Читать книгу Kinderstation - Marie Louise Fischer - Страница 4
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ОглавлениеSie waren alle in heiterster Stimmung. Auf der Terrasse schaukelten die bunten Lampions wie leuchtende Bälle im Nachtwind. Lachen und Musikfetzen klangen zu dem Mann am Brunnen herüber.
Die Fröhlichste von allen war Regine. Unermüdlich flatterte sie zwischen ihren Gästen hin und her. Ihr korallenrotes Kleid hob sich von den pastellfarbenen Roben der anderen Frauen ab. Ihr dunkles Lachen klang wie ein melodisches Glockenspiel.
Präg es dir ein, sprach Dr. Arno Vogel zu sich selbst. Vergiß es nie, alter Junge! Dies ist eine glückliche Stunde, eine deiner vielen glücklichen Stunden, seit du mit Regine verheiratet bist. Sei dankbar, genieße es!
Er hockte, in einiger Entfernung von den anderen, auf dem Brunnenrand und rauchte seine Pfeife. Er war nicht allein.
Neben ihm, in einem Korbsessel, saß sein Schwiegervater Professor Paul Böhninger. Hier war es so dunkel, daß sie sich kaum sehen konnten.
Es war schön, Regine und ihre Gäste von weitem zu betrachten, und es war angenehm, nicht mitmachen zu müssen.
Plötzlich wurde Arno Vogel sich dieser Distanzierung mit einem kleinen Schuldgefühl bewußt. Hatte Regine nicht ein Recht darauf, ihn, den Hausherrn an ihrer Seite zu haben? Gerade an diesem Abend, bei ihrer lang vorbereiteten, heiß ersehnten »Garden Party«?
»Ich glaube, ich sollte doch lieber …«, sagte er zögernd.
Professor Böhninger begriff sofort. »Mach dir nichts draus«, sagte er munter, »Regine hat ja gewußt, daß sie keinen Salonlöwen heiratet.«
»Stimmt auch wieder.« Arno Vogel warf seinem Schwiegervater einen dankbaren Blick zu. Es schien ihm, als wenn der alte Herr in der Dunkelheit lächelte.
Sie tranken sich zu und spürten, wie gut sie sich verstanden.
Der laue Wind, der die Haut wie mit zärtlichem Streicheln berührte, die bunten Lichter, die fröhlichen Stimmen, Gläserklirren, Gelächter und Musik … bedeutungslose Kleinigkeiten. Aber sie machten den Chefarzt Dr. Arno Vogel fast trunken vor Glück.
Er besaß alles, was ein Mann sich nur wünschen kann, und er war sich seines Erfolges bewußt.
Als Regine über den Rasen auf ihn zugewirbelt kam, war er erfüllt von der Heftigkeit und Zärtlichkeit seiner Liebe.
Regine hatte die Pumps abgestreift. Ihr duftiger Rock gab im Laufen die schmalen braunen Knie frei, ihre Füße schienen den Rasen kaum zu berühren.
»Nicht zu glauben!« sagte Professor Böhninger.
Dr. Arno Vogel verstand auch ohne weitere Erklärung, was sein Schwiegervater meinte. Regine wirkte rührend jung. Niemand hätte ihr, wie sie da langbeinig und anmutig über den Rasen rannte, auch nur einen Tag mehr gegeben als achtzehn Jahre. Tatsächlich war sie heute fünfundzwanzig Jahre geworden, sie, die Mutter einer vierjährigen Tochter.
Er stand auf, bevor sie bei ihm war. Er hätte sie gern in die Arme genommen, tat es aber nicht, weil er wußte, daß sie Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht liebte.
»Na, was gibt’s?« fragte er. Seine Stimme klang rauh von der Anstrengung, seine Gefühle unterdrücken zu müssen.
»Ein Anruf für dich, Arno. Aus der Klinik!«
»Danke, Regine … entschuldige mich einen Augenblick, Papa!« Dr. Arno Vogel klopfte seine Pfeife aus, ging mit großen Schritten, doch ohne Hast, zum Haus hinüber.
