Читать книгу Und so was nennt ihr Liebe - Marie Louise Fischer - Страница 9
5.
ОглавлениеEs war noch taghell, als Jürgen gegen sieben Uhr mit Senta auf dem Brehmplatz vor dem Appartementhaus stand, in dem James Mann wohnte.
»Im fünften Stock?« fragte Jürgen.
»Ja«, sagte sie, »aber ich finde, du solltest nicht hinaufgehen!« Jürgen genoß ihre Angst und fühlte sich überlegen. »Warum hast du es mir dann überhaupt erzählt?« fragte er obenhin.
»Das weißt du. Du solltest mit Martina reden, ihr klarmachen … wenn ich irgend jemand anderen gewußt hätte, der das tun könnte, hätte ich mich nicht an dich gewandt!«
Jürgen wurde steif. »Sehr schmeichelhaft!«
»Nun sei doch nicht gleich beleidigt«, sagte Senta verzweifelt, »so habe ich es doch nicht gemeint! Nur, euren Eltern konnte ich es doch schließlich nicht sagen und meinen auch nicht. Sollte ich etwa zulassen, daß sie in ihr Unglück rennt?«
»Da hast du es«, sagte Jürgen würdevoll, »also werde ich die Sache in die Hand nehmen. Du wartest hier …«
»Bitte, Jürgen, soll ich nicht besser mitkommen?«
»Wozu?«
»Um … ich weiß selber nicht. Aber ich bin ganz sicher, es wäre besser …! Glaubst du nicht, Jürgen! Ich habe sonst das Gefühl, daß ich dich aufgehetzt hätte, während ich selber …«
»Quatsch«, sagte er grob, »du bleibst hier!« Er riß sich los und schritt auf den Hauseingang zu.
Sie lief hinter ihm her. »Was willst du denn überhaupt sagen?«
»Höchst einfach: daß er seine Finger von meiner Schwester lassen soll.«
Sie seufzte. »Ich fürchte, daß wir das Ganze verkehrt anpacken. Es ist Martina, die wir überzeugen müßten. Schließlich ist sie ja freiwillig …«
Eine Frau kam aus dem Haus.
Jürgen hielt die Tür offen, drückte sich nach ihr hinein, stieg in den Lift, fuhr nach oben. Es war ihm durchaus nicht so wohl zumute, wie er Senta gegenüber vorgegeben hatte.
Noch im Aufzug öffnete er seine Schultasche, nahm die Waffe heraus, die mächtige Armeepistole, die er sich unter einem Vorwand von Gerd geliehen hatte. Er vergewisserte sich, daß der Sicherungshebel vorlag. Als er den Kolben der Pistole umklammerte, fühlte er sich plötzlich sehr stark, unüberwindlich wie der Held eines Westerns.
Der Lift hielt. Er fand die richtige Wohnungstür, klingelte einmal, zweimal und dann, als sich immer noch nichts rührte, ließ er den Daumen auf der Klingel.
Plötzlich wurde die Türe aufgerissen. »Verdammt noch mal, was soll denn das?!« fluchte der Mann. Er stand da, das wellige Haar zerzaust, nur in Hemd und Hose, ohne Strümpfe und Pantoffeln. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen«, sagte Jürgen, froh, daß es ihm gelang, seiner Stimme Festigkeit zu geben.
Die Pistole hielt er in der Jacke verborgen. Er drängte sich in die Wohnung. Der Mann wich unwillkürlich zurück.
Hinter ihm tauchte Martina auf, in einen viel zu großen seidenen Hausmantel gehüllt, dessen Ärmel sie hochgerollt hatte. Ihr Lippenstift war verschmiert. Auch sie war barfuß.
Jürgen errötete bei ihrem Anblick.
