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Der Gerichtssaal war überfüllt.

Die Angeklagte Marina Overbeck in anthrazitgrauem Kostüm mit hochgeschlossener weißer Bluse machte selbstsicher ihre Aussage. Alle Fragen des Vorsitzenden und des Staatsanwalts beantwortete sie knapp, präzis und ohne Zögern. Sogar der Staatsanwalt schien vor ihr Respekt zu haben. Und Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm nickte ihr anerkennend zu, als sie sich wieder setzte.

Der erste Zeuge wurde aufgerufen: Dr. Kurt Eichner. Alle Köpfe drehten sich zur Tür. Dr. Eichner kam herein, korrekt in einen dunklen Anzug gekleidet, das schwarze Haar straff zurückgebürstet.

Der Richter begann mit dem Verhör, nachdem er ihn mit den Formalitäten der Prozeßordnung bekanntgemacht hatte. »Sie wissen, Herr Doktor Eichner, daß Sie die Aussage verweigern können, wenn Sie meinen, sich einer Strafverfolgung auszusetzen. Wollen Sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen?«

»Nein, Herr Vorsitzender.«

»Gut, beginnen wir mit dem entscheidenden Augenblick. Chefarzt Doktor Vogel forderte die Spritze mit Lobelin. Was taten Sie daraufhin?«

Eichner schilderte den Vorgang. Und wiederholte seine Behauptung, daß er weder die falsche Ampulle noch die Spritze in der Hand gehabt hatte.

»Warum sind Sie denn überhaupt vom Operationstisch weggegangen?« fragte der Richter.

»Mir schien an diesem Abend, daß Schwester Marina übermüdet und zerfahren wirkte. Ich wollte ihr helfen. Aber dazu kam es gar nicht.«

Marinas Rechtsanwalt erhob sich. Er stützte beide Hände auf den Tisch, beugte sich vor und sah Dr. Eichner durchdringend an. »Herr Zeuge, Sie sind sich darüber klar, daß Ihre Aussage einige unklare Punkte enthält.«

»Darüber bin ich mir durchaus nicht klar, Herr Rechtsanwalt.«

»Dann will ich es Ihnen erläutern. Sie behaupten, daß sich die Angeklagte in jener Nacht in schlechter Verfassung befand?«

»Jawohl.«

»Das hat Sie nicht auf die Idee gebracht, die Angeklagte von einer anderen Schwester ablösen zu lassen?«

»Nein, das wäre Sache des Chefarztes gewesen.«

»Sie haben Herrn Doktor Vogel auf die Verfassung der Angeklagten aufmerksam gemacht?«

Eichner zögerte mit der Antwort. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich bedauere das sehr.«

»Sie bedauern es.«

Eichner gab sich einen Ruck. »Es hätte auch nichts genutzt.«

»Warum nicht?«

»Der Chefarzt hält große Stücke auf die Angeklagte. Er hätte meine Warnung sicher nicht berücksichtigt.«

»Wie konnten Sie das wissen? Warum haben Sie nicht selbst mit der Schwester gesprochen, wenn Sie meinten, der Chefarzt hätte eine solche Warnung überhört? Sie waren doch diensthabender Arzt an jenem Abend.«

»Ja, das war ich.«

»Sie hatten also die Autorität, die Angeklagte nach Hause zu schicken und eine andere Schwester anzufordern. Warum taten Sie es nicht?«

Es wurde unruhig im Saal. Der Richter hob warnend den Kopf.

Dr. Eichner war blaß, als er antwortete: »Schwester Marina ist sehr … sehr empfindlich. Ich wollte sie nicht kränken.«

»Sie wollten also die Gefühle der Angeklagten schonen. Und deshalb ließen Sie die Schwester ihre Arbeit verrichten, obwohl die Gefahr bestand, daß sie diese höchst verantwortungsvolle Arbeit nicht richtig durchführen würde.«

Eichner strich sich nervös durch das Haar. »Ich glaube, ich muß mich deutlicher ausdrücken, noch deutlicher.«

Der Rechtsanwalt lächelte. »Ich wäre Ihnen dankbar.«

»Die Angeklagte schien mir nicht ganz auf dem Posten zu sein in jener Nacht. Aber ich meinte nicht, daß es so gravierend war. Erst nachträglich wurde mir klar, daß sie … daß sie gewissermaßen verstört wirkte.«

Der Rechtsanwalt richtete sich auf. »War die Angeklagte in einer schlechten Verfassung? Ja oder nein?« fragte er scharf.

