjalmar verwundert um, so als könnte er gar nicht glauben, dass Halfdan wirklich gekommen war.

Hans hatte still dagestanden und zugesehen, wie Hjalmar dem Bruder die schmalen Hände entgegenstreckte, eine langsame Bewegung. Stumme Tränen.

Halfdan zog ein weiches Päckchen hervor, das mit einem Bindfaden verschnürt war. Das Seidenpapier war zerdrückt und hatte an der Ecke einen Riss. Mit zitternden Händen öffnete Hjalmar das Geschenk. Es war eine gehäkelte Decke aus weißer Wolle.

»Die ist von Mutter«, sagte Halfdan leise. »Den ganzen Winter über hat sie daran gearbeitet, erst kurz bevor ich losfuhr, wurde sie fertig.«

Hjalmar hielt sich die Decke dicht vors Gesicht und schloss die Augen.

Nach einer Weile hatte sich Hans an den Tisch in der Stube gesetzt, die beiden Brüder führten im Schlafzimmer eine leise Unterhaltung. Er hörte, wie Hjalmar nach der Mutter und den Brüdern fragte, und Halfdan erzählte, die Mutter leide unter der Situation, sei aber tapfer. Sie habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich Hjalmar im Laufe des Frühlings erholen würde, sie vermisse ihn ganz schrecklich, aber das wisse er ja wohl, so oft, wie sie ihm geschrieben habe. Nun jedoch erfreue sich die Mutter an dem Gedanken, dass Halfdan bei ihm sei. Zwar plage sie die Gicht, doch darüber hinaus sei sie bei guter Gesundheit und habe die Umwälzungen überraschend gefasst ertragen. Obwohl erst wenige Monate vergangen seien, erscheine es ihnen doch so, als wären sie schon vor langer Zeit aus Bakkehus fortgezogen. In gewisser Weise hätten sich alle an die Wohnung in der Sverdfegergate gewöhnt, das Wohnzimmer sei hell und angenehm. Aber natürlich sei das kein Ort, an dem man Besuch empfangen könne, im Allgemeinen hätten sie viel weniger gesellschaftlichen Umgang als zuvor. Hans hatte Hjalmar seufzen hören, ein paar Mal hatte er wiederholt, er könne sich gar nicht an den Gedanken gewöhnen, dass die Mutter und die Brüder nun in einer kümmerlichen Wohnung in Christiania lebten.

Halfdan hatte erwidert, er solle sich keine Gedanken machen, das Einzige, woran ihnen nun gelegen sei, das sei er, Hjalmar. Alles andere seien nur Bagatellen. Dann hatte er Grüße von den Brüdern ausgerichtet. Axel, der Jurist war, habe endlich eine Anstellung gefunden, es gehe ihm gut. Theodor habe die letzten Prüfungen mit Bravour bestanden und sei nun dabei, eine geologische Feldarbeit vorzubereiten. Die Mutter freue sich darauf, ihn bald in fester Stellung zu wissen, so müsse sie ihn nicht mehr durchfüttern. Ja, überhaupt sei sie froh, dass Theodor das Elternhaus bald verlassen würde. Noch dazu sei er gerade sehr verliebt, was das Zusammenleben mit ihm nicht einfacher mache. Hans hatte Hjalmar fragen hören, ob die Auserwählte noch immer Agnes Anker sei, was der ältere Bruder mit einem kurzen, etwas gequälten Lachen bestätigen konnte.

Hjalmar hat seine Hand noch nicht wieder losgelassen, er hat die Augen geschlossen, schläft aber nicht. Dann plötzlich dreht er sich um und sieht ihn an.

»Du musst jetzt fahren, Hans.«

»Wovon redest du?«

Hjalmar blickt ihn an, insistierend.

»Ich meine, dass du nach Düsseldorf zurückfahren sollst, jetzt, nachdem Halfdan gekommen ist.«

Wegfahren? Hjalmar verlassen? Durchaus ist ihm der Gedanke schon einmal gekommen, aber bis jetzt hat er es kaum für möglich gehalten. Und dennoch begreift er, dass der Drang zu reisen schon eine Weile zu spüren ist, er ihm aber nicht nachzugeben wagte. Die Monate sind vergangen, ohne dass er arbeiten konnte, vielleicht war das Opfer doch größer als zunächst vermutet.