Ein Anruf aus der Klinik hatte für ihn nichts Alarmierendes. Er liebte es, ständig in enger Verbindung zum Krankenhaus und zu seinen kleinen Patienten zu stehen. Ärzte und Pflegepersonal scheuten sich nicht, ihn bei jeder auftretenden Schwierigkeit zu Rate zu ziehen.
Dennoch ging er jetzt die bedrohlichen Fälle seiner kleinen Patienten durch und versuchte herauszubekommen, bei wem es wohl zu einer Störung oder gar einer Krisis gekommen sein konnte.
Bei dem kleinen Peter mit dem Brechdurchfall?
Der zwölfjährigen Lisa, die vor zwei Tagen mit einer schweren Diphtherie eingeliefert worden war?
Oder sollte etwa Herbert wieder, eine Möglichkeit gefunden haben, sich seine Verbände abzureißen?
Dr. Arno Vogel nickte seinen Gästen, meist Kollegen und deren Frauen, beim Überqueren der Terrasse zu, trat durch das große Wohnzimmer in die Diele, nahm den Hörer auf, der neben dem Apparat auf dem Tischchen lag.
»Hallo?« sagte er. »Eichner? Entschuldigen Sie, wenn ich Sie habe warten lassen, aber Sie werden sich vorstellen können …« Er führte den Satz nicht zu Ende, fragte statt dessen: »Was gibt es?«
»Eine Erythroblastose, Herr Chefarzt. Ist heute aus der Frauenklinik zu uns gekommen.«
»Wie alt?«
»Zwanzig Stunden.«
Während er zuhörte, klopfte Dr. Vogel sich nachdenklich mit dem Pfeifenstiel gegen die Zähne. »Bilirubin?«
»Zwanzig Milligrammprozent«
»Dann müssen wir sofort etwas unternehmen. Ich komme gleich hinüber.«
»Jawohl, Herr Chefarzt …«
»Augenblick … sind Sie noch da? Ja? Haben Sie schon die Blutgruppe?«
»Null Rhesus-positiv.«
»Das Blut der Mutter?«
»Null rh-negativ.«
»Aha. Dann veranlassen Sie bitte sofort, daß uns die Blutspenderzentrale zwei Leute schickt, ja? Je schneller, desto besser!«
Arno Vogel hing auf. Er wandte sich zur Haustür.
»Mußt du fort?«
Erst jetzt sah er, daß Regine ihm nachgekommen war.
»Leider«, sagte er und sah sie zärtlich an, »ihr müßt ohne mich weiterfeiern.«
»Schade.«
»An mir verlierst du nicht viel, fürchte ich. Du weißt, ich bin ein miserabler Tänzer.«
»Trotzdem.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.
»Leb wohl!« sagte er.
»Tschau!« Strahlend schön, in einem Wirbel von leuchtend rotem Chiffon, stand sie eine Sekunde an der Schwelle. Dann war sie verschwunden.
Dr. Vogel öffnete die Haustür und trat auf die nächtliche Straße.
Die Kinderklinik lag jenseits des Parks, kaum drei Minuten von Dr. Vogels Haus entfernt, ein graues Sandsteingebäude. Es sah genauso aus wie die anderen Universitätskrankenhäuser, in deren Mitte es stand. Wie die andern roch es nach Linoleum, Bohnerwachs und Desinfektionsmittel. Die Gänge lagen jetzt, um Mitternacht, wie ausgestorben da, grau vom Nachtlicht beleuchtet.
Nur im Operationssaal brannten alle Lampen und erfüllten den Raum bis in den letzten Winkel mit ihrem kalten, grellen Licht. Schwester Marina sah auf, als Dr. Eichner eintrat. Er strich sich nervös über den Schnurrbart, sah sie fragend an, flackernde Unruhe in den dunklen, schräg geschnittenen Augen.
»Alles in Ordnung, Herr Doktor«, sagte Schwester Marina.
Vor ihr auf dem Tisch lag in einem Körbchen, links und rechts von Wärmflaschen umgeben, das Neugeborene und schlief mit seltsam verzogenem Gesicht. Die Gelbfärbung der Haut wurde im scharfen Licht besonders deutlich.
»Eine sehr unangenehme Sache!« Dr. Eichner räusperte sich. »Wirklich, sehr unangenehm.«
Schwester Marina schwieg, den Blick auf das schlafende Kind gerichtet.
