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Professor Böhninger saß weit zurückgelehnt in seinem lederbezogenen Sessel hinter dem mächtigen Schreibtisch und sah seinen Schwiegersohn freundlich-spöttisch an. Es war am Morgen nach der Party.

»Na, wo brennt’s denn?« fragte er lächelnd.

Dr. Vogel beugte sich vor, die Hände um die Knäufe der Sessellehne geballt, und sagte mühsam: »Wir hatten gestern nacht eine Blutaustauschtransfusion an einem Neugeborenen —«

»Ja?« fragte der Professor.

»Exitus.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

Dann sagte der Professor: »Das tut mir leid, Arno.« Er öffnete ein silbernes Döschen, steckte sich eine Pfefferminzpastille in den Mund. »War es das Kind von Evelyn Hagemann?«

»Du weißt … ?«

»Ich bin in großen Zügen unterrichtet. Gestern abend sprach ich mit dem Kollegen Bayer, der die Entbindung durchgeführt hat. Eine schwere Operation mit weitgehenden Konsequenzen. Aber anscheinend hatte Bayer keine Wahl. Immerhin … die Frau lebt.«

»Sie wird keine Kinder mehr haben können?«

»Ist es das, was dir zu schaffen macht? Oder daß es ausgerechnet mit dem Kind von Hagemann passiert ist? Der Tod nimmt keine Rücksicht auf Geburt und Stellung eines Menschen.«

»Dieses Kind«, sagte Dr. Vogel gedehnt, »hätte nicht sterben müssen.«

Professor Böhninger hob die dünnen weißen Augenbrauen. »Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.«

»Bitte, glaube nicht, daß ich mir etwas einrede. Einen unbestimmten Verdacht würde ich niemals aussprechen … nicht einmal dir gegenüber. Ich weiß, was ich sage, ich habe den Beweis.« Er holte seine Brieftasche aus dem Rock, nahm ein kleines Schriftstück heraus, reichte es dem Professor über den Schreibtisch.

»Du hast eine Analyse im Labor machen lassen?« sagte der Professor unbehaglich berührt.

»In der Ampulle war noch ein kleiner Rest, ich fürchtete schon, daß er nicht ausreichen würde. Aber, bitte, lies selber.«

Der Professor überflog das Schriftstück mit zusammengezogenen Augenbrauen, sagte: »Gradiren ja, aber … das kann man doch nicht einem Neugeborenen geben.«

»Ich hatte natürlich Lobelin verlangt.«

Professor Böhninger strich sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über den Nasenflügel. »Wer hat dir die Spritze gegeben?«

Dr. Vogel holte tief Atem. »Ich kann mich nicht daran erinnern, Vielleicht habe ich es auch gar nicht gesehen! Ich hatte nur Augen für das Kind. Die Atmung hatte ausgesetzt, es wurde deutlich zyanotisch. Ich verlangte Lobelin, jemand gab mir die Spritze in die Hand. Natürlich erwartete ich, daß die Atmung wieder einsetzen würde … statt dessen Krampf, Versteifung, Exitus.«

Er beugte sich vor. »Sag mir jetzt nur nicht, daß es vielleicht auch sonst gestorben wäre. Es war ein tadelloses Kind. Ich habe es gründlich untersucht. Herz, Lunge, alles in Ordnung. Der Blutaustausch hätte gelingen müssen. Statt dessen …« Seine Stimme brach ab.