»Na so was«, sagte Martina, »mein Bruder!«
»Ja«, sagte Jürgen und zwang sich, den Blick auf den Mann zu richten, »ich bin der Bruder. Und ich verlange von Ihnen, daß Sie meine Schwester in Ruhe lassen, haben Sie mich verstanden?!«
»Moment mal! Mit welchem Recht kommen Sie hier herein?«
Jürgen stieß die Türe mit dem Fuß hinter sich zu, zückte die Pistole. »Genügt Ihnen das?« fragte er. »Oder soll ich Ihnen eine Kugel in den Bauch schießen? Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß ich Spaß mache … ich schieße wirklich. – Also, was ist?«
Die Wirkung, die Jürgen erwartet hatte, blieb aus. Weder James Mann noch Martina zeigten auch nur das geringste Erschrecken. »O Boy, du hast sie wohl nicht alle«, sagte Martina lediglich.
James Mann rieb gelassen seine nackten Füße aneinander. »Moment, junger Mann, lassen Sie mich erst mal meine Strümpfe anziehen!«
Er drehte sich um, schob Martina vor sich her in den Wohnraum. Jürgen folgte ihnen dicht auf den Fersen, die Pistole krampfhaft umklammert. Tatsächlich wußte er nicht, was er jetzt tun sollte. Seine Drohung wahrmachen? Schießen? Das würde den beiden schon Respekt einflößen. Aber dieser elende Playboy hatte ihm den Rücken zugewandt. Er konnte ihn doch nicht gut von hinten niederknallen. Wo blieb denn da seine Vorstellung von Ehre? Wenn er einen ungezielten Schuß in den Fußboden oder in die Decke abgeben würde? Auch das wäre sicher wirkungsvoll, würde aber die Nachbarn alarmieren, und die Einmischung von Fremden, womöglich der Polizei, konnte er im Moment am wenigsten brauchen.
Martinas Freund bückte sich unbekümmert, angelte eine lavendelfarbene Socke unter der zerwühlten Couch hervor, richtete sich auf und drehte sich gleichzeitig sachte zu Jürgen um. »Machen Sie sich’s doch bequem«, sagte er und zeigte mit einem falschen Lächeln seine unwahrscheinlich weißen und ebenmäßigen Zähne, »übrigens, ich glaube, wir haben uns einander noch nicht vorgestellt … ich bin James Mann!«
Er hielt Jürgen die rechte Hand hin – in der linken hielt er die Socke.
Jürgens Verwirrung wuchs. Sekundenlang wußte er überhaupt nicht, was er tun sollte. James Mann wirklich die Hand geben? Dann hätte er die Waffe in die andere Hand nehmen müssen, in der er aber schon seine Schulmappe hatte. Außerdem durfte er nicht vergessen, daß er dem Verführer seiner Schwester gegenüberstand. Er holte aus, um ihm mit der Pistole einen Schlag auf die Finger zu geben.
Aber der Ältere war schneller. Er packte Jürgens Handgelenk, preßte es so schmerzhaft und mit so unerwarteter Kraft, daß der Junge aufschrie und die Waffe fallen ließ. Ehe er sich fassen konnte, hatte der Mann sie aufgehoben, betrachtete sie aus schmalen Augen.
»Geben Sie her!« schrie Jürgen, außer sich vor Zorn und Scham.
»Na, na, na«, sagte der Mann, »nur nicht frech werden, Kleiner!«
Er wog die Pistole in der Hand. »Nettes Spielzeug … gehört sie dir?«
Jürgen schwieg, biß sich auf die Unterlippe.
»’raus mit der Sprache! Ich habe dich etwas gefragt!«
»Sie haben kein Recht …«
»Ach, wirklich nicht? Du bildest dir also wirklich ein, du könntest hier hereintoben und mich bedrohen, und ich müßte mir das so ohne weiteres gefallen lassen? Ich muß schon sagen, das sind ganz reizende Ideen, die dein kleiner Bruder da entwickelt, Martina! Ob er damit die Polizei überzeugen kann?«
»Keine Polizei, James«, mischte sich Martina hastig ein, »bitte nicht!«
»Laß dir doch nichts weismachen!« rief Jürgen – er rieb sich noch immer sein schmerzendes Gelenk, »er denkt ja gar nicht daran, die Polizei hineinzuziehen, darauf kann er es nicht ankommen lassen!«
James Mann trat ganz dicht an ihn heran. »So, und warum nicht, du kleiner Klugscheißer?«
»Weil Sie meine Schwester …« Jürgen schluckte, er war unfähig, den Tatbestand auszusprechen.