Als er in der Frühe die Kirchenglocken hörte und das Morgengrauen durch die Vorhänge dringen sah, hatte es sich angefühlt, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Den Diwan hatte er Halfdan überlassen, der von der Reise erschöpft war. Er selbst hatte mit einer alte Rosshaarmatratze vorlieb genommen, die er aus dem Kämmerchen im Flur geholt hatte. Nachdem sie das Essen bereitet und Hjalmar die Medizin verabreicht hatten, wollte Halfdan sich hinlegen, und so hatten sie sich auf ein frühes Zubettgehen geeinigt. Dagegen hatte Hans nichts einzuwenden.

Als er die Kerzen im Halter über dem Klavier ausblies und alles dunkel wurde, erschien es ihm zunächst wie eine Erleichterung. Doch die hielt nicht lange an. Die Matratze hatte er in die andere Ecke des Zimmers gelegt, so weit weg wie möglich, und ganz nah an das Klavier herangeschoben. Dennoch spürte er Halfdans Anwesenheit so deutlich, dass es ihn schauderte. Schon bevor Halfdan angekommen war, hatte Hans sich gegen eine offene Konfrontation entschieden, angesichts von Hjalmars Zustand wäre das schlichtweg unwürdig gewesen. Aber nach Halfdans Dolchstoß spürt er noch immer den Schmerz.

Jäh und unerklärlich hatte Halfdan ihn verraten. Zu Beginn des Winters hatte er Halfdan einen Brief geschrieben, in dem er ihm anvertraute, dass er Betsy liebte, dass er einzig an sie denken konnte, dass er noch niemals so für einen Menschen empfunden hatte und dass sogar die Kunst begann, ihre Bedeutung für ihn zu verlieren. Er hatte Halfdan erzählt, dass er den General um ihre Hand bitten wolle, was immer auch geschehen möge, dass er jedoch Hilfe brauchte. Könnte Halfdan nicht vielleicht für Hans ein gutes Wort bei ihrer Familie einlegen?

Hans glaubte hören zu können, wie Halfdan dort drüben in der Dunkelheit die Augen zusammenkniff, schluckte, schmatzte, winzige Geräusche, die verrieten, dass auch er nicht schlafen konnte. Im Laufe der Nacht mussten sie drei Mal zu Hjalmar hinein, er brauchte sie, gegen Mitternacht war der Husten ganz schrecklich, doch glücklicherweise sank das Fieber im Morgengrauen. In den Ruhepausen lag er da und starrte ins Nichts, versuchte, die Gefühle zu sortieren. Liebste Betsy. Wo war sie jetzt wohl? Lag sie womöglich auch wach? Hans wälzte sich auf der harten Matratze, sah Betsys Lächeln vor sich, die zarte Gestalt, so voller Leben, den wachen und strahlenden Blick, so als wollte sie sich nichts entgehen lassen. Plötzlich war ihm, als könnte er ihr klingendes Lachen hören. Er stand im Dunkeln auf und schämte sich. Lachte sie ihn etwa aus?

Als Halfdan ihn im Stich gelassen und seine Liebesträume zerstört hatte, konnte er nichts anderes tun, als Betsy selbst zu schreiben und ihr zu sagen, dass er sie liebte wie noch nie zuvor ein Mann eine Frau geliebt hatte. Er konnte sie nicht einfach aufgeben, musste zunächst in Erfahrung bringen, was sie für ihn empfand.

Schon längst musste sie seinen Brief erhalten haben. Vielleicht hatte sie ihm schon eine Antwort geschickt? Gut möglich, dass ein Brief schon mit der Post auf dem Weg war. Fast gelang es ihm, zur Ruhe zu kommen. Doch dann hörte er das Knirschen des Diwans und Halfdan, der sich die Nase schnäuzte. So ging es dann die ganze Nacht. Die erste Nacht mit Halfdan.

Hjalmars dünne Finger umklammern sein Handgelenk.

»Du musst da weitermachen, wo du aufgehört hast, Hans. Du hast schon zu viel wertvolle Zeit vergeudet. Nur meinetwegen hast du so viel geopfert.«

»Ich habe die Wahl getroffen, die getroffen werden musste.«

Hjalmar antwortet nicht.

