Читать книгу Eugen setzt sich durch - Marie Louise Fischer - Страница 7
Lumpen sammeln
ОглавлениеEine Tages dribbelte Eugen mutterseelenallein mit dem Fußball auf dem gepflasterten Platz, der vor der Garage lag. Er hatte seine Schularbeiten gemacht, zum Lesen hatte er keine Lust, und er fühlte sich unglücklicher denn je. Es war jetzt acht Tage her, seit er zum erstenmal in die Schule gegangen war, aber ihm erschien es eine Ewigkeit.
Plötzlich sah er, wie ein Junge mit weißblondem Haar sich an den Mülleimern zu schaffen machte. Es war Karl. Sein Gesicht leuchtete vor Eifer.
Eugen stieß den Fußball vor sich her und lief zu den Mülleimern.
„Was machst du denn hier?“ fragte er.
„Geht dich das was an?“
„Ich habe doch nur gefragt!“ sagte Eugen.
Die beiden Jungen sahen sich einen Augenblick lang prüfend an, dann steckte Karl seine Arme wieder in den Mülleimer und holte einen Stoß alter Zeitungen daraus hervor, die er in einen mitgebrachten Sack steckte. In einen zweiten Sack tat er eine leere Konservendose.
„Wohnst du hier?“ fragte er dann.
„Ja.“
„Verdammt feiner Kasten!“ sagte Karl und kräuselte anerkennend die Nase.
Eugen nahm all seinen Mut zusammen. „Willst du nicht… willst du nicht ’raufkommen zu mir? Ich habe eine elektrische Eisenbahn!“
„Geht nicht“, sagte Karl mit der Miene eines Geschäftsmannes, der noch eine wichtige Sitzung vor sich hat, „habe zu tun!“
„Wozu machst du das?“ fragte Eugen.
„Zum Geldverdienen, natürlich!“
„Mit so etwas kann man Geld verdienen?“
„Na klar.“
„Wieviel kriegt man denn für einen Sack voll?“
„Kommt drauf an, was drin ist. Ich sammle die ganze Woche. Mal krieg’ ich ’ne Mark fuffzig, manchmal nur siebzig Pfennige.“
„Ach!“ sagte Eugen.
„Dann ’tschüß!“ sagte Karl, der die Tonne durchsucht hatte und seine beiden Säcke schulterte.
„Kann ich dir nicht helfen?“ fragte Eugen.
„Du… mir!?“
„Ich… ich könnte doch den einen Sack tragen!“ sagte Eugen.
„Das ist eine dreckige Arbeit“, sagte Karl.
„Das macht doch nichts!“
„Na, wenn du willst!“ sagte Karl großmütig und gab Eugen einen Sack ab. „Du mußt ihn höher auf den Rücken nehmen“, erklärte er, als Eugen ihn ungeschickt zu schultern versuchte, „sonst ist er zu schwer!“
Die beiden Jungen liefen mit ihren Säcken von Vorgarten zu Vorgarten, von Mülleimer zu Mülleimer, und Eugen merkte bald, daß Karl recht gehabt hatte — es war wirklich eine dreckige Arbeit! Aber trotzdem fühlte er sich so glücklich wie noch nie, denn Karl behandelte ihn als Kameraden.
Eugen lernte bald zu unterscheiden, was ein guter Fund und was ein schlechter war, in den einen Sack kamen das Papier und die Lumpen, in den anderen Konservendosen, leere Flaschen und Gläser, durchlöcherte Töpfe, Topfdeckel und überhaupt alles, was aus Metall oder Glas war.
Für Eugen war es ein aufregendes Abenteuer, denn noch nie in seinem Leben hatte er etwas Ähnliches gemacht, und als Karl einmal sagte: „Zu zweien geht das viel besser!“ — fühlte Eugen sich wie im siebenten Himmel.
Ohne daß er es merkte, hatten sie das Vorortviertel mit seinen breiten ruhigen Straßen und den einzelnen Villen in den großen Gärten verlassen, sie waren in eine ganz andere Gegend der Stadt gekommen, wo die Häuser schmal und hoch und eng aneinandergedrängt standen, wo elektrische Bahnen klingelten und Autos hupten.
„So, hier wohne ich“, sagte Karl plötzlich und setzte seinen Sack ab. Er zog einen Schlüssel unter seinem Hemd vor, der an einer Schnur um seinen Hals hing, und schloß die Haustür auf. „Jetzt müssen wir die Säcke in den Keller tragen!“
Sie kamen durch einen düsteren Hausflur und trugen die Säcke eine schmale Stiege hinunter. In einer durch Holzbrettchen abgegrenzten Ecke lagen schon zwei große Haufen von Papier und Gerümpel.