Der Professor erhob sich. »Was willst du tun?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Arno!« Professor Böhninger ging um den Schreibtisch herum und auf Dr. Vogel zu. »Du willst Anzeige erstatten …«

»Anzeige … nein, das nicht. Das einzige, was ich will, ist eine interne Untersuchung.«

»Bildest du dir wirklich ein, daß so etwas intern bleiben kann?«

»Warum nicht? Jeder, der in den Fall verwickelt ist, kann nur das größte Interesse daran haben, nach außen zu schweigen.«

»Das glaubst du? Darf ich fragen … wer war überhaupt mit dir im OP?«

»Schwester Marina und Eichner.«

»Zuverlässige Leute.«

»Ja, ich weiß. Trotzdem muß sich einer von beiden geirrt haben. Oder glaubst du etwa, ich hätte … ?«

»Ich nehme nichts dergleichen an. Aber wenn du schon davon sprichst … siehst du denn nicht, daß du im Begriff stehst, dich ganz unnötig zu exponieren?«

»Ich muß wissen, wie es zu diesem verhängnisvollen Mißgriff gekommen ist. Ganz egal, wer schuld hat«, sagte Dr. Vogel hartnäckig. »Irgendwo muß eine Fehlerquelle liegen. Ich muß sie finden. Glaubst du denn, ich kann riskieren, daß etwas Ähnliches noch einmal geschieht?«

»Stell den Totenschein aus und laß die Dinge ruhn. Du bist im Begriff, einen Skandal heraufzubeschwören. Damit ist niemandem geholfen, nicht den Eltern und nicht dem toten Kind.«

»Aber den lebendigen Kindern … denen, die noch nicht einem Irrtum zum Opfer gefallen sind!«

Professor Böhninger seufzte. »Ich hätte es wissen müssen. Du kannst nicht aus deiner Haut heraus.« Er legte ihm die Hände auf die Schultern. »Natürlich hast du recht. Ich wollte dir nur sagen … das Richtige zu tun, ist nicht immer klug. Untersuch den Fall, wenn du es nicht lassen kannst.« Er seufzte tief. »Ich sehe schon, es hat keinen Zweck, dich zu warnen. Ich hoffe nur, daß ich die Dinge zu schwarz sehe. Ich bin ein alter Mann, Arno, und ich kenne das Leben.«

»Der Grund, warum ich Sie zu mir gebeten habe, ist leider außerordentlich unangenehm.« Dr. Vogel blickte von Schwester Marina zu Dr. Eichner. »Ich will ganz offen sein … der Exitus gestern nacht hat mir zu denken gegeben. Ich möchte in diesem Zusammenhang einige Fragen an Sie richten.«

»Soll das ein Verhör sein?« fragte Dr. Eichner scharf.

»Eben nicht!« Dr. Vogel hatte seinen Gästen Cognac eingeschenkt, Zigaretten angeboten, alles, um das Peinliche der Situation zu verwischen. »Ich möchte versuchen, den Fall freundschaftlich und sachlich zu klären.«

»Haben Sie schon mit Dr. Hagemann gesprochen?« fragte Eichner.

»Noch nicht. Wie ich höre, ist er noch in London.« Er machte eine kleine Pause. »Das steht mir also noch bevor.«

Dr. Vogel gab sich einen Ruck. »Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Heute nacht ist einem von uns ein Irrtum unterlaufen. Die Spritze, die ich dem Kleinen injizierte, als sein Atem zu versagen begann, enthielt Gradiren. Das bedeutet für ein Neugeborenes eine fünf- bis zehnfache Überdosis. Dadurch kam es zur Verkrampfung der Atemorgane und zum Exitus.«

Er ließ, während er sprach, die Schwester und den Arzt nicht aus den Augen. Eichners Gesicht wurde fleckig vor Erregung.

Marina blieb ruhig, unnatürlich ruhig.

»Sie werden sich beide erinnern«, fuhr Dr. Vogel fort, »daß ich Lobelin verlangt hatte. Einer von Ihnen beiden hat sich geirrt.« Ehe sie noch etwas äußern konnten, setzte er rasch hinzu: »Ich habe keineswegs vor, den Schuldigen bestrafen zu lassen. Wenn Sie wollen, bleibt die ganze Sache unter uns. Es kommt mir nur darauf an festzustellen, wie das geschehen konnte … damit in Zukunft ähnliche Mißgriffe mit Sicherheit ausgeschaltet werden können.«

»Ich gab Ihnen die Spritze, Herr Chefarzt«, sagte Schwester Marina, »Herr Dr. Eichner hat sie aufgezogen.«

»Unerhört, unglaublich!« Eichner protestierte laut.