Dr. Eichner sah auf seine goldene Armbanduhr. »Ich denke, ich werde …«, begann er. Aber dann brach er ab und sagte: »Sie wissen, was Sie zu tun haben, Schwester … lassen Sie das Kind keine Sekunde aus den Augen!«
Sie erwiderte nichts, blickte ihn nur an. Ihre gelassene Sicherheit steigerte seine Nervosität. Er wollte etwas sagen, schluckte, blieb stumm, wandte sich zur Tür.
»Herr Doktor …«
Dr. Eichner fuhr herum. »Ja?«
»Bitte sagen Sie dem Herrn Chefarzt, daß Schwester Hilde einen Kaffee für ihn gekocht hat. Er steht im Schwesternzimmer.«
Seine Augen verengten sich. »Ist das so wichtig?«
»Der Chefarzt übernimmt eine große Verantwortung.«
Seine Stimme überschlug sich. »Bilden Sie sich etwa ein, ich wäre nicht imstande, diese Blutaustausch-Transfusion allein dürchzuführen?«
Ihr Gesicht blieb bewegungslos. Sie schwieg.
Er holte tief Atem, sagte in verändertem Ton, lächelnd: »Bitte, seien Sie mir nicht böse, Schwester … ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Entschuldigen Sie!«
Und dann ging er rasch hinaus, zündete sich draußen auf dem Gang eine Zigarette an, rauchte gierig. Als er die Tür des Aufzuges hörte, lief er mit kleinen elastischen Schritten den Gang entlang. An der Ecke prallte er auf Dr. Vogel.
»Endlich!«
»Guten Abend, Kollege«, sagte der Chefarzt gelassen. »Sie sehen, ich bin sofort gekommen … ich habe mir nicht einmal Zeit genommen, mich umzuziehen. Gibt es Komplikationen?«
»Nein, bisher nicht. Der Zustand des Kindes ist unverändert.«
»Na also. Wir werden es schon schaffen«, sagte Dr. Vogel zuversichtlich. »Sind die Spender gekommen?«
»Auf dem Weg.«
»Übernehmen Sie das, bitte. Wir werden etwa achthundert Kubikzentimeter Blut brauchen, Sie wissen ja, wir müssen das gesamte Blut des Kindes austauschen. Geben Sie so bald wie möglich von jedem Spender ein Röhrchen Blut zur Kreuzprobe ins Labor. Das ist wichtig. Wo ist das Würmchen?«
»Herr Chefarzt«, platzte Dr. Eichner heraus, »es handelt sich nicht um ein gewöhnliches Kind!«
»Nicht?« Dr. Vogel hob fragend die dichten Augenbrauen.
»Sein Vater ist der Präsident des Landtages … Dr. Paul Hagemann.«
»Ich verstehe nicht …«
»Aber ich bitte Sie. Hagemann ist es doch, der sich Jahr für Jahr bemüht, unsere Subventionen durchzudrücken. Er ist unerhört wichtig für uns.«
Eichner warf seine Zigarette zu Boden, trat sie ungeduldig aus. »Ich kenne Hagemann persönlich. Aber was hat das mit der Krankheit des Kindes zu tun?«
Dr. Eichner starrte den Chefarzt verständnislos an.
»Machen Sie sich doch nicht verrückt, Kollege«, sagte Dr. Vogel. »Wer die Eltern unserer Patienten sind, kann uns doch ganz egal sein. Wir sind da, um die Kinder gesund zu machen, alle Kinder, verstehen Sie, alle … Was geht es uns denn an, ob der Vater für Subventionen zuständig ist oder für … Kartoffeln. Ich bitte Sie, Kollege, das spielt für uns doch gar keine Rolle. Aber wenn Sie schon so gut orientiert sind, dann erzählen Sie mir mal lieber etwas über die Krankengeschichte.«
»Ja, natürlich, gern«, sagte Dr. Eichner beflissen. »Im übrigen habe ich vergessen, Ihnen auszurichten, daß im Schwesternzimmer ein Kaffee auf Sie wartet.«
»Großartig. Kommen Sie mit.« Mit wenigen Schritten war Dr. Vogel an der Tür. »Guten Abend, Schwester Hilde«, sagte er, »ich hoffe, Sie haben auch noch eine Tasse für den Kollegen Eichner übrig.«
Schwester Hilde, blond und hellhäutig, errötete grundlos. »Natürlich, Herr Chefarzt, ich bin gerade fertig.« Sie nahm den Filter von der Kanne. »Es sind drei Tassen drin.« Sie begann mit geschickten Händen Tassen, Untertassen, Löffel und Zucker auf der Kunststoffplatte des Tisches zu verteilen.