»Na wenn schon!« sagte James Mann verächtlich. »Ich habe nicht die entfernteste Absicht, das zu leugnen. Ich habe ihr keine Gewalt angetan. Martina ist sechzehn. Also, was soll’s?« Plötzlich verdunkelten sich seine Augen, er wandte sich Martina zu.
»Oder … hast du mich etwa angelogen!?«
»Nein, James, ich bin sechzehn.« Sie begann nervös zu kramen.
Jürgen konnte es nicht länger mit ansehen. »Sie ist sechzehn«, gab er mit spröder Stimme zu.
»Na also … was bildest du dir dann ein, hätte ich zu befürchten? Dich wird man schnappen, mein Lieber, eine saftige Jugendstrafe … so zwei, drei Jahre Erziehungsanstalt. Hausfriedensbruch, tätliche Bedrohung, das sind schon nicht mehr so ganz kleine Fische.« Der Mann machte eine wohlüberlegte Pause, um diesen Gedankengang erst einmal auf Jürgen wirken zu lassen, öffnete das Magazin der Pistole, ließ die Patronen in die offene Hand rollen. »Wie haben wir es jetzt?« fragte er. »Soll ich die Funkstreife rufen … oder wollen wir uns nicht doch lieber friedlich einigen?«
»Lassen Sie meine Schwester in Ruhe!«
James Mann grinste. »Nur keine Bange, ich tu ihr nichts, was sie nicht selber will. Die kann sich schon wehren, die braucht niemanden, der für sie den edlen Ritter spielt. Ich frage zum letzten Mal … woher hast du die Pistole?«
»Geliehen.«
James Mann klopfte sich ungeduldig mit dem Lauf auf die Hand. »Los, los, weiter! Einzelheiten …«
»Von einem Freund«, gestand Jürgen widerwillig, »aber er weiß nicht, wozu ich sie wollte. Sie gehört seinem Vater, der war Offizier im letzten Weltkrieg.«
»Hochinteressant. Nun paß mal auf: bestell deinem Freund einen schönen Gruß von mir und sag ihm, daß er die Pistole bei mir abholen kann. Abends zwischen sieben und acht bin ich fast immer zu Hause.«
Jürgens empfindsames Gesicht wurde ganz blaß. »Nein«, stieß er hervor, »nein, das werde ich nicht tun!«
»Und warum nicht?«
»Er hat Angst vor der Blamage«, erklärte Martina.
»Es wäre dir wohl lieber, ich würde die Polizei anrufen?«
»Ja«, sagte Jürgen, »ja, viel lieber!«
James Mann sah ihn kopfschüttelnd an. »Du bist schon ein sonderbarer Heiliger. Irgendwo muß bei dir eine Schraube locker sein.« Er strich sich selbstgefällig über seine hübschen Koteletten. »Na, dann wollen wir mal Gnade vor Recht ergehen lassen.« Er reichte ihm die entladene Pistole. »Nimm das Ding und verschwinde.«
Jürgen riß ihm die Waffe aus der Hand, rannte ohne ein weiteres Wort zur Türe.
»Laß dir das eine Lehre sein«, rief James Mann ihm nach, »oder mach nur weiter solche Sachen, dann kommst du bald in Teufels Küche!«
Jürgen raste die Treppe hinunter, als ob er verfolgt würde. Unten angekommen, war er völlig atemlos – doch mehr von dem überstandenen Schrecken, der ihm immer noch in den Knochen saß. Sein Magen krampfte sich zusammen, ihm war so schlecht, daß er glaubte, sich übergeben zu müssen.
Er riß die Haustüre auf, hoffte, die frische Luft würde ihm guttun. Erst als er Senta gegenüberstand, fiel ihm ein, daß sie die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte.
