Читать книгу Eugen setzt sich durch - Marie Louise Fischer - Страница 5
Nun grade!
ОглавлениеHerr Schäfer hatte ein komisches Gefühl in der Magengrube, als er Eugen nachsah, wie er auf seinen dünnen braunen Beinen durch das große Portal davontrabte. Am liebsten hätte er ihm ein Wort der Ermutigung mit auf den Weg gegeben, aber so etwas stand ihm als Chauffeur nicht zu, und Herr Schäfer wußte genau, was einem Chauffeur zusteht.
Die Schüler der vierten Klasse waren schon vollzählig versammelt, als Eugen eintrat. Sie standen in Gruppen beisammen, schrien und lachten, boxten sich gegenseitig in die Rippen, machten Faxen und alberten herum. Um Eugen kümmerte sich niemand. Er blieb still bei der Türe stehen und wußte nicht, was er tun sollte.
Er war schrecklich enttäuscht. Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt, er hatte gedacht, sie würden ihn mit Hallo begrüßen, er hatte sich schon ausgedacht, was er ihnen erzählen wollte, von seinen Reisen und von seiner elektrischen Eisenbahn und von den Pyramiden in Ägypten, wo er über ein Jahr gelebt hatte. Aber sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Eugen muße schlukken, er spürte ein verdächtiges Würgen in der Kehle. Warum beachtete ihn niemand? Sie mußten ihn doch bemerkt haben, sie waren doch nicht blind, aber sie taten, als wenn sie der neue Schüler überhaupt nicht interessierte, als wenn er einfach Luft für sie wäre.
Endlich trat Herr Boelke ein. Herr Boelke war der Klassenlehrer. Er hatte einen Kopf wie ein guter runder Vollmond mit einer riesigen glänzenden Glatze darüber. Auf der Nase trug er einen goldgerandeten Zwicker.
Als Herr Boelke eintrat, wurde es sofort ganz still in der Klasse, alle stellten sich neben ihren Plätzen auf. Herr Boelke setzte sich auf das Katheder, putzte seinen Zwicker mit einem großen Taschentuch und setzte ihn wieder auf die Nase.
„Guten Morgen, Jungens!“ sagte er.
„Guten Morgen, Herr Boelke!“ schrie die ganze Klasse.
„Setzt euch!“ sagte Herr Boelke, und alle setzten sich.
Nur Eugen blieb stehen, denn er wußte nicht, wohin er sich setzen sollte.
„Aha!“ sagte Herr Boelke und blickte Eugen über seinen goldgeränderten Zwicker hinweg an. „Da haben wir ja einen neuen Schüler! Willst du dir nicht deinen Mantel ausziehen?“
„Ja, bitte“, sagte Eugen und zog seinen Mantel aus.
„Fritz“, sagte Herr Boelke zu einem großen Jungen, der mindestens dreizehn Jahre alt war, „häng den Mantel von Eugen draußen auf!“
Fritz nahm den Mantel über den Arm und verzog sich nach draußen.
„Du bist also der Eugen Bornemann?“ sagte Herr Boelke.
„Jawohl, Herr Doktor», sagte Eugen.
Er wußte nicht, warum die Klasse vor Lachen brüllte.
„Ruhe!“ sagte Herr Boelke laut. Dann wandte er sich wieder zu Eugen. „Ich bin kein Doktor, Eugen, ich bin einfach Herr Boelke, dein Klassenlehrer!“
„Jawohl, Herr Boelke!“
„Na, du wirst dich schon bei uns eingewöhnen. Setz dich mal erst in die letzte Bank, da ist noch Platz genug für dich. Und ihr seid gefälligst nett zu Eugen und helft ihm, sich zu akklimatisieren!“
„Was ist das?“ fragte der große Fritz und grinste vom einen Ohr bis zum anderen. „Ak… akmatisieren?“
„Erstens sollst du dich melden, wenn du etwas fragen willst, und zweitens… wer kann ihm das Wort akklimatisieren erklären?“ Herr Boelke sah sich fragend in der Klasse um, aber niemand hob einen Finger.
„Niemand?“ sagte Herr Boelke. „Dann will ich mal selber…! Du weißt es, Eugen? Dann mal los!“
Eugen hatte allen Mut zusammengenommen und seinen Finger gehoben, nur so ein ganz klein bißchen, aber Herr Boelke hatte es doch gesehen.
