Читать книгу Liebe im Grand Hotel - Marie Louise Fischer - Страница 4

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»Ich habe verstanden, daß du heute deinen dritten Hochzeitstag hast«, sagte die Hotelsekretärin Lona Simon, »es ist durchaus nicht nötig, daß du das dauernd wiederholst. Ich begreife nur nicht, daß dir das erst heute einfällt!«

Sie saß auf dem schweren antiken Schreibtisch im Büro des Hoteliers, die Beine mit den zierlichen Fesseln übereinandergeschlagen, und stach mit der Spitze ihres Kugelschreibers Löcher in den Stenogrammblock, der auf ihren Knien lag.

Urban Horster stand vor ihr, die Hände in den Taschen seines korrekten dunklen Anzugs, und zeigte jenes hinreißende Lächeln, das ihm seit jeher die Sympathien aller weiblichen Hotelgäste eingetragen hatte.

»So, begreifst du das wirklich nicht?« fragte er neckend. »Darf ich dich daran erinnern, daß ein faszinierendes junges Mädchen namens Lona es verstanden hat, mir so völlig den Kopf zu verdrehen, daß man es fast ein Wunder nennen kann, wenn ich mich überhaupt noch an meinen eigenen Namen erinnern kann?«

Sein Charme prallte an ihr ab.

»Ach, laß doch die blöden Witze«, sagte sie wütend. »Es gibt Dinge, die man einfach nicht vergißt. Seit Wochen habe ich mich auf diesen Tag gefreut …«

»Ich doch auch, Liebes«, sagte er begütigend und wollte seine Hand auf ihren Arm legen.

Sie stieß seine Hand heftig zurück.

»Ach, mach mir doch nichts vor! Es ist doch immer dasselbe. Deine Frau braucht bloß mit dem kleinen Finger zu winken, und schon läßt du mich im Stich.«

Sie warf ihr schulterlanges schwarzes Haar mit einer wilden Kopfbewegung zurück.

»Lona, Liebes, nun nimm doch mal Vernunft an …«

»Aber wieso gerade ich? Warum verlangst du nicht von deiner Frau, daß sie vernünftig sein soll? Schließlich ist es ja ihre eigene Dummheit. Warum hat sie dich erst heute an diesen blöden Hochzeitstag erinnert?«

»Weil sie erwartet hat, daß ich von selber daran denken würde!«

»Dann kennt sie dich aber schlecht.«

»Kann sein.«

Urban Horster nahm sich eine Zigarette aus dem schweren, wunderbar ziselierten Silberkasten und zündete sie sich mit dem Tischfeuerzeug an.

»Ich jedenfalls …« begann Lona.

»Das kann ich mir denken«, sagte er, »du hättest mich Tag und Nacht daran erinnert. Aber im Gegensatz zu dir ist Ellen eben bemüht, mir nicht auf die Nerven zu fallen.«

»Soll das heißen …?« Sie rutschte vom Schreibtisch, ließ Stenoblock und Kugelschreiber fallen und trat auf ihn zu, tiefen Vorwurf in den großen dunkelbraunen Augen, deren Wirkung sie durch ein geschicktes Make-up noch vergrößerte.

»Natürlich nicht«, sagte er rasch, »sei doch nicht so empfindlich. Ich wollte dich nicht beleidigen, nur … Versuch doch endlich zu verstehen! Ich liebe dich … ja, nur dich! Aber an unserem Hochzeitstag muß meine Frau wirklich vorgehen.«

Er machte keinen Versuch, sie in die Arme zu nehmen, und sie begriff plötzlich, wie ernst es ihm war und daß sein Widerstand nicht so leicht zu brechen sein würde wie sonst. In Sekundenschnelle hatte sie einen kindlich bettelnden Ausdruck in ihr pikantes kleines Gesicht gezaubert.

»Schrecklich«, sagte sie mit leiser Stimme, »ich muß doch heute nach Straßburg! Die Kleider sind fertig und …«

Sie schluckte schwer.