»Jürgen!« rief sie. »Mein Gott! Was habe ich für Angst gehabt!«
»Versteh’ ich nicht«, erwiderte er mit unnatürlicher Stimme, »was konnte da schon passieren!«
In diesem Augenblick entdeckte sie die Waffe, die er noch immer offen in der Hand hielt. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Ihre schrägen Augen schimmerten schwarz wie Achat.
»Du hast doch nicht …?« rief sie entsetzt.
»Ach, woher denn …«
»Eine Pistole! Wie konntest du nur! Wenn ich das gewußt hätte!«
»Was dann?«
»Ich hätte dich nie und nimmer hinaufgehen lassen!«
»Bildest du dir etwa ein, du hättest mir etwas zu sagen?« erwiderte er grob und verstaute die Waffe in seiner Mappe.
»Ist bestimmt nichts passiert?«
»Wenn du mir nicht glaubst, da, riech am Lauf. Riecht das, als wenn ein Schuß daraus abgegeben worden wäre?« Er hielt ihr die Waffe unter die Nase, steckte sie dann endgültig weg. »Außerdem ist sie überhaupt nicht geladen.«
»Aber dann …«
So sehr er in das Mädchen auch verliebt sein mochte, er war jetzt einfach fertig mit den Nerven, den Tränen so nahe, wie seit Jahren nicht mehr. Er hatte nur den einen Wunsch, niemandem Rede und Antwort zu stehen, endlich allein zu sein. »Ich wollte dem Heini einen Schrecken einjagen, verdammt noch mal, ist das denn so schwer zu kapieren?«
»Natürlich nicht«, sagte sie so sanft, wie man zu einem Verrückten spricht, »aber … ist dir das gelungen?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Die habe ich ganz schön fertiggemacht«, protzte er.
»Die?« fragte Senta erschrocken, »war Martina etwa da?«
»Ja, ja, ja«, brüllte er, »und jetzt laß mich endlich in Ruhe mit deinen blöden Fragen!« Er drehte sich um und stürmte mit großen Schritten davon.
Aber sie ließ sich nicht abschütteln, sondern folgte ihm, obwohl sie fast laufen mußte, blieb schweigend und bewachend an seiner Seite. Sie ahnte zwar nicht, was geschehen war, nur soviel, daß Jürgen völlig durcheinander war und sie ihn auf keinen Fall in dieser Stimmung sich selbst überlassen durfte …
Oben, in dem Junggesellenappartement, stand Martina vor dem großen Spiegel im Bad und erneuerte ihr Make-up. James Mann, hinter ihr, war dabei, sein dunkelbraunes Haar mit zwei Bürsten wieder in Form zu bringen.
»Toller Knabe, dein Bruder«, höhnte er, »ich hoffe nur, du hast nicht mehr von dieser Sorte!«
»Nö.« Martina zog sich andachtsvoll die Lippen nach. »Jürgen ist der einzige.«
»Selten blöd von dir, von unserer kleinen Liaison zu Hause zu erzählen!«
Sie fuhr herum. »Unsinn, ich habe kein Wort davon erwähnt!«
»Dann möchte ich wissen, woher er es erfahren hat!«
Martina war ganz in den Spiegel vertieft. »Sicher hat er mir nachspioniert. Der hat manchmal so Anwandlungen.«
James Mann legte die Bürsten aus der Hand, fuhr sich mit dem befeuchteten Zeigefinger über die Augenbrauen. »Klingt nicht sehr glaubhaft.«
»Oder eine Freundin von mir hat es ihm gesteckt.«
Kurz blitzte es in den schläfrigen Augen des jungen Mannes auf, dann fragte er mit betonter Gleichgültigkeit: »Die Schwarze? Ist die so?«
Martina bürstete den Puder von ihrem Gesicht. »Neidisch wie verrückt.«
»Dann schick sie doch mal her.«
Sie ließ ihr Puderbürstchen sinken, ihre Augen suchten im Spiegel den Blick des Mannes. »Das könnte dir so passen«, entschlüpfte es ihr.