»Es schien mir so, als wäre sie nicht recht in Form.«

»Es schien Ihnen so … Schien es Ihnen so während der Operation oder erst am nächsten Tag? Als der Chefarzt Sie und die Schwester zur Rede stellte? Oder schien es Ihnen vielleicht noch später?«

Eichner schwieg.

»Sie müssen dem Herrn Verteidiger antworten«, mahnte der Vorsitzende.

Eichner konnte sich nicht mehr beherrschen. »Auf welche seiner Fragen?« sagte er wütend. »Ich kenne mich nicht mehr aus.«

»Dann werde ich Ihnen helfen«, erwiderte der Rechtsanwalt ruhig. »Wann ist es Ihnen eingefallen, ich sage absichtlich eingefallen, daß die Angeklagte sich in der fraglichen Nacht in einer schlechten Verfassung befand?«

»Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern.«

»Ihre Erinnerung an jene Nacht ist also nicht ganz klar.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Eichners Stimme wurde schrill. »Glauben Sie, ich merke nicht, was Sie mit mir vorhaben? Ich weiß genau, daß Sie mich verwirren wollen. Ich habe die Vorgänge in jener Nacht mehrmals genau geschildert. Sie haben kein Recht, ständig meine Worte anzuzweifeln. Ich bin schließlich kein Verbrecher. Ich nicht.«

Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm setzte sich. Dabei sagte er: »Ich denke, wir verzichten vorläufig auf eine Vereidigung.«

Eichner nahm auf der Zeugenbank Platz.

Immer wieder wanderten seine Blicke zu dem Rechtsanwalt, den er haßerfüllt ansah.

Der Richter blätterte in seinen Akten. »Ich schlage vor, daß wir jetzt den Chefarzt Doktor Arno Vogel zu Wort kommen lassen.«

»Verzeihung, Herr Vorsitzender«, sagte der Staatsanwalt. »Ich möchte lieber, daß wir erst die Zeugin Hilde Güldener befragen.«

Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm sah den Staatsanwalt erstaunt an. Der fuhr fort: »Die Staatsanwaltschaft hat den Antrag auf Vernehmung dieser Zeugin nachträglich eingereicht, Blatt 27, 3a.«

Der Vorsitzende blätterte in Papieren.

»Ich erhebe Einspruch«, sagte Dr. Schneiderbohm. »Von der Existenz dieser Zeugin höre ich hier zum ersten Male.«

Der Staatsanwalt sah lächelnd zu Dr. Schneiderbohm. »Hilde Güldener ist Tatzeugin. Ihre Vernehmung ist wichtiger als die des Chefarztes. Denn Doktor Vogel hat ja selbst nichts beobachtet.«

»Die Zeugin Hilde Güldener«, entschied der Richter.

Der Justizwachtmeister rief ihren Namen in den Korridor.

Schwester Hilde kam in den Gerichtssaal. Sie trug ein leuchtend buntes Sommerkleid, weiße Pumps mit hohen Absätzen und weiße, ellbogenlange Lederhandschuhe. Ihr Haar glänzte silberblond.

Sie erzählte: »Ich hatte an dem Abend um sieben Uhr meinen Dienst angetreten, auf der Privatstation des Herrn Chefarztes. Schwester Marina, die ich ablösen sollte, erklärte mir noch einmal genau, worauf ich bei dem kleinen Patienten zu achten hätte. Sie war noch um acht Uhr im Hause, als das Neugeborene mit dem Rhesusfaktor eingeliefert wurde. Und dann blieb sie, um bei der Operation zu helfen.«

Der Richter fragte: »Ist Ihnen an der Angeklagten etwas Besonderes aufgefallen?«

»Nein, eigentlich nicht. Höchstens …«

»Was höchstens?«

»Sie schien mir sehr müde zu sein. Das war ja auch kein Wunder. Seit dem frühen Morgen war sie auf den Beinen. Ich half ihr bei den Vorbereitungen zur Blutaustausch-Transfusion. Als der Chefarzt mit dem Eingriff begann, verließ ich den OP.«

»Und wann erfuhren Sie von dem Tod des Kindes?«

»Ich war ja dabei.«

Die Zuhörer begannen aufgeregt zu flüstern.