Marina ließ sich nicht unterbrechen. »Ich gab dem Herrn Doktor die Spritze, sah zu, wie er sie aufzog, nahm sie ihm dann aus der Hand und lief zum Operationstisch.«

»Also das ist doch …«

»Einen Augenblick bitte, verehrter Kollege.« Dr. Vogel wandte sich wieder an Schwester Marina. »Aber Sie hätten doch sehen müssen, aus welcher Packung Dr. Eichner die Ampulle genommen hatte.«

Schwester Marina antwortete erst nach einer kleinen Pause.

»Nein«, sagte sie dann, »ich habe nicht darauf geachtet.«

»Auch später nicht? Beim Aufräumen?«

Marina schüttelte den Kopf. »Mir ist an den Packungen nichts aufgefallen.«

»Na schön, das ist also Ihre Version. Und Sie, Kollege Eichner?«

»Ich habe weder die Spritze noch die Ampulle auch nur eine Sekunde in der Hand gehabt. Wie käme ich auch dazu! Es ist Aufgabe der Schwester …«

Dr. Vogel unterbrach ihn. »Sicher. Das sagten Sie schon mal. Aber Sie gingen also zum Medikamentenschrank?«

»Ich folgte der Schwester … aber erst, als mir schien, daß sie unverhältnismäßig lange brauchte. Ich folgte ihr, um zu helfen. Sie war schon dabei, die Spritze aufzuziehen, als ich zu ihr trat. Dann ging sie rasch an mir vorbei zum Operationstisch und gab sie Ihnen.«

»Das ist nicht wahr!« Jetzt wurde auch Marina laut.

Dr. Vogel hob beschwörend die Hände. »So kommen wir nicht weiter«, sagte er, »schade, sehr schade. Ich sehe keine Möglichkeit, mir nach Ihren einander widersprechenden Aussagen ein Bild zu machen. Am besten gehen wir in den OP heute nachmittag, wenn er frei ist. Dann machen wir in aller Ruhe einen Lokaltermin unter uns.«

Dr. Eichners Stimme klang schrill. »Das lasse ich nicht mit mir machen. Sie sind zu weit gegangen, Herr Chefarzt. Ich verlange, daß Anzeige erstattet wird.«

»Nimm es nicht so schwer, Arno!« sagte Regine zu ihrem Mann. »Du kannst doch nichts dafür.«

Das Wetter war umgeschlagen, ein eintöniger Regen klopfte gegen die Scheiben.

Chefarzt Dr. Arno Vogel und seine Frau Regine saßen im Wohnzimmer und tranken, wie immer nach dem Mittagessen, ihren Kaffee. Die kleine Isa lag auf dem Fußboden und kritzelte in ein altes, zerfleddertes Notizbuch.

»Ich fürchte, du begreifst nicht ganz«, sagte Arno Vogel müde. »Natürlich kann ich nichts dafür, wie du es ausdrückst. Aber ich trage die Verantwortung für alles, was in der Klinik geschieht. Was nützt es mir denn, wenn ich mir sage: Ich kann nichts dafür?«

Regine sah ihn bekümmert an. »Du nimmst deinen Beruf zu schwer. Nein, das ist nicht das richtige Wort, du nimmst ihn zu persönlich. Du leidest immer mit den andern mit, mit den Kindern und mit den Eltern. Bitte, verzeih mir, wenn ich es sage: Das ist doch eine falsche Einstellung. Ein Arzt muß mehr über den Dingen stehen …«

Arno Vogel lächelte bitter. »Ach, Regine«, sagte er. »Du weißt noch nicht alles. Der Tod des Kindes wird ein gerichtliches Nachspiel haben.«

»Um Gottes willen«, rief sie erschrocken.