Er tat harmlos. »Aber wenn du doch selber sagst …«
»Ich weiß, daß dir Senta von Anfang an gefallen hat. Aber sie kann dich nicht riechen, daß du es nur weißt. Sie nennt dich einen Playboy und was nicht sonst noch alles.«
Er lächelte mit schmalen Lippen. »Hört sich interessant an. Ich glaube, ich muß mich unbedingt mal mit der jungen Dame befassen.«
»Untersteh dich!«
Er legte seine Hände auf ihre Schultern, drehte sie zu sich herum. »Eifersüchtig?«
»Gar nicht. Ich will nur nicht … würde es dir denn passen, wenn ich mit einem deiner Freunde flirten würde?«
»Warum nicht? …«
Sie ließ ihn nicht aussprechen. »Du bist gemein!« schrie sie, »oh, so gemein!« Sie trommelte mit beiden Fäusten gegen seine Brust.
Er ließ es geschehen, ohne sich zu rühren. »Sieh mal an«, sagte er, »du kannst ja sogar Temperament entwickeln.«
»Warum bist du nur so?« rief sie mit trähenerstickter Stimme. »Dabei solltest du wissen, wie sehr ich dich liebe! Oder bin ich dir schon lästig? Aber ich kann nicht anders, ich finde dich einfach wundervoll! Wie du das eben mit Jürgen gemacht hast! Ich dachte, das Herz bliebe mir stehen und du … es war unwahrscheinlich!«
»Da hast du ihn erlebt«, sagte er, »den Unterschied zwischen einem Mann und einem grünen Jungen. Sei nur schön brav, daß ich dich nicht wieder zurück zu deinen Boys in den Kindergarten schicke, hörst du?« Er lächelte, während er sprach, aber seine Augen beobachteten sie lauernd.
»Ich tue ja alles«, flüsterte sie.
Martina hatte ihren kleinen runden Spiegel vor sich auf den weißen Schleiflackschreibtisch gestellt und war mit voller Hingabe mit ihrem Make-up beschäftigt, als Jürgen am nächsten Tag zu ihr ins Zimmer trat.
Sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu, ließ sich aber nicht weiter vom Spiegel ablenken. »Raus«, zischte sie ihn an, »was fällt dir eigentlich ein? Du hast hier überhaupt nichts zu suchen.«
Aber so leicht war ihr Bruder nicht abzuschütteln. Er kam unbeeindruckt näher. »Martina«, begann er.
»Um Himmels willen, stoß nicht an den Tisch. Oder willst du, daß ich mein ganzes Make-up verwackele?« Sie hatte sich die blonde Haarfülle mit einem Frottéband aus der Stirn gebändigt.
»Martina, ich muß mit dir sprechen.«
»Na also, dann tu’s schon. Aber bleib mir vom Leibe und blas mir nicht deinen Atem ausgerechnet ins Gesicht …«
Er setzte sich auf einen mit buntem Kreton überzogenen Hocker, ließ die Hände hängen und beobachtete sie schweigend.
Das konnte sie nicht lange aushalten. Sie begann nervös zu werden. Ihre Hand verlor die Sicherheit. »O Boy«, rief sie wütend, »jetzt bin ich ausgerutscht! So eine Schweinerei! Daran bist du schuld!«
Er ließ sie toben.
»Wenn du gekommen bist, um dich zu entschuldigen«, rief sie, »dann tu’s doch endlich. Dazu brauchst du nicht stundenlang hier herumzusitzen und mich anzustarren!«
»Entschuldigen … wofür?« fragte er und verstand sie tatsächlich nicht.
»Als wenn du das nicht wüßtest! Stell dich nicht noch dümmer als du bist! Aber wenn es dich erleichtert …« Sie drehte sich zu ihm um und zeigte sich sehr gönnerhaft. »Du wirst staunen: ich habe dir bereits verziehen. Du siehst, ich trage dir nichts nach. Aber nun hau ab, ich habe Besseres zu tun.«
Ihr Mißverstehen war so eklatant, daß es ihm die Sprache verschlug, und er errötete. Sie waren seit dem Vorfall in der Wohnung dieses James Mann nicht mehr allein gewesen, und er hatte angenommen, daß sie sich zutiefst vor ihm schämen müsse.