Wahl, wie gut das klingt. Aber wohl kaum zutreffend für die Situation. Die Wahrheit ist, dass er keine Alternative hatte. Er schuldete Hjalmar so viel. Und das hier war sein kaum hinreichender Beitrag zur Wiedergutmachung. Der Freund hatte Hilfe und Pflege benötigt.

Als er im Herbst angekommen war, ahnte er nicht, was ihn erwarten würde. Wie krank, verzweifelt und einsam Hjalmar war und wie schnell sich die Krankheit in die falsche Richtung entwickelte.

Als sich der erste Schock gelegt hatte, kam eins zum anderen. Plötzlich war er so involviert, dass nicht die Rede davon sein konnte, wie geplant nach Düsseldorf zu fahren. Kurz danach war die Nachricht eingetroffen, auf die er gewartet hatte, nun musste er Ritter und Schirmer mitteilen, dass er nicht zurückkommen könnte. Dass er gezwungen war, sich von dem ganzen Projekt zurückzuziehen, dem gewonnenen Wettbewerb, einem prestigeträchtigen Auftrag, der die Ausschmückung eines Rathaussaals beinhaltete. Als er den Brief schrieb, konnte er die ungläubigen Blicke seiner beiden Professoren förmlich vor sich sehen. Wie würde sich die Neuigkeit an der Akademie herumsprechen? Hans Gude stünde nicht zur Verfügung. Gerüchte würden sich verbreiten über den jungen norwegischen Kunststudenten, der sich wider besseres Wissen eine unfassbare Chance entgehen ließ. Wegen eines kranken Freundes. Das Ganze musste einen ordentlichen Wirbel verursacht haben, sie mussten glauben, er sei verrückt geworden.

Drei Wochen nachdem er zu Hjalmar gekommen war, hatte er seine Absage geschickt. Er hatte Hjalmars Blick gespürt, als er den Brief eilig in den Umschlag steckte und versiegelte. Hjalmar hatte er gesagt, er müsse nur schnell etwas erledigen. Er wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, es nur hinter sich bringen, zum Postamt laufen und den Brief abschicken. Hjalmar fragte nicht nach, doch Hans hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass er den Inhalt kannte. Als er kurz danach wieder nach Hause kam, war Hjalmar wach. Danke, sagte er nur. Nie wieder wurde darüber gesprochen.

Eine Weile hat Hans in Gedanken versunken neben Hjalmar gesessen, der wohl von Fieberfantasien geplagt wird. Doch da räuspert sich Hjalmar und blickt ihn an.

»Ich bitte dich, Hans.«

»Was?«

»Hörst du nicht? Ich bitte dich abzureisen. Fahr los! Ich kann nicht noch mehr deiner Zeit auf dem Gewissen haben.«

Er wirkt fast zornig. Wo nimmt er nur die Kräfte her?

»Seit November hast du keinen Pinsel mehr angerührt. Du hast doch eine Zukunft, Hans. Und mit jeder weiteren Woche verspielst du nur noch mehr deiner Möglichkeiten. Du bist dabei, dir einen Namen zu machen. Zerstör dich nicht selbst.«

Das Leben in Düsseldorf, das ganze Milieu an der Akademie, das alles ist in die Ferne gerückt. Zu Beginn kamen noch Briefe von Kommilitonen, Grüße und Sympathiebekundungen. Er und Hjalmar würden vermisst, Hjalmar solle doch bald wieder gesund werden.

Im Laufe des Winters wurde es still. In jedem Jahr strömen neue talentierte Künstler aus ganz Europa nach Düsseldorf, jung und voller Hoffnung. Ritter und Schirmer haben sich sicher schon neue Favoriten erkoren.

Es sieht aus, als sei Hjalmar wieder eingeschlafen. Um ihn nicht zu wecken, befreit Hans sich vorsichtig aus seinem Griff und legt Hjalmars Arm auf die Decke zurück.