„Akklimatisieren kommt von Klima, das ist ein lateinisches Wort“, sagte er, „es heißt soviel wie Wetter, Wetterlage. Akklimatisieren heißt, sich an ein bestimmtes Klima gewöhnen!“
„Sehr gut, Eugen“, sagte Herr Boelke, „wirklich ausgezeichnet!“
Eugen setzte sich mit heißem Kopf, er hatte das Gefühl, eine Schlacht gewonnen zu haben. Aber da hörte er, wie der Junge vor ihm seinen Nachbarn anstieß und flüsterte: „Ein Streber, dieser Eugen, was?!“
Und Eugens ganze Freude war mit einem Schlag verflogen.
Er meldete sich überhaupt nicht mehr, obwohl er alles wußte, was gefragt wurde, ja, er wußte noch viel mehr. Er war immer ein einsames Kind gewesen, durch seine Krankheit und durch seine zarte Gesundheit von den anderen Kindern getrennt. Er hatte viel Zeit gehabt zu lesen, und er las leidenschaftlich gerne. Die Stunden, in denen er unterrichtet wurde, waren für ihn immer die schönsten gewesen, denn Lernen und Lesen waren für ihn der einzige Zugang zu der bunten Welt gewesen, die ihm selber verschlossen war.
Als in der nächsten Stunde Rechnen an die Reihe kam, nahm ihn Herr Boelke dran, obwohl er sich nicht gemeldet hatte. Aber grade diese Aufgaben, die das vierte Schuljahr jetzt durchnahm, hatte Eugen noch nicht gehabt, und so wußte er keine Antwort. Er stand da und wußte nichts zu sagen, und die Klasse lachte schadenfroh los.
Eugen wurde wütend. Es war oft genug passiert, daß der eine oder andere Junge keine Antwort gewußt hatte, aber niemand hatte ihn deswegen ausgelacht. Nur bei ihm lachten sie!
„Herr Boelke“, sagte er, „es tut mir leid, aber diese Aufgaben habe ich noch nie gerechnet, ich werde mich aber bemühen, diese Lücke so rasch wie möglich auszufüllen!“
Wieder lachte die ganze Klasse, und Herr Boelke mußte „Ruhe!“ brüllen, damit sie wieder still wurde.
„Ist schon gut, Eugen“, sagte er, „du wirst es sicher schnell lernen!“
Dann kam die große Pause, und diese Viertelstunde auf dem Schulhof war schrecklich für Eugen, es kam ihm vor, als wenn er noch nie im Leben so unglücklich gewesen wäre. Nicht daß die Jungen ihn geärgert oder gestoßen hätten, viel schlimmer, sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Mutterseelenallein stand Eugen in einer Ecke des Schulhofes und kaute an einem Apfel, während rings um ihn her der Lärm anschwoll und wieder abklang, große und kleine Jungen an ihm vorüberflitzten, Bälle und fröhliche Schreie durch die Luft flogen. Nur er war allein, ganz allein, so allein wie noch nie in seinem Leben.
Er war nahe daran, in Tränen auszubrechen, aber obwohl es ihm niemand gesagt hatte, wußte er, daß er um keinen Preis weinen durfte. Wenn ihn die anderen würden weinen sehen, würden sie ihn endgültig für einen Schwächling und einen Streber halten. So biß er denn die Zähne zusammen und zwang sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, ein Gesicht, als ob ihn das ganze lustige Treiben auf dem Schulhof nur langvreilte.
Er wollte sich nicht unterkriegen lassen, er würde es denen schon zeigen!
In der nächsten Stunde war Geographie dran, und davon wußte Eugen mehr als alle anderen Jungen zusammen. Er hielt sich jetzt auch nicht mehr zurück, sondern meldete sich bei jeder Frage. Nun grade! Sie sollten ihn noch kennenlernen!
Es war ein sehr unglücklicher, aber ein sehr trotziger und aufrechter Junge, der nach Schulschluß durch das große Portal auf die Straße trat, wo die tomatenrote Limousine auf ihn wartete.
Herr Schäfer wußte nach einem kurzen Blick auf Eugens blasses verschlossenes Gesicht, was los war, aber er sagte kein Wort, sondern öffnete stumm den Schlag.
„Soll ich dich noch ein bißchen spazierenfahren?“ fragte er, als er den Motor anließ.
„Bitte, Herr Schäfer“, sagte Eugen.
Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er war bestimmt der unglücklichste Junge auf der ganzen Welt, niemand wollte etwas von ihm wissen.
Dann blickte er zum Fenster hinaus. Scharen von Jungen und Mädchen strömten nach Schulschluß nach Hause, in kleinen und großen Gruppen, keiner ging allein.
Eugen legte seine kleine Hand auf Herrn Schäfers breite Schulter. „Bitte“, sagte er, „nach Hause!“