»Du willst doch nicht etwa trotzdem wieder zu ihm«, fragte er und mußte sich räuspern, weil seine Stimme keinen Klang hatte.
»Und wenn?« gab sie frech zurück. »Geht dich das was an?«
»Doch, Martina«, sagte er, »dieser Bursche, er ist … er ist wirklich nicht wert, daß du …« – Es war furchtbar schwer für ihn. Er hatte Senta versprochen, möglichst taktvoll vorzugehen, und gerade das machte ihm Martina so schwer.
Sie fühlte sich ihm mächtig überlegen. »Bist du sicher, daß du das beurteilen kannst?« fragte sie zuckersüß.
»Ein Mann in seinem Alter, der sich ausgerechnet mit einem sechzehnjährigen Mädchen einläßt …«
»Mit mir!« fiel Martina ihm ins Wort. »Ich bin nicht irgendeine! Ich bin das Mädchen, das er sein Leben lang gesucht hat!«
»Sagt er das?« fragte Jürgen. »Oder bildest du dir das ein?«
Jetzt war es an ihr, unsicher zu werden, denn sie hatte das ausgesprochen, was sie zu hören wünschte, nicht, was sie wirklich zu hören bekam. »Wenn du mir nicht glaubst«, erwiderte sie trotzig, »dann hat es überhaupt keinen Zweck, daß wir uns unterhalten.«
»Warum holt er dich nicht von zu Hause ab?« fragte Jürgen hartnäckig weiter. »Warum stellt er sich nicht den Eltern vor …«
»Weil er kein Spießer ist!« entgegnete sie prompt.
»Quatsch«, sagte Jürgen, »hör doch auf, dir selber was vorzumachen. Du bist bloß ein Spielzeug für ihn, er nutzt dich aus, und eines Tages wird er dich wegwerfen.«
»Da irrst du dich aber gewaltig!«
»Bestimmt nicht. Ich habe den Burschen auf den ersten Blick durchschaut. Eine ganz miese Type. Ich verstehe nicht, wie du auf so etwas hereinfallen konntest.«
»Dafür weiß ich um so besser, warum du ihn nicht leiden kannst! Weil er dir ganz schön heimgeleuchtet hat …! Deshalb hast du eine Wut auf ihn!«
Er verlor die Geduld, stand auf. »Ach was, ich weiß nicht, warum ich mir das überhaupt anhöre. Ich habe es nur noch einmal im guten versuchen wollen. Wenn du nicht auf mich hören willst, muß ich es eben den Eltern sagen.«
Sie fuhr herum, starrte ihn an. »Was willst du?«
»Tu nicht so, als wenn du mich nicht verstanden hättest!«
»Du willst mich verklatschen?«
»Martina«, sagte er, »wir sind doch keine Kinder mehr. Das, was du da treibst, ist kein harmloses Spiel. Ich fühle mich für dich verantwortlich!«
»Na schön, wenn du es so siehst, bitte.« Sie wandte sich wieder ihrem Spiegel zu, fuhr mit der Quaste in die Puderschachtel und bestäubte sich reichlich das Gesicht. »Tu, was du nicht lassen kannst. Aber dann sehe ich mich leider veranlaßt, deiner heißgeliebten Senta die Wahrheit zu sagen. Sie weiß noch nicht, was du James gegenüber für eine klägliche Figur abgegeben hast. Aber, bitte, jetzt wird sie es erfahren. Und beklage dich bloß nicht. Du bist das Tratschweib, nicht ich!«
Sie stäubte sich den überschüssigen Puder vom Gesicht, tat so, als wenn sie an Jürgens Reaktion überhaupt nicht mehr interessiert wäre. Aber sie verschob ihren Spiegel so, daß sie ihn beobachten konnte, und als er wortlos das Zimmer verließ, atmete sie auf. Sie war ganz sicher, daß er den Mund halten würde, in seinem ureigensten Interesse.