»Ja, ich kann es nicht ändern. Der Eichner besteht darauf.«

»Warum? Du hast doch keinen Fehler gemacht …«

»Nein, das habe ich nicht.« Arno Vogel zündete ein Streichholz an, um seine Pfeife wieder in Brand zu setzen.

»Aber was will Kurt Eichner denn? Was hat das Ganze denn für einen Sinn?«

Arno Vogel seufzte: »Tatsächlich ist eine Verwechslung passiert. Ich habe sie als erster entdeckt. Natürlich habe ich versucht, die Sache aufzuklären. Ich habe gehofft, wir könnten das intern regeln. Aber jetzt fängt die Sache an, Kreise zu ziehen.«

»Was sagt Papa dazu?«

»Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen.«

Regine sprang auf: »Das mußt du sofort tun. Papa wird dir helfen. Soll ich ihn anrufen? Er kann sich doch den Eichner mal vornehmen. Unter keinen Umständen darf die Sache nach draußen dringen. Stell dir doch vor …« Regine beendete den Satz nicht, weil es an der Haustür klingelte.

»Moment mal«, sagte sie. »Ich sehe nach, wer da ist.« Schmal und geschmeidig, in ihrem anliegenden Kleid aus orangefarbener Wolle, ging sie zur Tür.

Arno Vogel trank noch einen Schluck Kaffee.

Die kleine Isa zog die Beine an und setzte sich auf. »Papi, du wolltest doch heute Kasperletheater mit mir spielen. Du hast es versprochen …«

»So? Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Doch, ganz bestimmt, Papi. Weil ich gestern abend nicht aufbleiben durfte, als die vielen Leute kamen.«

»Jaja, richtig«, sagte er zerstreut. »Ich spiele auch mit dir, Isa. Aber nicht heute.«

Isa ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Du hast es mir aber doch versprochen«, sagte sie energisch.

Regine kam ins Zimmer. Noch ehe sie ein Wort sagte, sah er ihr an, daß etwas Unangenehmes geschehen war. Er schob die Tasse zur Seite und stand auf.

»Was ist?« fragte er gespannt.

Sie schloß leise die Tür und flüsterte ihm zu: »Dr. Hagemann ist da …« Ihre Augen waren dunkel vor Angst. »Er will dich sprechen.«

Arno Vogel legte die Pfeife aus der Hand und ging zur Tür. Draußen in der Diele stand Dr. Paul Hagemann, der Vater des Babys, das in der Klinik unter den Händen des Chefarztes gestorben war.

Schlank und sehr aufrecht stand Hagemann da. Er wirkte ruhig und beherrscht. Aber mit unheimlicher Regelmäßigkeit schlug er den Hut, den er abgenommen hatte, gegen sein rechtes Knie.

Dr. Arno Vogel grüßte mit einer knappen Verbeugung. »Herr Präsident, wollen Sie mir bitte in mein Arbeitszimmer folgen?«

»Nein«, erwiderte Hagemann unfreundlich, »das will ich nicht. Was ich Ihnen zu sagen habe, kann hier geschehen. Ich verlange eine Erklärung von Ihnen, Herr Doktor.«

»Das ist Ihr gutes Recht. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie schon zurück sind, dann wäre ich selbst …«

Hagemann schnitt ihm mit einer heftigen Handbewegung das Wort ab: »Was ist mit meinem Kind geschehen?«

»Das Neugeborene wurde abends in die Klinik gebracht. Der diensthabende Arzt, Dr. Eichner, untersuchte es sofort. Die Blutprobe ergab …«

»Weiß ich, weiß ich alles. Aber Sie, Herr Chefarzt, haben meinem Kind eine tödliche Spritze gegeben.«

Dr. Vogel blieb ruhig. »Sie haben Herrn Dr. Eichner selbst gesprochen?« fragte er.