Die beiden Ärzte zogen sich Stühle heran.
»Danke, Schwester«, sagte Dr. Vogel freundlich. Er wandte sich an Eichner, der sich eine Zigarette aus seinem Päckchen geklopft hatte. »Geben Sie mir bitte auch eine, Kollege. Sie wissen, ich bin zwar passionierter Pfeifenraucher, aber gerade jetzt …« Er zog sich eine Zigarette heraus. »Danke vielmals.«
Dr. Vogel nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. »Also … schießen Sie los!«
Schwester Hilde ging lautlos hinaus.
»Der Patient wurde neun Uhr fünfundvierzig aus der Frauenklinik bei uns eingeliefert. Es war aufgefallen, daß die Neugebörenen-Gelbsucht bereits nach zwölf Stunden, also wesentlich zu früh, eingetreten war. Außerdem wußte man, daß die Mutter rh-negativ ist …«
»Erstgeburt?«
»Nein. Hagemanns haben eine Tochter, sie ist jetzt zwei Jahre alt. Damals ging, soviel ich weiß, alles glatt.« Der Arzt legte eine kleine Kunstpause ein. »Diesmal mußte durch Kaiserschnitt entbunden werden. Dabei trat eine schwere Blutung auf. Evelyn Hagemann wird niemals mehr Kinder bekommen können, das Neugeborene ist ein Junge. Wenn es uns nicht gelingt, ihn durchzubringen …« Dr. Eichners Hand, welche die Zigarette hielt, zitterte leicht.
»Wie lautet der Befund?« fragte Dr. Vogel.
»Das Kind wog bei der Aufnahme dreitausendfünfhundert Gramm und hatte siebenunddreißig-zwei gemessen. Ich habe sofort untersucht. Leber und Milz sind erheblich vergrößert. Lunge und Herz ohne Befund. Der Icterus gravis war auffallend, inzwischen ist die Färbung übrigens noch gelber geworden.«
»Der Test?«
»Ist positiv ausgefallen. Bilirubin …«
»Das sagten Sie mir schon. Der Gallenfarbstoff ist auf zwanzig Milligrammprozent erhöht, wenn ich mich nicht irre.«
»Ganz richtig. Im gefärbten Blutausstrich fand sich eine große Anzahl von unreifen Blutkörperchen. Die Hämoglobin- und Erythrozytenwerte sind erheblich zu niedrig. Alle diese Faktoren zusammengenommen, schienen mir unbedingt auf eine Erythroblastose hinzuweisen.«
»Sie haben sehr umsichtig gehandelt. Ich bin auch überzeugt, daß Ihre Diagnose richtig ist. Trotzdem möchte ich mir den kleinen Patienten noch selber ansehen …«
»Es tut mir leid, daß ich Sie gerade heute belästigen mußte«, sagte Eichner.
»Sie haben keinen Grund, sich zu entschuldigen.« Dr. Vogel drückte die Zigarette aus und stand auf. »Also, dann wollen wir mal.« Das Wandtelefon klingelte. Er nahm den Hörer ab, meldete sich, lauschte. »In Ordnung«, sagte er dann, »führen Sie die beiden Herren gleich herauf.«
Er hängte ein und wandte sich an Dr. Eichner. »Die Blutspender sind gekommen. Das hat also geklappt.«
»Soll ich gleich … ?«
»Wäre schon gut. Machen Sie’s im Nebenraum. Ich werde Ihnen Schwester Hilde mit zwei Gefäßen zur Aufnahme des Blutes hinüberschicken.«
Während sie nebeneinander den Gang hinunterschritten, dachte Dr. Vogel an Regine. Ob sie ihn schon vermißte? Oder ob sie ihn schon vergessen hatte und sich der Fröhlichkeit der Stunde hingab?