Er setzt sich an den Tisch am Fenster, holt die Geldkassette hervor und zählt den Inhalt noch einmal durch. Das ist schnell getan. Er ist fast mittellos, und wenngleich sein Vater Verständnis aufgebracht hätte, wollte er doch so lange wie möglich warten, bevor er schriftlich um Geld bat. Ohne andere Einkünfte war der großzügige Beitrag des Vaters nie dazu gedacht gewesen, bis zum Sommer auszureichen, geplant war doch, dass er selbst etwas verdienen sollte. Dazu allerdings hatte es keine Gelegenheit gegeben, und diese Wohnung kostete auch mehr, als sie sich streng genommen leisten konnten, doch sie teilen sich ja alle Ausgaben, und eine andere Wahl hatten sie nicht. Noch wesentlich ärmlicher konnten sie einfach nicht wohnen. Das kleine Zimmer, das sie sich bis kurz vor Weihnachten geteilt hatten, war unerträglich, sogar seine eigene Gesundheit wurde in Mitleidenschaft gezogen. Als sie kündigten und dann hier bei Frau Hoffmann einzogen, schien es Hjalmar mit einem Mal besser zu gehen, immerhin heiterte sich seine Stimmung auf, was für sie beide alles viel einfacher machte.

Hans blickt auf den Fluss hinaus, der im grauen Regen vor dem Fenster dahinfließt. Er sieht Betsy vor sich, ihren schlanken Nacken, das kleine Silberkreuz, das sich in ihrem Halsgrübchen ständig verdreht. Ohne viel nachzudenken, nimmt er einen Bleistift und ein leeres Blatt aus der Schublade, zeichnet schnell eine Skizze, sein Herz pocht, als ihre Gestalt langsam Form annimmt. Das anmutige Gesicht mit den geröteten Wangen, der straffe Rücken. Tausend Mal hat er sie gezeichnet. Beim ersten Mal hatte er sie kaum zwei Tage gekannt, sie saß vor einem großen Weihnachtsbaum, hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt und sah ihn an, ihre grünen Augen funkelten, und er hatte Angst, dass seine Hände zu zittern anfingen. Jetzt kann er sie blind zeichnen. Geliebte Betsy, wie könnte er nur die Zeit schneller vergehen lassen, bis sie sich endlich wiedersehen?

Der Regen strömt an den Scheiben herab. Die Wolken haben sich tief über die Hausdächer gelegt. Ein weiterer feuchtkalter Tag in Bonn, nur die kleinen Knospen an den Bäumen erinnern daran, dass es auf den Frühling zugeht.

Mitunter haben sich diese Räume fast wie ein Gefängnis angefühlt, das muss er zugeben. Oft hat er hier gesessen und hinausgeblickt, so wie jetzt, auf das Leben, das sich in der Stadt abspielt und von dem er abgeschnitten ist, die Menschen, die zu jeder Tageszeit vorbeilaufen, die früh morgens umhereilenden Dienstmädchen, das junge Paar, das immer Arm in Arm spaziert, die Jungen, die etwas weiter oben in der Straße einem Ball nachjagen. Er hat die Schiffe unten auf dem Fluss beobachtet und erkennt inzwischen einige wieder. An den Nachmittagen hat er hier gedankenverloren gesessen und die erstaunlichen Formationen beobachtet, die die Vogelschwärme am rosa Himmel bilden. Es ist ihm ein stiller Trost gewesen, das Leben auf diese Weise zu betrachten. Ja, abgesehen von dem einen Tag in der letzten Woche, als er einen Mann sah, der unten am Flussufer eine Staffelei aufbaute. Da hatte er ihn gespürt, einen fast körperlichen Schmerz, und langsam wurde ihm klar, worauf er alles verzichtete, was ihn dieser Winter gekostet hatte. Eine ganze Ewigkeit in völliger künstlerischer Isolation. Damit kam die Angst, denn die Frage lautete, wie viel Schaden schon angerichtet war. Ob er sich jemals davon erholen könnte? Er, der so große Ambitionen hegte, er, der nach einer Weile sogar so viel Selbstvertrauen entwickelt hatte, dass er tatsächlich glaubte, was über ihn gesagt wurde. Dass er einer der Wenigen sei, dass er eine echte Begabung habe. Der Vater würde noch stolzer auf ihn sein, falls das überhaupt möglich war. Und das Wichtigste: Er würde sich eine Existenzgrundlage schaffen, eine Basis für Ehe und Familienleben. Eine Zukunft mit Betsy, darum ging es. So hatte er seit dem letzten Sommer gedacht, aber jetzt ist er sich nicht mehr sicher. Wenn Halfdan recht behält, wenn er sich ein zu hohes Ziel gesteckt hat und niemals die Zustimmung von General Anker erhält, wird ihn das zerbrechen.