»Ja. Und ich bin ihm dankbar. Denn von ihm habe ich wenigstens die Wahrheit erfahren.«

In Arno Vogels Gesicht zuckte es jetzt. »Sie haben keinen Grund zu der Annahme, daß die Leitung der Kinderklinik etwa die Absicht gehabt hätte, Ihnen die Wahrheit zu verschweigen.«

»Da bin ich nicht ganz sicher«, erwiderte Hagemann heftig.

Das Gesicht des Chefarztes wurde dunkelrot. »Herr Präsident, bei allem Verständnis für Ihren Schmerz … Ich bitte Sie sehr, sich zu mäßigen. Sie werden von Dr. Eichner erfahren haben, daß ich es war, der Verdacht schöpfte, daß ich es war, der eine Untersuchung eingeleitet hat.«

»Sie haben die schuldige Krankenschwester sofort entlassen, nehme ich an?«

»Nein, Herr Präsident. Dazu hatte ich keine Veranlassung.«

Die Stimme des Präsidenten wurde schneidend: »Was? Der Tod eines Kindes hat Ihnen nicht genügt …«

»Die Schuld der Schwester ist nicht erwiesen.«

»Aber das ist ja ungeheuerlich.« Hagemann begann wieder mit dem Hut auf sein Knie zu schlagen. »Dr. Eichner sagt doch ganz klar und deutlich, daß die Schwester das falsche Medikament aus dem Schrank genommen hat.«

»Dr. Eichner ist kein unbefangener Zeuge. Die Schwester ihrerseits behauptet, Eichner habe das Medikament herausgeholt.«

Hagemann begann mit langen Schritten in der Diele hin und her zu gehen. Dann blieb er vor Dr. Vogel stehen und sagte leise: »Sie wollen also Ihren Kollegen, Ihren Oberarzt, belasten. Sie wollen behaupten, daß dieser Arzt die Schuld hat. Damit Ihre vortreffliche Krankenschwester entlastet wird. Herr Dr. Vogel, was in Ihrer Klinik geschah, ist ungeheuerlich. Aber was jetzt versucht wird … dafür fehlen mir einfach die Worte. Die Schuldige soll geschont werden.«

»Es ist nicht bewiesen, daß die Krankenschwester schuldig ist.«

»Wer ist es denn also? Sie vielleicht, Herr Dr. Vogel? Sie tragen die volle Verantwortung.«

»Das habe ich nie geleugnet. Daher habe ich sofort eine Untersuchung durchgeführt. Ich bin selbst erschüttert, daß sich die Aussagen meines Kollegen und der Krankenschwester so kraß widersprechen.«

»Und mit dieser Ihrer Erschütterung soll ich mich begnügen, Herr Dr. Vogel?«

»Nein, Herr Präsident, mein Bericht für die Staatsanwaltschaft ist fertiggestellt.«

»Davon wird mein Kind nicht wieder lebendig. Aber meine arme Frau und ich werden also wenigstens die Genugtuung haben, daß der Mörder unseres Kindes bestraft wird.«

Hagemann wandte sich zur Tür.

Dr. Vogel ging ihm einen Schritt nach. »Herr Präsident«, sagte er zögernd. »Bitte … Sie dürfen sich nicht in Rachegefühle verstricken. Ich weiß, wie entsetzlich der Verlust ist, den Sie erlitten haben. Aber Sie müssen versuchen, sich mit dem Geschehenen abzufinden. In Ihrem eigenen Interesse.«

Hagemann drehte sich halb herum. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. »Mein Interesse? Daran hätten Sie früher denken sollen. Daran hätten Sie denken sollen, als mein Kind auf dem Operationstisch lag.«

»Herr Präsident …« Vogel sprach sehr laut.