Er ahnte es nicht. Er wußte überhaupt nur sehr wenig über ihr eigentliches Wesen. Darüber täuschte er sich nicht.
Unwillkürlich warf er einen Seitenblick auf Kurt Eichner, sah das sensible, hochmütige Profil, das lackschwarze Haar. Auch er hatte Regine geliebt oder sich doch jedenfalls um sie beworben. Aber er hatte nie eine Chance gehabt. Dachte er zuweilen noch an sie? Arno Vogel hatte plötzlich das Gefühl, dem anderen etwas Gutes sagen zu müssen. »Regine hat es übrigens sehr bedauert, daß Sie heute abend nicht dabei waren«, log er, »ich glaube, sie war richtig enttäuscht, als Ihre Absage kam.«
»Wirklich?« sagte der andere nur, und Dr. Vogel wußte nicht, ob Eichner die Lüge durchschaute oder ob er verbergen wollte, daß er sich geschmeichelt fühlte.
In dem Augenblick, als sie sich trennten und Dr. Vogel die Tür zum Operationssaal öffnete, war alles vergessen. Von einer Sekunde zur anderen gab es nur noch das kranke Kind für ihn, das seiner Hilfe bedurfte.
Schwester Marina saß bei dem Neugeborenen, Schwester Hilde hatte am Instrumentenschrank zu tun.
Dr. Vogel schickte die Hilfsschwester mit den Gefäßen zur Blutabnahme zu Eichner hinüber und sagte dann zu Schwester Marina: »Bitte, legen Sie das Kind hier auf den Tisch. Ich möchte es untersuchen.«
Er wusch sich gründlich die Hände, während die Schwester den kleinen Patienten auswickelte. Dann beugte sich Dr. Vogel über das Neugeborene, prüfte mit dem Stethoskop die Töne von Herz und Lunge. Die Auskultation ergab keinen Befund.
Er tastete den Bauch des Kindes ab. Sofort spürte er die starke Vergrößerung von Milz und Leber.
Die Untersuchung bestätigte ihm, was Eichner gesagt hatte. Nur ein vollkommener Blutaustausch konnte das Leben des Neugeborenen retten.
Chefarzt Dr. Vogel richtete sich auf. »Danke, Schwester. Treffen Sie bitte alle Vorbereitungen zum Blutaustausch.«
»Jawohl, Herr Chefarzt!«
Das Neugeborene lag auf dem Operationstisch, winzig, nackt und hilflos im kalten, weißen Licht, das keine Schatten duldete. Es hatte die blinden Augen geschlossen, saugte, wie sein Instinkt ihm eingab, an dem Schnuller, den Schwester Marina ihm in den Mund gesteckt hatte. Es war ein hübsches Kind mit einem auffallend wohlgeformten Kopf. Wenn nicht die erschreckend dunkelgelbe Färbung gewesen wäre, hätte man es für gesund halten können.
Schwester Marina mußte es immer wieder ansehen, während sie die Instrumente sterilisierte und auf einem mit sterilen Tüchern abgedeckten Tischchen bereitlegte. Es wirkte so verloren und ausgeliefert, noch nicht einen Tag alt und schon der Mutter entrissen. Statt Körpernähe mußten Wärmflaschen dazu dienen, es vor Auskühlung zu schützen.
»Es ist süß, nicht?« fragte Schwester Hilde, die am Kopfende des Tischchens stand und das Kind beobachtete. »Die arme Mutter … Ob sie es schon weiß?«
»Ich denke nicht.«
»Ehrlich, Marina … glauben Sie, daß es zu retten ist?«
»Ja«, sagte Schwester Marina ruhig.
»Es ist doch so klein, so … zerbrechlich, noch kaum ein Mensch.«
»Hilde … es ist ein Mensch, genau wie Sie und ich. Doktor Vogel wird es retten, ich bin ganz sicher. Wir haben schon Fälle gehabt, die noch schlimmer aussahen und doch gut ausgingen. Manchmal glaube ich …« Sie brach im Satz ab.
»Sie arbeiten schon lange mit ihm zusammen, nicht?« fragte Schwester Hilde. »Wie lange eigentlich?«
»Ein paar Jahre«, sagte Schwester Marina ausweichend.
