Читать книгу Und so was nennt ihr Liebe - Marie Louise Fischer - Страница 4

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»Angeklagter, stehen Sie auf, wenn ich mit Ihnen rede!« donnert der Staatsanwalt.

Jürgen Molitor erhebt sich langsam, mit deutlichem Widerstreben. Er spürt, daß die Blicke aller Anwesenden im großen Schwurgerichtssaal des Düsseldorfer Landgerichtes sich an ihm festsaugen, aber es macht ihm nichts mehr aus. Die Zeiten sind vorbei, da er rot wurde, sobald ihn jemand aufs Korn nahm.

Mein Junge, denkt Gisela Molitor, mein armer, großer, dummer Junge! – Und hastig steckt sie ihr tränenfeuchtes Spitzentaschentuch zwischen die Lippen, verbeißt sich darin, um das Schluchzen, das in ihr aufsteigt, zu unterdrükken. Nur durch einen Schleier sieht sie ihn, den schlaksigen, hochaufgeschossenen jungen Mann in dem braven dunkelblauen Anzug, zu dem ihm der Verteidiger geraten hat, in dem weißen, am Hals offenen Hemd. Warum schaut er mich denn nicht an? fragt sie sich verzweifelt. Bin ich denn nicht mehr seine Mutter, daß er mich nicht anschaut?!

Aber Jürgen Molitor sieht niemanden an, weder seine Mutter noch seinen Vater, seine Schwester, seinen Klassenlehrer oder Senta Heinze, das Mädchen, das er liebt. Dennoch ist er sich mit jeder Faser bewußt, daß sie alle auf der Zeugenbank sitzen, daß er sich vor jedem einzelnen von ihnen verantworten muß, vor allem vor den Eltern von Gerd Singer, der sein Opfer wurde.

»Angeklagter«, sagt der Staatsanwalt, durch dessen offensichtlichen Mangel an Respekt gereizt, »ich habe den Eindruck, daß Sie die Bemühungen des Gerichtes als Belästigung empfinden!« Jürgen wirft sich mit einem heftigen Ruck eine blonde Strähne aus der Stirn. »Ich finde das viele Gerede verdammt unnötig, wenn Sie es genau wissen wollen«, platzt er heraus. »Ich habe Gerd Singer erschossen, ich gebe es ja zu. Was verlangen Sie denn noch weiter? Ich möchte wirklich wissen, wozu die ganze blöde Fragerei noch nötig ist!«

Martina, seine Schwester, schlägt sich die Hand vor den Mund, um nicht hysterisch loszukichern – ausgerechnet im Strafprozeß, bei dem es um Kopf und Kragen ihres einzigen Bruders geht! Nein, daran ist wirklich nichts Komisches, sie braucht sich nur vorzustellen, daß Gerd, der reiche, verwöhnte, sorglose Gerd, seit Monaten unter der Erde liegt. Sie senkt den Kopf, daß ihr blondes, schulterlanges Haar wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fällt. Das sieht diesem Bengel wieder mal ähnlich, denkt sie, gibt freche Antworten, statt sich mit dem Richter gutzustellen. Dämlicher kann er’s wohl nicht mehr anstellen.

»Sie scheinen den Ernst der Situation immer noch nicht begriffen zu haben«, braust der Staatsanwalt auf, »ich bitte mir einen anderen Ton aus, wenn Sie mit mir sprechen!«

Der Angeklagte zuckt die Achseln, seine Lippen sind weiß und schmal wie ein Strich. Er macht eine Bewegung, als wenn er die Hände in die Hosentaschen stecken wollte, unterläßt es dann aber. Die Ärmel seines dunkelblauen Anzuges und seines weißen Hemdes sind ihm ein ganzes Stück zu kurz, seine kräftigen Handgelenke ragen daraus hervor.