»Ja, daran hätten Sie denken sollen. Aber Sie denken nur an den Ruf Ihrer Klinik und an Ihren eigenen. Und natürlich an den Ihrer Krankenschwester. Sparen Sie sich Ihre Entschuldigungen auf, bis Sie vor Gericht Rede und Antwort stehen müssen. Ich werde gegen die Schwester Strafanzeige erstatten.«

Die Tür knallte zu.

Schwester Marina warf einen kurzen, prüfenden Blick in den Garderobenspiegel. Es hatte an der Wohnungstür ihres kleinen Apartments geklingelt.

Und sie wußte, wer da kam.

Ihre grauen Augen, deren Wimpern sie sorgsam schwarz getuscht hatte, wirkten unnatürlich groß in dem schmalen, weißen Gesicht. Sie massierte sich hastig die Wangen mit den Fingerspitzen.

Es klingelte noch einmal. Marina öffnete schnell die Tür. »Herbert«, sagte sie. »Ich bin so froh, daß du da bist.«

»’n Abend, Marina.« Der Besucher trat ein und küßte sie flüchtig. Marina schloß die Tür hinter ihm. Sie sah, wie er sich vor dem Spiegel über sein blondes Haar strich. Als sich ihre Blicke im Spiegel begegneten, lächelte er. Aber es war ein gefrorenes Lächeln.

Und Marina hatte plötzlich ein unbehagliches Gefühl.

Er ging schnell in das Zimmer, während Marina in die Küche lief, aus dem Eisschrank Bier holte, die Flasche öffnete und sie dann auf einem Tablett hereinbrachte.

Ihr Verlobter stand im Zimmer, die Hände in den Hosentaschen. »Setz dich doch, Herbert«, sagte Marina. »Ich habe uns ein bißchen zu essen gemacht.« Er sah auf die Schüssel mit den appetitlichen Brotschnitten und schüttelte den Kopf. »Danke, ich hab’ keinen Hunger.«

Eine gute Stunde hatte Marina gebraucht zum Herrichten des Essens. Sie blickte traurig auf den hübsch gedeckten Tisch. Aber sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. »Na, vielleicht später«, sagte sie nur. »Aber ein Bier wirst du doch trinken?«

»Na, denn gib mal her«, sagte er gnädig.

Sie schenkte ihm ein, so wie er es liebte, mit einer hohen weißen Schaumkrone. »Schade, daß du vorigen Donnerstag nicht kommen konntest. Ich hatte Kartoffelklöße und Schweinebraten. Das ißt du doch so gern.«

Der Mann nahm einen kräftigen Schluck Bier und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

»Der Dienst geht vor«, sagte er kurz.

»Ja, natürlich, ich weiß.« Marina suchte nach einem unverfänglichen Thema. Sie spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Aber sie ahnte nicht, was es war.

Sie warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu, doch sein Gesicht blieb verschlossen. »Wir hatten auch viel Arbeit in der letzten Zeit«, sagte sie unsicher. »Sogar ein paar Fälle mit Kinderlähmung. Aber zum Glück ist hier alles gutgegangen.«

»Soso, wieder alles in Ordnung?«

»So schnell geht das nicht. Die Kinder mit Polio sind ja erst eingeliefert worden. Doch wir haben Hoffnung …«

»Die Kinder interessieren mich nicht. Ich will wissen, ob in der Klinik wieder alles okay ist.«

»Wie meinst du das?«

»Stell dich nicht so an, du weißt schon, was ich meine.«

Sie biß sich auf die Lippen. »Wie sprichst du denn mit mir? Was hast du denn?«

Er sah sie nicht an.