»Dann müssen Sie doch auch wissen, ob es stimmt …«
»Was denn?«
»Daß ihm nie ein Kind stirbt.«
»Es gibt Fälle, wo keine Rettung möglich ist.« Schwester Marina sah ihre Kollegin ernst an. »Irgendwo setzt Gott auch dem besten Arzt eine Grenze.«
»Also stimmt es doch nicht. Warum haben aber alle Mütter so besonders viel Vertrauen zu ihm?«
»Sie müssen den Chefarzt bei der Arbeit sehen, dann wissen Sie es. Es kommt mir manchmal so vor, als wenn er seine ganze Kraft und seinen Willen auf das kranke Kind übertragen kann. Verstehen Sie?« Als wenn sie schon zuviel gesagt hätte, fügte sie hinzu. »Das klingt vielleicht übertrieben, aber …« Sie brach ab, denn die Tür wurde geöffnet.
Dr. Vogel trat ein, gefolgt von Dr. Eichner.
»Die Kreuzprobe ist in Ordnung«, sagte der Chefarzt, »wir können anfangen. Sind Sie soweit, Schwester?«
»Ja, Herr Chefarzt.«
Die beiden Ärzte traten in Hemdsärmeln zu dem großen Waschbecken, wuschen und desinfizierten sich. Danach schlüpfte Dr. Vogel in den Operationsmantel, den Schwester Marina ihm bereitgelegt hatte. Schwester Hilde kam, um ihn zuzubinden. Der Chefarzt trat zum Operationstisch. Behutsam deckte er das Kind mit sterilen Tüchern ab, so daß nur die Nabelgegend frei blieb.
Er zog die Gummihandschuhe an.
»Ich beginne jetzt mit dem Einführen des Katheters.«
»Ja, Herr Chefarzt.« Schwester Marinas Stimme verriet gespannte Konzentration. »Die Spritze mit Vetren und die Dreiwegehahnspritze sind vorbereitet.«
»Ich beginne.« Ohne hinzusehen nahm Dr. Vogel das schmale, schimmernde Skalpell, das Schwester Marina ihm reichte, schnitt mit einer einzigen raschen Bewegung ein Stückchen des Nabelschnurrestes ab.
Die Nabelblutgefäße wurden sichtbar.
Dr. Vogel nahm den Kunststoff-Katheter aus Schwester Marinas Hand, begann die Spritze behutsam in die Nabelvene einzuführen, schob sie tiefer und tiefer hinein. Er hielt erst inne, als ein dünner Blutstrahl aus dem Katheter schoß. Die Spritze war bis in die große Körpervene vorgedrungen.
»Vetren, bitte.«
Dr. Eichner reichte ihm die vorbereitete Spritze. »Hier, Herr Chefarzt.«
Dr. Vogel injizierte vier Kubikzentimeter der gerinnungshemmenden Flüssigkeit durch den Katheter in die Körpervene des Kindes, gab die leere Spritze Eichner zurück.
Schwester Marina reichte ihm das Anschlußstück der Dreiwegehahnspritze, Dr. Vogel schraubte es auf den Katheter. »Fangen Sie an, Schwester.«
Marina übernahm die Spritze, begann langsam Spenderblut in die Körpervene des kranken Kinder zu injizieren.
Dr. Vogel befestigte den Katheter mit Fäden. »Geben Sie her.« Er nahm Schwester Marina die Dreiwegehahnspritze ab. »Bereiten Sie Calcium vor.«
»Ich habe schon zwanzig Kubikzentimeter Spenderblut eingespritzt«, sagte Schwester Marina.
»Danke.« Dr. Vogel veränderte die Einstellung der Spritze, begann damit, aus der Körpervene des Kindes eine entsprechende Menge des kranken Blutes herauszuziehen, das in einem bereitgestellten Gefäß aufgefangen wurde.
Schwester Marina hatte die Calciumspritze aufgezogen, gab sie Dr. Eichner.
»Soll ich spritzen?« fragte der Arzt.
»Calcium? Ja, ich bitte.« Dr. Vogel wandte nicht für eine Sekunde den Blick ab.
Schwester Marina desinfizierte eine Stelle am Oberschenkel des Kindes. Eichner spritzte intramuskulär. Die Schwester desinfizierte wieder.