Der Richter schlug mit dem Bleistift auf den Tisch. Dann fragte er die Zeugin: »Sie waren anwesend? Und das sagen Sie jetzt erst?«

»Ja, ich weiß, es war ein Fehler. Aber ich bewundere Schwester Marina sehr. Sie ist mein Vorbild, und sie hatte doch an dem betreffenden Tag so schweren Dienst gehabt. Ich habe mich davor gefürchtet, sie zu belasten.«

»Na hören Sie!« Der Ton des Richters wurde streng und laut. »Sie haben nur eins zu fürchten: daß Sie nicht die volle Wahrheit sagen.«

Schwester Hilde sah den Gerichtsvorsitzenden erschrocken an.

»Ich will ja auch alles sagen.«

»Gut, berichten Sie jetzt.«

»Der kleine Thomas auf der Privatstation war in der Nacht sehr unruhig. Er konnte nicht einschlafen. Ich wußte nicht, ob ich ihm noch ein Beruhigungsmittel geben durfte. Der Herr Chefarzt, der Oberarzt Doktor Eichner und Schwester Marina waren im OP. Deshalb ging ich nochmals hin. Über der Tür brannte das rote Licht. Ich machte sie vorsichtig auf, und dann wartete ich an der Tür auf einen günstigen Moment, um Marina zu fragen. Niemand sah mich. Der Herr Chefarzt beugte sich über den Operationstisch. Er wandte mir den Rücken zu. Schwester Marina stand am Medikamentenschrank und zog eine Spritze auf. Oberarzt Doktor Eichner kam auf sie zu und wollte ihr die Spritze abnehmen. Aber sie ging selbst zum Chefarzt und gab ihm die Spritze. Und nach einer Weile hörte ich, wie der Herr Chefarzt sagte ›Exitus‹. Und dann schloß ich ganz leise die Tür und ging wieder weg.«

»Ohne mit jemand gesprochen zu haben?« fragte der Richter.

»Ich traute mich nicht mehr.«

»Haben Sie später jemand von Ihrer Beobachtung erzählt?«

»Ja, meinem Vater. Der riet mir, zur Staatsanwaltschaft zu gehen.«

Der Richter räusperte sich. »Sie können Ihre Aussage beschwören?«

Schwester Hildes Stimme war leise, aber fest. »Jawohl, Herr Vorsitzender.«

Der Richter bat jetzt Dr. Eichner nach vorn. Der Oberarzt stand dicht neben Schwester Hilde. Beide sprachen dem Vorsitzenden die Eidesformel nach.

Marina bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»So«, sagte der Richter, beinahe gemütlich, »und jetzt wollen wir den Herrn Chefarzt persönlich zu Rate ziehen.« Er wandte sich zum Wachtmeister: »Herr Doktor Vogel, bitte.«

Als Arno Vogel den Saal betrat, erreichte die Spannung im Publikum ihren Höhepunkt. Mit unverhohlener Neugierde sahen auch Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt dem Arzt entgegen.

Sein Gesicht war verschlossen. Kein Muskel regte sich.

»Na, nun beruhigen Sie sich mal«, sagte der Rechtsanwalt.

Er ging neben Marina die Treppe hinunter, die in den Vorhof des Gerichtsgebäudes führte. »Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen?«

Marina antwortete nicht. Drei Monate Gefängnis … dachte sie. Schuldig, den Tod des neugeborenen Kindes Peter Hagemann fahrlässig verursacht zu haben … Die Strafe zur Bewährung ausgesetzt …

Die Worte des Richters wirbelten ihr im Kopf herum. Sie konnte sie wörtlich wiederholen.

Aber sie konnte sie nicht fassen.

Sie gingen durch den Vorhof zur Ausgangstür. »Was hatten Sie denn erwartet?« sagte der Rechtsanwalt. »Nachdem Ihre Kollegin unter Eid so eindeutig ausgesagt hatte, war doch nicht mehr viel drin. Und Doktor Vogel …«

»Doktor Vogel«, wiederholte Marina mechanisch. »Das hätte ich von meinem Chef nicht gedacht.«

»Aber, Kindchen.« Der Rechtsanwalt blieb stehen. »Verrennen Sie sich doch nicht. Was sollte er denn sonst sagen? Er hat Sie über den grünen Klee gelobt. Aber wer die Spritze aufgezogen hat, vermochte er nun einmal nicht zu sagen.«

»Er kennt mich doch. Er weiß, wie gewissenhaft ich bin.« Marina begann leise zu schluchzen.