Mein Sohn, denkt Helmuth Molitor, das ist nun mein einziger Sohn, dieser verstockte, trotzige Junge. War denn alles umsonst? Was habe ich denn nicht alles getan, damit ihm so etwas erspart bliebe. Er sollte es besser haben als ich, nicht die Schwierigkeiten durchmachen, die ich hatte. Ich wollte nicht, daß er erfährt, wie hart und gemein das Leben ist. Hatte er nicht alles, was er sich wünschte? Und geht trotzdem hin und macht solche Sachen – ruiniert sein ganzes Leben und unseres dazu? Was hat ihn nur dazu gebracht? Ich kann es nicht begreifen. Ich werde es niemals begreifen. Es muß wohl doch an der Zeit liegen, denkt er, es ist ihm zu gut gegangen, das wird es wohl sein. Und er zupft mit nervösen Bewegungen die messerscharfe Bügelfalte seiner Hose zurecht.

Der Verteidiger hat sich halb zu dem Angeklagten umgewandt. »Entschuldigen Sie sich! Aber sofort!« flüstert er ihm zu. »Hier können Sie keine Lippe riskieren!«

»Entschuldigen Sie, bitte, Herr Staatsanwalt«, sagt der Angeklagte, aber es klingt eher verächtlich als reuevoll.

»Moment bitte!« Der Richter unterbricht die Vernehmung durch den Staatsanwalt. »Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, mein Junge«, sagt er in beherrschtem, fast väterlichem Ton. »Sie haben einen Menschen getötet. Das ist kein Spiel mehr und kein Spaß. Sie können nicht von uns erwarten, daß wir das auf die leichte Schulter nehmen. Sie haben einen jungen, hoffnungsvollen Menschen getötet! Können oder wollen Sie nicht begreifen, was das bedeutet?«

»Und ob!« stößt Jürgen hervor. »Erschießen Sie mal Ihren besten Freund, dann werden Sie wissen, wie einem danach zumute ist!«

»Es tut Ihnen also leid? Sie bereuen Ihre Tat?«

Die Hände des Jungen krampfen sich um die Anklagebank, seine Knöchel werden weiß, seine Nasenflügel beben. »Du lieber Himmel«, preßt er hervor.

»Was heißt das?« fragt der Richter. »Ich muß Sie doch bitten, sich so auszudrücken, daß wir alle hier …«, und er macht eine Geste, die seine beiden Nebenrichter und alle Anwesenden mit einschließt, »daß wir alle hier Sie verstehen können!«

Diese Juristen! denkt Dr. Georg Opitz, Jürgens ehemaliger Klassenlehrer, und streicht sich mit der Hand über Wangen und Kinn. Begreifen sie denn gar nichts!? Sie halten sich für immens gescheit und merken nicht einmal, daß der Junge vollkommen fertig ist! Er ist am Ende. Am liebsten würde er vor Verzweiflung heulen, wenn er sich nur getrauen würde. Kann man denn so mit Blindheit gegenüber den Jungen geschlagen sein? War ich es auch, solange Jürgen noch in meiner Klasse saß? Ihm und auch seinen Kameraden gegenüber?

Der Richter klopft mit dem Kugelschreiber auf den Tisch. »Wir warten auf Ihre Erklärung, Angeklagter!«

»Was hilft es denn, wenn ich es bereue«, sagt Jürgen Molitor mühsam, »davon wird Gerd doch nicht mehr lebendig. Es ist geschehen, daran läßt sich nichts ändern!«

Der Richter lehnt sich zurück, schlägt die Arme übereinander, überläßt dem Staatsanwalt das Wort. Der kann sich eine gewisse Ironie nicht verkneifen. »Sie irren sich, wenn Sie glauben, wir sind hier zusammengekommen, um die Toten aufzuerwecken«, sagt er, »es geht bei diesem Prozeß um Sie, Angeklagter, um eine Beurteilung und Bewertung Ihrer Tat. Sie haben also allen Grund, uns bei der Rechtsfindung zu unterstützen.«

Jürgen sieht vom Richter zum Staatsanwalt und schweigt.