Das schlechte Gewissen trifft ihn wie ein Faustschlag. Dort drinnen liegt Hjalmar und weiß genau, dass er nie wieder einen Bleistift halten oder Farben auf einer Palette anmischen wird.

Aber eine Freundschaft verpflichtet doch? Schon vor dem Weihnachtsfest war Hjalmar völlig hilflos, und nur die Götter wissen, wie er solch einen Winter allein überstanden hätte. Wie oft hat Hans wohl Doktor Rittershausen geholt, wie oft war er in der Apotheke, hat Sachen in die Wäscherei gebracht, hat Hjalmar beim Essen oder Ankleiden geholfen, hat ihn gepflegt und zur Toilette begleitet? Niemals hätte er sich vorstellen können, einem anderen Menschen einmal so nahe zu kommen. Dabei hatte es ihm zu Beginn durchaus etwas ausgemacht, und auch Hjalmar schämte sich und wollte lange Zeit alles allein machen.

Aber es ging nicht, das begriffen beide. Und schon bald musste er Hjalmar bei den alltäglichsten Verrichtungen zur Hand gehen. Auch den Kontakt mit den Lieben in der Heimat konnte Hjalmar nicht aufrechterhalten, in den vergangenen Monaten schaffte er es nicht einmal mehr, einen Brief zu schreiben. Dabei bereitete ihm das Briefeschreiben als solches eigentlich kaum Probleme. Mit ein wenig Hilfe konnte er aufrecht sitzen, auf die Kissen des Diwans gestützt, mit einem Tablett als Unterlage für das Briefpapier. Aber gefühlsmäßig war es zu schwierig, jedes Mal, wenn er zu schreiben versuchte, wurde er von solch einem Heimweh übermannt, dass er kaum mehr als ein paar Zeilen formulieren konnte, beim letzten Versuch gingen die Tränen in einen gewaltigen Hustenanfall über, sodass Hans gezwungen war, den Doktor zu holen, obwohl draußen ein schreckliches Schneegestöber herrschte und er kaum die Hand vor Augen sah, als er durch die Stadt eilte.

Hans blickt im Zimmer umher. Die Leinwände stehen zusammengerollt und eingestaubt in der Ecke. Er kann sich kaum erinnern, woran er gearbeitet hat, als alles plötzlich anders wurde. Alle Vorarbeiten und Skizzen liegen in der Mappe und warten auf ihn, er hatte geglaubt, mit den meisten Arbeiten zu dieser Zeit schon längst fertig zu sein, aber er hat sie nicht einmal angesehen, seit er sie vor einem halben Jahr in Christiania zusammenpackte.

Halfdans Nachtmütze liegt auf dem Diwan. Ein grauweißer Baumwollstoff, ursprünglich wohl ein Kleidungsstück von bester Qualität, ganz bestimmt, doch mittlerweile hat sich an der Seite der Saum gelöst, ein ausgefranster Faden steht hervor. Die Filzpantoffel hat Halfan ordentlich unter den Diwan gestellt.

Unten auf der Straße sind schnelle Schritte zu hören. Er lehnt sich ans Fenster, blickt auf einen schwarzen Regenschirm hinunter und erkennt die Schuhe wieder.

Halfdan bleibt stehen und schließt den Schirm, der von einem Windstoß fortgerissen zu werden droht. Er zieht den Schlüssel hervor und betritt das Haus.

Hjalmar möchte also, dass er fährt und alles Halfdan überlässt.

Erleichterung. Ist es das, was er verspürt? Hat Hjalmar ihm eine Fahrkarte überreicht, die den Weg aus dem Elend weist?

Vielleicht ist es ja ohnehin richtig, dass die beiden Brüder diese Zeit allein miteinander verbringen. Vielleicht wünscht sich Halfdan das auch. Doch das lässt sich so einfach nicht sagen. Bis vor Kurzem war Halfdan jemand, dem er vertraute, ein enger Freund. Jetzt weiß er schlichweg nicht mehr, was er von ihm halten soll.

Halfdans Schritte sind auf der Treppe zu hören, Hans beeilt sich, die Zeichnung von Betsy in die Schublade zu legen, und noch bevor die Türklinke langsam heruntergedrückt wird, ist die Entscheidung zur Abreise getroffen.

Betsys Brief

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