»Sie haben doch Bewährung.« Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie sich zusammen.«

»Doktor Eichner und Schwester Hilde haben einen Meineid geschworen«, stieß Marina hervor.

»Na, na, nun seien Sie mal friedlich. So etwas dürfen Sie nicht sagen.«

»Die beiden stecken doch unter einer Decke.«

Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm wurde aufmerksam. »Haben Sie für Ihre Vermutung Beweise? Haben Sie etwas Bestimmtes beobachtet? Sind die beiden, na sagen wir, intim miteinander befreundet?«

»Nein, ich kann es nicht beweisen. Ich weiß nur, daß ich zu Unrecht verurteilt worden bin. Ich werde Berufung einlegen.«

Der Rechtsanwalt seufzte. »Mein liebes Fräulein Overbeck, überlegen Sie sich die Sache. Bei einer Berufung können Sie leicht schlechter wegkommen.«

Er schob den Ärmel seines Talars zurück und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Tut mir leid, in fünf Minuten beginnt mein nächster Fall.«

Marina sah dem Rechtsanwalt nach, wie er mit wehendem Talar die Treppe hinaufeilte und um eine Biegung verschwand.

Und dann, als sie sich zum Gehen wandte, sah sie Herbert. Sein jungenhaftes Gesicht war verdüstert. Aber Marina bemerkte es nicht. Sie sah nur, daß er da war, daß er auf sie gewartet hatte. Mit einem kleinen Schrei warf sie sich in seine Arme. »Herbert«, sagte sie schluchzend und immer wieder »Herbert …«

Er stand steif da, ohne sich zu rühren. Dann, nach einer langen Pause, schob er sie von sich.

Flehentlich sah sie ihn an. »Ich wußte ja, du würdest mich nicht im Stich lassen, du, als einziger.«

Er schluckte ein paarmal, bevor er antwortete. »Hör mal, Marina, ich muß mit dir sprechen.«

»Hast du Zeit für mich?« fragte sie hoffnungsvoll. »Kannst du mich nach Hause bringen? Kannst du bei mir bleiben?«

»Ich fürchte, so viel Zeit habe ich nicht.«

»Hier in der Nähe ist ein kleines Café. Können wir da nicht hingehen?«

Sie verließen das Gerichtsgebäude. Draußen blieb Herbert stehen.

»Marina«, sagte er. »Das Ganze ist sinnlos. Wir wollen uns nichts vormachen. Schließlich sind wir beide erwachsene Menschen.«

Marina sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was willst du damit sagen?«

»Marina, mach es mir nicht so schwer. Du weißt doch genau …«

Ihre Stimme war ganz leise, als sie antwortete: »Ich weiß nur, daß wir miteinander verlobt sind. Ich weiß, daß wir uns versprochen haben, unser ganzes Leben miteinander zu verbringen. Ich erinnere mich genau, wie oft du zu mir gesagt hast: In guten und in bösen Stunden wollen wir …«

»Marina, bitte«, sagte er kläglich. »Können wir nicht in aller Freundschaft …« Er zögerte, und erst nach einer Pause kam das Wort, das sie gefürchtet, aber auch erwartet hatte: »auseinahdergehen?«

Sie sah ihn mit großen Augen schweigend an.

Nachdem das Wort ausgesprochen war, redete er schnell weiter: »Meinst du denn, mir fällt es leicht? Was soll ich denn tun? Schließlich bist du doch an allem selbst schuld. Wenn du nicht die Ampullen verwechselt hättest … Sieh mal, ich bin Polizeibeamter. Ich kann doch niemanden heiraten, der vorbestraft ist. Laß uns doch die Dinge sehen, wie sie sind.«

Sie ging mit kleinen Schritten neben ihm her und schwieg.

»Na ja«, sagte er eifrig. »Es wird schon alles gut werden, auch für dich. Wir sind doch beide noch jung. Paß mal auf, du wirst mich schneller vergessen als ich dich.«

Er sah sie kurz von der Seite an und sprach immer schneller weiter. »Nach ein paar Wochen ist Gras über die Sache gewachsen. Kein Mensch fragt mehr danach. Bei mir ist es doch leider etwas anderes. Ich bin Beamter.«

Marina ging schweigend neben ihm her.