»Die Kleider! Deshalb brauchst du doch nicht traurig sein! Die können wir doch genausogut noch nächste Woche abholen.«

»Aber ich kann doch nicht noch länger in demselben alten Zeug herumlaufen!«

Er musterte ihre Erscheinung, den schmalen grauen Rock, der ihre runden Hüften und die schlanke Taille betonte, den korallenroten kurzärmeligen Pullover, der sich um ihren festen Busen schmiegte. Plötzlich war das alte Lächeln wieder in seinem Gesicht.

»Mir gefällst du sehr gut so«, sagte er schmunzelnd.

»Das ist doch kein Argument!«

»Na, dann darf ich dich vielleicht daran erinnern, daß dein Kleiderschrank so prall gefüllt ist, daß er fast aus den Scharnieren platzt!«

»Urban«, sagte sie schmollend, »Liebling, du hast ja recht. Ich bin ein ganz dummes kleines Ding, aber ich hatte mich nun mal so darauf gefreut! Bitte, bitte, tu mir doch die Liebe, fahr mit mir nach Straßburg … nur ganz rasch hin und wieder zurück! Dann kannst du doch nachher immer noch …«

Er stieß seine Zigarette mit einer ungeduldigen Bewegung in die kupferne Aschenschale.

»Warum mußt du dir auch ausgerechnet deine Kleider in Straßburg kaufen! Als wenn es hier in Baden-Baden nicht genug Möglichkeiten gäbe!«

»Liebling«, sagte sie sanft, »hast du denn ganz vergessen, warum ich das tue? Doch nur dir zuliebe. Du selber hast mich doch darum gebeten … damit ich dich nicht kompromittiere. Damit die Klatschmäuler hier sich nicht den Mund darüber zerreißen können, woher ich das Geld habe, mir teure Modellkleider zu kaufen.«

Er stieß noch immer seine schon gänzlich zerdrückte Zigarette in die Aschenschale.

»Du würdest mir entschieden mehr damit helfen, wenn du versuchen würdest, deine Ansprüche ein bißchen herabzuschrauben. Du weißt genau, daß ich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten bin. Ich habe große Kredite aufnehmen müssen …«

»Na eben«, fiel sie ihm kaltschnäuzig ins Wort, »da kommt es auf ein paar lumpige Tausender mehr oder weniger doch auch nicht an!«

Es sah sie an, und in seine leuchtend blauen Augen trat ein kalter Glanz. Er bereute plötzlich, daß er sich überhaupt mit ihr eingelassen und daß er es dahin hatte kommen lassen, daß sie so mit ihm zu sprechen wagte. Sie war attraktiv, und sie hatte es verstanden, sein Interesse zu wecken und, länger als jede andere vor ihr, wachzuhalten. Aber sie war nicht die einzige reizvolle Frau auf der Welt, und von jeher hatten die Frauen es ihm leichtgemacht. Warum sollte er sich gerade von dieser einen beherrschen lassen?

»Geh zum Teufel«, sagte er grob, »ich habe genug von dir.«

Lonas Gesicht wurde zu einer glatten, ausdruckslosen Maske.

»Danke«, sagte sie kühl, »ich danke dir für deine Aufrichtigkeit. Es ist immer gut, ganz klar zu wissen, woran man ist.«

Sie nahm den Stenogrammblock und ihren Kugelschreiber vom Boden auf und fragte mit ironischer Beflissenheit:

»Haben Sie mir noch etwas zu diktieren, Herr Horster? Oder irgendwelche Anweisungen zu geben? Nein? Dann darf ich mich jetzt wohl zurückziehen.«

Sie ging zur Tür, als ob sie das Zimmer verlassen wollte, drehte sich aber, die Klinke schon in der Hand, noch einmal um.

»Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, sagte sie mit einem süßen Lächeln, »ich werde schon jemanden finden, der mich nach Straßburg fährt – und mir meine Kleider bezahlt!«

Urban Horster war fest entschlossen gewesen, sie gehen zu lassen, aber diese Andeutung genügte, seine guten Vorsätze zunichte zu machen. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und packte ihre Handgelenke.

»Was soll das heißen?«

»Als ob du mich nicht ganz genau verstanden hättest! Ich pfeife auf deine Liebe, wenn sie so aussieht. Ich habe knickrige Männer seit jeher gehaßt. Gott sei Dank gibt es ja noch andere!«

»Du Biest!«

Er preßte ihre Handgelenke, so daß sie zusammenzuckte, aber das herausfordernde Lächeln schwand nicht von ihrem Gesicht.

»Traust du es mir etwa nicht zu?«

Er haßte sie in diesem Augenblick, haßte sie von ganzem Herzen. Aber die Vorstellung, daß ein anderer Mann ihren geschmeidigen Körper genießen sollte, machte ihn rasend. Er riß sie in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich!«

»Wir fahren«, flüsterte sie mit glänzenden Augen, als er sie endlich freigab, »nicht wahr … wir fahren!«

Als Urban Horster zehn Minuten später sein Büro verließ und in die Hotelhalle trat, hatte er eine Sekunde lang das irritierende Gefühl, daß alle Blicke sich auf ihn richteten. Er mußte an sich halten, um nicht an seiner Krawatte zu zupfen oder sich über das Haar zu streichen.

Nur mit Aufbietung aller Willenskraft gelang es ihm, Gelassenheit vorzutäuschen. Er wußte ja, daß seine Erscheinung in Ordnung war, er hatte sich selber vor dem Spiegel überzeugt. Niemand konnte ahnen, was in seinem Büro vor sich gegangen war, und doch – sah ihn der Empfangschef, Herr Thomas, nicht mit einem sonderbaren Ausdruck an? Und lag in den blauen Augen der Empfangssekretärin Hilde Protius nicht unverhohlene Neugier?

Nur mit Mühe zauberte er das gewohnheitsmäßige Lächeln auf sein Gesicht.

Es war Ende März, die Saison hatte noch nicht begonnen. In der weiten, sehr luxuriös mit echten Teppichen und kostbaren antiken Möbeln eingerichteten Halle des Grandhotel Horster herrschte gedämpfte Ruhe. Nur zwei ältere Ehepaare, ein emeritierter Professor und eine Gruppe Amerikaner saßen in den tiefen Ledersesseln und genossen den Ausblick auf die Parkanlagen der Lichtentaler Allee, deren mächtige alte Kastanien gerade die ersten dicken klebrig-grünen Knospen zeigten, und auf die blauen Berge des Schwarzwalds jenseits der Kurstadt, plauderten halblaut miteinander, blätterten in Zeitschriften, tranken Mokka.

Der Hotelier trat an den Empfangstisch, wechselte ein paar Worte mit Herrn Thomas, vergewisserte sich, daß alle Vorbereitungen für den Empfang einer Gruppe belgischer Touristen getroffen waren, die am späten Nachmittag erwartet wurde.

Wie die meisten Hotels war auch das Horster, besonders in der stillen Zeit, darauf angewiesen, Reisegesellschaften aufzunehmen, und wie die meisten Hoteliers haßte Urban Horster diese Gäste, die wie die Heuschrecken für eine Nacht einfielen, um meist schon in der Frühe des nächsten Morgens wieder aufzubrechen.

»Wie lange bleiben sie?« fragte er.

»Sie haben für drei Tage gebucht«, gab der Empfangschef Auskunft, »mit voller Pension.«

»Na, das ist wenigstens etwas.« Urban Horster seufzte leicht. Der Empfangschef schien die Gedanken des Hoteliers zu erraten.