Nach einer Pause fuhr sie fort: »Die Beziehungen zwischen dem Chefarzt und dem Oberarzt sind natürlich gespannt. Sie reden nur das Nötigste miteinander. Professor Ramsauer, der Direktor, ist ganz neutral. Aber es heißt, daß er den Eichner ordentlich zusammengestaucht hat. Er hat ihm vorgeworfen, interne Vorgänge einem Außenstehenden erzählt zu haben. Das ist ja nun auch das letzte.«

»Immerhin hat er erreicht, was er wollte: Er hat dich in die Sache hineingerissen.«

Marina zwang sich zu einem kleinen Lachen. Sie merkte selbst, wie unnatürlich es klang. »Was heißt hineingerissen? Ich habe nichts verkehrt gemacht, und das wird sich heraussteilen.«

»Hast du Beweise?«

»Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Eichner die Spritze mit dem falschen Medikament aufgezogen hat.«

Der Mann trank das Glas aus. »Hör auf damit«, sagte er grob. »Mir wird ganz übel davon.«

Sie schrak zusammen. »Aber, Herbert …«

»Alles, was du sagst, ist Quatsch. Du hast ja keine Ahnung. Wenn du bloß wüßtest, wie polizeiliche Ermittlungen geführt werden. Mit eigenen Augen gesehen … daß ich nicht lache. Hast du wenigstens einen Rechtsanwalt?«

»Noch nicht.« Als sie den Ausdruck seines Gesichts sah, fügte sie rasch hinzu: »Ich bin schon angemeldet, bei Doktor Schneiderbohm. An einem meiner nächsten freien Tage gehe ich hin.«

»Weiß er, um was es sich handelt?«

»Ja, natürlich.« Sie legte ihre schmale Hand auf seinen Arm. »Reg dich doch nicht auf, Herbert. Der Termin ist ja erst in drei Wochen.«

Unwillig schüttelte er ihre Hand ab. »Hast du die Vorladung?«

»Ja«, sagte sie. »Für den zwölften August, elf Uhr dreißig.«

»Gib sie her.«

»Ich habe Sie Doktor Schneiderbohm geschickt, zusammen mit meiner Darstellung des Falles. Das wollte er haben.«

»Du wirst doch wissen, was draufstand?« rief er wütend.

Sie wandte sich ab. »Schrei nicht mit mir«, sagte sie kalt. »Ich brauche niemanden, der mich herumkommandiert. Ich brauche einen Menschen, der mir hilft.«

Er stand auf, ging um den Tisch und packte sie an den Schultern. »Marina, du weißt, daß ich dich liebe. Aber um dir helfen zu können, muß ich doch wissen, was hier gespielt wird. Bitte, beantworte mir eine Frage. Bist du als Zeugin geladen oder … als Angeklagte …«

»Als Angeklagte …«

Er ließ das Mädchen los, als wenn er sich die Finger verbrannt hätte. Dann ging er zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. »Entschuldige mal«, sagte er leise. »Aber das war ein Schlag in die Magengrube.«

»Herbert«, rief sie entsetzt. »Was hast du denn?«

Er sah sie finster an. »Wenn du bloß nicht so naiv wärst. Du stehst als Angeklagte vor Gericht. Du weißt doch, was die Zeitungen geschrieben haben. Eichner sagt, du hast die Spritze aufgezogen. Die Ärzte halten immer zusammen. Selbst wenn dieser Doktor Vogel den Eichner nicht riechen kann … vor Gericht wird er ihn entlasten. Das alles geht auf deine Kosten.«

Marina zündete sich mit nervösen Fingern eine Zigarette an. »Aber, Herbert, willst du mir einreden, daß ich verurteilt werde?«

»Ich will dir nur erklären, wie ernst deine Lage ist.«

»Danke, das weiß ich auch so.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Na also, dann brauchen wir uns ja nicht zu streiten. Ich muß zum Dienst. Wenn ich einen freien Tag habe, rufe ich dich an.«

Enttäuscht folgte sie zur Tür.

Einen Augenblick lang standen sie sich gegenüber wie zwei Fremde.

Dann gab er sich einen Ruck. Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Adieu, Mädchen«, sagte er. »Mach’s gut.« Dann ging er …

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