„Schon ’ne ganze Menge, was?!“ sagte Karl stolz, als sie ihre Säcke ausschütteten. „Morgen liefere ich ab!“
„Darf ich da mitkommen?“ fragte Eugen.
„Klar, wenn du willst!“ sagte Karl und fuhr sich mit der schmutzigen Hand über die Stirn. „Was meinst du, was ich mit so was schon verdient habe? Ich mache natürlich auch andere Sachen, aber mit Lumpensammeln verdient man doch am meisten.“
„Ich weiß es nicht“, sagte Eugen.
„Hundertfünfzig Mark!“ sagte Karl stolz.
„Ist das viel?“ fragte Eugen.
„Mensch… du weißt nicht, wieviel hundertundfünfzig Mark sind!?“
„Nein“, sagte Eugen, „ich habe ja auch Geld, in meiner Spardose, aber Vater tut es immer für mich auf die Bank.“
„Hast du denn noch nie was im Laden gekauft!?“
„Nein“, sagte Eugen. „Weißt du, ich habe ja alles, was ich brauche.“
„So was gibt’s!“ sagte Karl völlig verblüfft.
„Wie lange hast du denn dafür gearbeitet… für die hundertundfünfzig Mark?“
„Fast zwei Jahre!“
„Fräulein Luise hat sich neulich ein Kleid gekauft, das kostete zweihundertfünfzig Mark und war gar nicht mal besonders schön!“
„Hundertundfünfzig Mark sind schon eine ganze Stange Geld!“ sagte Karl.
„Wofür brauchst du denn Geld?“
„Weil ich doch auf die höhere Schule will!“
„Ist das so teuer?“
„Das Schulgeld nicht, aber man liegt seinen Eltern dann doch so lange auf der Tasche!“
Eugen wagte nicht weiter zu fragen, aber er machte ein so verständnisloses Gesicht, daß Karl sich zu einer Erklärung herbeiließ.
„Paß mal auf“, sagte er und setzte sich auf die Kellertreppe, „das ist so! Wenn du auf die Volksschule gehst, kommst du mit vierzehn Jahren ’raus und in eine Lehre. Verstanden?“
„Klar“, sagte Eugen und wunderte sich selber darüber, wie glatt ihm dies ungewohnte Wort aus dem Munde kam.
„Wenn du auf die höhere Schule gehst, kommst du erst mit achtzehn ’raus. Du liegst deinen Eltern also noch vier Jahre länger auf der Tasche, nein, sieben! Denn in den nächsten drei Jahren verdienst du ja auch noch nicht richtig!“
„Über so etwas habe ich noch nie nachgedacht!“ sagte Eugen.
„Brauchst du ja auch nicht, Mensch! Dir kann das doch ganz piepe sein!“ sagte Karl und sprang auf die Beine. „So, jetzt muß ich aber ’rauf, Hanna ist sicher schon zu Hause!“
„Wer ist denn Hanna?“
„Hanna ist meine Mutter!“
„Du hast eine Mutter?“
„Du nicht?“
„Nein“, sagte Eugen. „Warum nennst du sie denn Hanna, deine Mutter?“
„Weil sonst doch kein Mensch Hanna zu ihr sagt, seit Vater tot ist.“
„Ach so“, sagte Eugen.
Sie waren während dieses Gespräches die Kellertreppe hinaufgestiegen und standen sich nun ein bißchen zögernd in dem düsteren Flur gegenüber. Eugen wäre gerne noch zu Karl mit nach oben gegangen, und Karl hätte Eugen gerne mitgenommen.
In diesem Augenblick wurde die Haustür aufgeschlossen, und ein junges Mädchen kam kerein. Aber es war gar kein junges Mädchen, sondern Karls Mutter, denn er schrie laut „Hanna!“ und stürzte ihr entgegen.
„Mein Junge“, sagte Hanna und fuhr ihm durch das weißblonde struwwelige Haar.
„Warum kommst du erst so spät?“ fragte Karl.
„Ich war schon zu Hause, ich habe nur noch schnell ein Brot geholt“, sagte Hanna. „Du hast einen Freund mitgebracht…?“
Sie streckte Eugen ihre Hand entgegen, aber er versteckte seine Hände rasch auf dem Rücken.
„Entschuldigen Sie, bitte, gnädige Frau“, sagte er, „aber ich fürchte, meine Hände sind sehr schmutzig!“
„Uff!“ sagte Karl.
„Dann komm schnell mit hinauf und wasch dich“, sagte Hanna, „Karl sieht bestimmt auch wieder aus wie ein Straßenräuber!“