»Und sieh mal, was das Finanzielle betrifft, das können wir schnell in Ordnung bringen.«

Er holte aus seiner Jacke ein zusammengefaltetes Papier heraus. »Ich habe unseren Bausparvertrag für alle Fälle gleich mitgebracht.«

Marinas blasses Gesicht war unbewegt. Sie sah nicht nach links und nicht nach rechts, als sie an seiner Seite die Straße überquerte.

Herbert fuhr fort: »Die Karte mit unserem letzten Kontoauszug ist auch dabei. Bitte, überzeuge dich selbst. Leider kann ich dir deinen Anteil nicht in bar auszahlen. Aber ich denke, der Vertreter der Bausparkasse wird schon einen Ausweg wissen. Du kannst sicher sein, ich werde das korrekt erledigen.«

Endlich sah sie ihn an, endlich begann sie zu sprechen: »Ich vertraue dir vollkommen«, sagte sie mit einem müden Lächeln. »Ich weiß, du bist die Korrektheit in Person.«

Ihr Tonfall machte ihn unsicher. »Sprich doch nicht so zu mir. Ich habe dir doch nichts getan.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie nahm sie nicht, nickte ihm zu, drehte sich um und ging langsam weg.

»Marina!« rief er ihr laut nach. »Du sollst wissen, daß ich dir nicht böse bin.«

Marina ging allein durch die Straßen. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen. Marina war allein, so allein wie noch nie in ihrem Leben.

»So schnell geht das nicht, wie du dir das denkst.« Kurt Eichner ging mit nervösen Schritten im Zimmer auf und ab. »Erst muß Gras über die Sache gewachsen sein. Wir wären ja verrückt, wenn wir jetzt die Nerven verlören.«

Hilde sah ihn mißtrauisch an. »Komisch. Jetzt hast du es mit der Ruhe. Vorher konnte es nicht schnell genug gehen. Bevor ich die Hand zum Eid erhob, hast du immer nur vom Heiraten geredet.«

Eichner blieb stehen. »Hilde«, zischte er wütend.

»Hilde, Hilde«, wiederholte sie höhnisch. »Ich habe Marina reingelegt, und jetzt kneifst du.«

Er nahm sie in die Arme. »Red doch nicht solchen Unsinn. Es ist mir nur langweilig, immer wieder dasselbe zu erklären.«

»Sag doch ruhig, daß ich dir langweilig bin. Letzten Endes kommt es darauf hinaus.«

Er ließ sie los. »Du weißt nicht, was du sprichst.«

Schwester Hilde kniff die Augen zusammen. »Du hast mich seit drei Tagen nicht mehr besucht.«

Er hob die Arme hoch und ließ sie mit einer Gebärde der Verzweiflung fallen. »Wundert dich das? Ich sehne mich ständig nach dir, und wenn ich bei dir bin, dann machst du mir Szenen.«

»Ach, was bist du gemein.« Sie begann zu weinen.

Er sah mit Widerwillen auf ihr blondes Haar, dessen Wurzeln dunkel nachzuwachsen begannen.

Mit sanfter, einschmeichelnder Stimme sagte er: »Kindchen, Hilde, sei doch nicht so empfindlich. Du mußt doch selbst merken, daß es so nicht weitergeht. Mit deiner Hysterie wirst du noch unsere Liebe zerstören.«

Sie sah ihn mit geröteten Augen an. »Das wagst du mir zu sagen, nach allem, was ich für dich getan habe?«

»Hilde, bitte, sei vernünftig. Ich werde nie vergessen, was ich dir schulde. Aber davon ganz abgesehen … Meine Liebe zu dir wird nie erlöschen. Ganz egal, was du tust. Wenn du meinst … dann gehe hin und verrate uns und unsere Liebe. Gestehe doch, daß du einen Meineid geschworen hast. Zeige mich an, daß ich dich dazu verleitet habe. Mach, was du willst. Ich werde nicht aufhören, dich zu lieben.«

Er sah mit Genugtuung, wie in ihren Augen Hoffnung aufglomm.

»Wann werden wir heiraten?« fragte sie leise.