»Sie haben nicht nur getötet«, fährt der Staatsanwalt unerbittlich fort, »Sie haben auch den Menschen, die Ihnen am nächsten standen und stehen, schweres Leid zugefügt!«

Jetzt, zum ersten Mal, gleiten Jürgens Augen ab, zur Zeugenbank hinüber, begegnen Senta Heinzes Blick – nur für den Bruchteil einer Sekunde – außer den beiden jungen Menschen merkt es niemand.

Das Mädchen versucht alles in ihren Blick zu legen, was sie ihm geben möchte: Ermutigung, Zuspruch, Kraft, Verständnis. Unwillkürlich drückt sie beide Daumen, hebt die fest geschlossenen Fäuste vor die Brust.

Dann ist es schon vorbei, er hat sich wieder abgewandt, seine Augen sind weiter gewandert, zu Gerds Eltern hin, die sehr gerade dasitzen, hoch aufgerichtet, fast starr, und in ihrer Bewegungslosigkeit wie Schaufensterpuppen wirken. Sie lehnen sich nicht an, sind darauf bedacht, daß der Abstand zwischen ihnen gewahrt bleibt.

»Reue allein«, sagt der Staatsanwalt, »nutzt wenig, da haben Sie vollkommen recht. Was wir alle hier von Ihnen erwarten, ist ehrliche Einsicht!«

Ich hätte es verhindern müssen, denkt Senta Heinze, ich hätte mich mehr um ihn kümmern, ich hätte ihm Halt geben müssen! Aber hätte ich es gekonnt? Egal, wenn ich es überhaupt nur versucht hätte! Die bräunliche Haut über ihren hochstehenden Backenknochen strafft sich, ihre schwarzen, schräg stehenden Augen sind ganz schmal vor Erregung.

»Ich habe gestanden, was wollen Sie denn noch von mir?« fährt Jürgen heftig auf.

Aber der Staatsanwalt läßt sich nicht beirren. Als er sieht, wie es in diesem weißen, verzerrten Gesicht zuckt, stößt er nach: »Wann haben Sie die Tat zum ersten Mal geplant! Antworten Sie!«

»Geplant?« wiederholt der Junge gedehnt. »Überhaupt nicht. Wie kommen Sie denn darauf? Sie wissen doch genau, daß ich es niemals vorhatte.«

»Es ist bewiesen, daß Sie lange zuvor den Revolver aus dem Schreibtisch Ihres Vaters entwendet haben! Geben Sie nur zu, daß Sie es mit der vollen Absicht taten, Ihren Klassenkameraden zu töten!«

»Nein!« Jürgen Molitor schreit es heraus. »Nein! Das ist nicht wahr!«

Der Staatsanwalt beugt sich vor. »Warum haben Sie es getan? Warum? Seit zwei Tagen verhören wir jeden Menschen, der Sie und Ihr Opfer gekannt hat! Keiner hat uns ein einigermaßen plausibles Motiv für diese furchtbare Tat angeben können! Jetzt wollen wir es von Ihnen wissen! Warum haben Sie den jungen Mann getötet, den Sie selber Ihren besten Freund genannt haben?«

Die Stille im Gerichtssaal wird atemlos, alle warten auf die entscheidende Antwort. Aber sie kommt nicht.

»Wenn ich das wüßte«, sagt Jürgen tonlos und schlägt die geballten Fäuste gegeneinander, »wenn ich das nur wüßte! Ich kann mich nicht erinnern. Nur, daß er lachte … er lachte mich durch einen roten Nebel an! Und ich zielte, zog den Hahn durch. Es gab einen Knall. Dann lachte er nicht mehr. Sein Gesicht wurde ganz erstaunt. Er preßte die Hände auf den Magen. Und dann fiel er um.«

»Sie geben also zu, daß Sie auf ihn gezielt haben?«

»Ja«, sagt Jürgen Molitor leise, »ja, das habe ich. Ich wollte ihn töten. Ich … ich konnte sein Lachen nicht mehr ertragen.« – Er schlägt die Hände vor das Gesicht, senkt den Kopf, die blonden Haare fallen ihm in die Stirn, sein Körper bebt.