Dr. Vogel hatte die Dreiwegehahnspritze abermals umgestellt, ließ jetzt wieder Spenderblut in die große Körpervene des Neugeborenen laufen.
»Befinden des Patienten?« fragte er.
»Gut«, sagte Schwester Marina. »Atmung und Puls normal.«
Sie arbeiteten weiter, still, konzentriert, verbissen, der Chefarzt, Dr. Eichner und Schwester Marina. Hilde hatte den Operationssaal verlassen.
In kleinsten Mengen wurde das kranke Blut des Kindes mit dem der gesunden Spender ausgetauscht. Zweimal spritzte Dr. Eichner Calcium. Alle drei verloren sie das Gefühl für Zeit. Nur die steigende Menge des abgesaugten Blutes zeigte ihnen, daß sie sich ihrem Ziel näherten.
Schwester Marina hielt ihren Finger an das zarte Hämmerchen des Kinderpulses. 300 ccm Blut waren bereits ausgetauscht.
Da spürte sie plötzlich, wie der Puls zu flattern begann, zu ersterben drohte. Die Atmung war kaum noch zu spüren.
»Der Puls«, sagte sie, »die Atmung setzt aus.« Sie sprach mit ruhiger, kaum erhobener Stimme.
Dennoch wirkte es auf die Männer wie ein Alarmruf.
Mit einer raschen Bewegung entfernte Dr. Vogel das Abdecktuch vom Gesicht des Kleinen. Er sah, daß es sich bläulich zu verfärben begann.
»Lobelin«, sagte er, »schnell! Einen Kubikzentimeter und Sauerstoff!«
Mit zusammengepreßten Lippen sah er, wie die zyanotische Verfärbung des Kindes zunahm und der Atem aussetzte.
»Die Spritze!« Schwester Marina hielt sie in der Hand.
Dr. Vogel spritzte selber. Als das atemanregende Medikament in den Körper des Kindes rann, wartete er gespannt auf die Wirkung. Sie trat ein, sehr rasch. Aber ganz anders, als er erwartet hatte. Das Neugeborene wurde unruhig, der Körper zuckte, verkrampfte sich, wurde steif. Die Blaufärbung vertiefte sich.
Das kleine Herz blieb stehen.
Sie sahen sich an, voll Entsetzen, fassungslos.
Marinas Gesicht war kalkweiß geworden.
»Wir könnten es noch mit einer intracardialen Injektion versuchen.«
Dr. Vogels Stimme klang müde und ohne Überzeugungskraft.
Während er die Spritze in das Herz des Kindes stieß, wußte er, daß es nichts mehr nutzen würde. Das Kind war gestorben, ohne je seine Mutter, ohne je das Licht des Tages gesehen zu haben. Es war tot, unter seinen Händen dahingegangen. Er hatte eine Schlacht verloren.
»Unser Direktor, Professor Ramsauer, kommt ja erst Ende der Woche zurück«, hörte er Dr. Eichner wie aus weiter Ferne sagen. »Sie werden es selber Dr. Hagemann erklären müssen.«
»Das ist nun wirklich das wenigste.«
»Was sagen Sie? Ich für meinen Teil möchte nicht in Ihrer Haut stecken.«
Dr. Vogel antwortete nicht. Er stand bewegungslos da. Was ist hier geschehen … hat jemand von uns versagt? dachte er.
»Gute Nacht«, sagte Dr. Eichner. »Ich nehme an, daß ich nicht mehr gebraucht werde?«
»Gute Nacht, Herr Doktor«, sagte Schwester Marina gepreßt.
Die Schwester räumte die Instrumente fort. Sie stand mit dem Rücken zum Chefarzt. Ihre Schultern zuckten.
Dr. Vogel war sich kaum ihrer Anwesenheit bewußt. Er trat an das Tischchen, auf dem die Präparate gelegen hatten, sah die leere Ampulle. Sie war nicht gekennzeichnet, anscheinend einer Klinikpackung entnommen. Er hielt sie gegen das Licht, sie enthielt noch einen Rest durchsichtiger Flüssigkeit. Er drückte den Daumen auf die Öffnung der Ampulle.
Dann verließ er grußlos den Raum.