»Aber, Hildchen, das haben wir doch so oft besprochen. Sobald es möglich ist.«

»Und wann wird das sein?«

Er zögerte mit der Antwort. »Schwer zu sagen«, sagte er endlich. »Vielleicht in einem Jahr.«

Sie legte die Arme um seinen Hals und sagte seufzend: »Ein Jahr noch voller Heimlichkeit, ein Jahr Versteckspiel, ein Jahr schlechtes Gewissen. Kurt, ich ertrage es nicht.«

Sanft löste er ihre Arme. »Für mich ist es doch genauso schwer. Ich warte auf den Tag, da du vor aller Welt meine Frau werden kannst. Aber denk doch nur, wenn Marina etwas von unseren Beziehungen erfährt. Sie macht einen Skandal, verlaß dich drauf. Und der Chefarzt steht auf ihrer Seite. Von dem haben wir keine Schonung zu erwarten.«

Hilde schmiegte sich an ihn. »Ich liebe dich so sehr, Kurt, ich bin halb wahnsinnig vor Liebe. Ach, manchmal glaube ich, es wäre besser, ich hätte dich nie kennengelernt.«

Sie schloß die Augen, als er sie küßte.

Und daher sah sie nicht den Ausdruck der Verachtung, der sein schmales, ebenmäßiges Gesicht entstellte.

Marina hatte eine kleine Reisetasche aus Schottenstoff in der Hand. Sie ging langsam durch den Korridor der Kinderklinik bis zu der Station, in der sie zuletzt Dienst gehabt hatte. Leise öffnete sie die Tür.

Alle sechs Betten waren belegt. Die Kinder schliefen. Einen Augenblick zögerte Marina, aber dann wandte sie sich mit einem Ruck um und verließ den Raum.

Mechanisch legte sie den Weg zum Zimmer des Chefarztes zurück. Sie klopfte an die Tür und trat ein, ohne das Herein abzuwarten. Arno Vogel saß am Schreibtisch und blickte ihr freundlich entgegen. »Na, was gibt’s denn, Schwester Marina?« sagte er.

»Ich möchte mich von Ihnen verabschieden, Herr Chefarzt.«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Was heißt verabschieden? Setzen Sie sich doch.«

»Nein, bitte nicht. Ich möchte schnell das Haus verlassen.«

Vogel stand auf, rückte einen Stuhl an den Tisch und veranlaßte Schwester Marina mit sanfter Gewalt, sich hineinzusetzen. Dann ging er zu seinem Sessel zurück.

»So«, sagte er, »nun erzählen Sie mal, Kind! Was ist los?«

Marina sah ihn mit kläglichem Gesicht an. »Herr Chefarzt, bitte quälen Sie mich nicht. Sie wissen doch selbst, daß es hier nicht weitergeht. Ich bin zu Gefängnis verurteilt worden, und wenn ich durch die Klinik gehe, habe ich das Gefühl, daß alle Menschen mich hämisch ansehen.«

»Schwester, Ihr Gefühl trügt Sie. Verlassen Sie sich doch in diesem Punkt auf mich. Die Leute hier haben eher Mitleid mit Ihnen. Selbst der Eichner wagt nicht, ein böses Wort über Sie zu reden.« Marina fuhr hoch: »Das sollte er auch wagen, dieser meineidige Kerl.«

»Pst, pst!« Arno Vogel lächelte. Und dann sagte er begütigend:

»Schwester Marina, Ihr Temperament geht mit Ihnen durch. Aber ich verspreche Ihnen feierlich: Sie werden mir nicht durchgehen. Ich habe bestimmt, daß Sie hierbleiben. Das ist auch mit den vorgesetzten Stellen besprochen. Und wenn Ihnen irgend jemand Unannehmlichkeiten machen will, dann wird der Betreffende das Haus verlassen … aber nicht Sie.«

Marina kämpfte mit den Tränen.

»Also abgemacht.« Arno Vogel gab diesen Worten jene Bestimmtheit des Tones, von dem Marina und alle anderen Schwestern wußten, daß er eine Entscheidung bedeutete.

Sie schwieg.

Da ging Arno Vogel nochmals zu ihr hin, packte sie an beiden Schultern und schüttelte sie freundschaftlich. »Mädchen, Marina, machen Sie doch keine Dummheiten!«

Marina hob den Kopf. Sie starrte auf die Tür, die sich leise geöffnet hatte. Arno Vogel sah Marinas Gesichtsausdruck, ließ sie los und drehte sich um.

Oberarzt Dr. Kurt Eichner stand in der halbgeöffneten Tür.

Niemand sprach.

Nach einer langen Pause sagte Eichner übertrieben langsam und mit besonderer Betonung: »Pardon, Herr Chefarzt, Sie müssen mein Anklopfen überhört haben …«

Kinderstation

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