Der Verteidiger springt auf. »Ich beantrage, den psychiatrischen Sachverständigen anzuhören!« Und als er merkt, daß Richter und Staatsanwalt noch zögern, fügt er in einem kollegialen und gleichzeitig beschwörenden Ton hinzu: »So kommen wir doch nicht weiter!«

Nach kurzem Wortwechsel wird seinem Antrag stattgegeben. Der Psychiater, Prof. Dr. Josef Goldmann, wird hereingerufen. Er tritt ein, einen blauen Aktenhefter in der Hand. Er verbeugt sich leicht.

»Hohes Gericht«, beginnt er, »bevor ich mein Gutachten abgebe, möchte ich vorausschicken, daß der Angeklagte Jürgen Molitor während seiner Untersuchungshaft über einen Monat lang in meiner Klinik zur psychiatrischen und psychologischen Untersuchung stationär war und daß ich mich während dieser Wochen täglich mit ihm beschäftigt habe. Ich glaube zu wissen, was in ihm vorgeht, was in ihm vorging, als er die Tat beging.«

Professor Goldmann macht eine kleine Pause, schlägt den Aktenhefter auf, blättert darin. »Zuerst stand auch ich vor einem Rätsel. Ein junger Gymnasiast hat einen anderen Menschen getötet, anscheinend kaltblütig niedergeschossen. Dabei handelt es sich bei dem Täter keineswegs um einen Jungen aus asozialen oder zerrütteten Familienverhältnissen, nein, seine Familie ist intakt, eine ganz normale mitteleuropäische Durchschnittsfamilie. Der Vater hat es durch Fleiß und Strebsamkeit dahin gebracht, seinen Angehörigen einen gewissen Wohlstand zu schaffen. Die Mutter hat, noch bevor der heutige Angeklagte zur Welt kam, ihren beruflichen Ehrgeiz aufgegeben und seitdem nur für ihren Mann und ihre Kinder gelebt. Eine ideale Familie also, möchte es fast scheinen. Auch anlagemäßig ist der jugendliche Täter vollkommen normal, der Grad seiner Intelligenz entspricht seinem Alter, wenn auch eine gewisse Konzentrationsschwäche bemerkbar ist. Zweifellos befindet er sich körperlich und seelisch noch in dem schwierigen Stadium der Pubertät. Aber nichts deutet auf ein gestörtes Triebleben, nichts auch auf krankhafte Veranlagung. Ist er also für seine Tat voll verantwortlich zu machen?« Professor Goldmann legt eine kleine Pause ein, schlägt den Aktendeckel zu, den Zeigefinger zwischen zwei Seiten, sieht die Richter nacheinander durch die Gläser seiner randlosen Brille an. »Ja, und auch wieder nein. Eines steht fest, selbst wenn wir diese Frage bejahen, so können und dürfen wir ihm die Verantwortung auf keinen Fall allein zuschieben. Es stimmt, er hat in einer entscheidenden Situation seines Lebens versagt. Aber dazu wäre es niemals gekommen, wenn nicht seine Umwelt, wir alle, am meisten aber die Menschen, die ihm am nächsten standen, ebenfalls versagt hätten, denn nur so konnte es passieren, daß der jugendliche Täter in diese für ihn nicht mehr selbstverantwortlich zu bewältigende Situation geriet.«

Er wendet sich dem Staatsanwalt zu, sagt kampfbereit: »Es ist falsch, das Motiv der Tat in einer Auseinandersetzung zwischen Jürgen Molitor und seinem Opfer zu suchen, in Rivalität, Eifersucht, einem jäh entflammten Streit, Reibereien irgendwelcher Art, nein, die Ursachen zur Tat liegen tiefer und … ganz woanders.«

Und so was nennt ihr Liebe

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