»Es war seht geschickt, dieses Abkommen mit Round the World zu schließen«, sagte er, »es ist für uns wirklich äußerst günstig.«

»Günstig? Lebensnotwendig!«

Urban Horster nickte seinem Empfangschef zu und begab sich auf einen raschen Rundgang durch die Halle. Er verbeugte sich vor jedem einzelnen der Gäste, fragte nach ihren Wünschen, erkundigte sich, wie sie den Vormittag verbracht hatten und nach ihren weiteren Plänen. Niemals war es ihm so schwergefallen wie heute, Interesse zu heucheln, aber nicht eine Sekunde lang kam ihm der Gedanke, sich vor dieser Pflicht zu drücken. Er war in diesem Hotel aufgewachsen und hatte schon als Junge gelernt, daß die Kunst, den Gästen das Gefühl zu geben, daß der Hotelier persönlich an ihren Freuden, Wünschen und auch Sorgen Anteil nimmt, mindestens so wichtig wie jeder Komfort ist.

Ohne mit der Wimper zu zucken ließ er den Redeschwall einer extravaganten Amerikanerin über sich ergehen, die sich bitter darüber beklagte, daß das Kostüm, das sie sich in einem der besten Modesalons Baden-Badens hatte anfertigen lassen, angeblich nicht saß. Selbst als der emeritierte Professor, ein leidenschaftlicher Botaniker, ihn in ein Gespräch über die Flora des Schwarzwaldes verwickeln wollte, verlor er keinen Augenblick die Geduld. Er sagte: »Ja, Herr Professor!« und »Nein, Herr Professor!« an genau den richtigen Stellen, »Wie interessant!« und »Wirklich bemerkenswert!«

Aber seine Gefühle und Gedanken wurden hin und hergerissen zwischen dem Mädchen, das er eben verlassen hatte, und seiner Frau, die auf ihn wartete.

Wie soll ich es Eva nur klarmachen, daß ich heute abend keine Zeit habe? grübelte er. Wenn ich nur wüßte, wie ich es ihr beibringen kann!

Das Privathaus Urban Horsters stand am anderen Ende des ausgedehnten Parks, der sich hinter dem Grandhotel Horster erstreckte. Noch um die Jahrhundertwende hatten hier Stallungen und Kutscherwohnungen gestanden.

Urban Horsters Vater hatte einen Teil der schon halb verfallenen Gebäude abreißen, den Hauptteil völlig umbauen und nach eigenen Entwürfen renovieren lassen, bis ein einstöckiges, anheimelndes Haus entstanden war, in das er sich mit seiner Frau zurückzog, als er Urban und dessen Frau das Hotel übergab. Den überaus fleißigen, noch gar nicht betagten Eltern Urban Horsters war aber kaum Zeit geblieben, ihren Lebensabend zu genießen; sie waren knapp drei Jahre später rasch hintereinander gestorben.

Urban Horster hatte mit seiner ersten Frau Clara geborene Höchli, der Tochter eines Schweizer Gastronomen, in einem Appartement im Hotel gewohnt. Dort waren auch ihre Tochter und ihr Sohn geboren worden und hatten ihre erste Kindheit verlebt. Als Clara im siebten Ehejahr starb – an einer heimtückischen Krankheit, die sie erst sehr spät erkannt und viel zu spät hatte behandeln lassen, weil sie nie Zeit oder Gedanken an ihre Gesundheit verwandt hatte – war Urban Horster mit seinen Kindern, der damals sechsjährigen Susi und dem drei Jahre alten Teddy, im Hotel wohnen geblieben. Erst als er sich in seine zweite Frau, die junge Jurastudentin Eva, verliebt hatte, war ihm der Gedanke gekommen, in das alte Privathaus überzusiedeln.

Seine junge Frau war froh darüber gewesen. Ihr bedeutete das Hotel nichts, sie war zufrieden, daß sie sich mit den Kindern in das kleine Haus am Ende des Parkes zurückziehen konnte. In den ersten Monaten ihrer Ehe war sie vollauf beschäftigt, hier Gemütlichkeit und Behagen zu schaffen und das Vertrauen ihrer Stiefkinder zu gewinnen. Schon bald zeigte es sich, daß sie selber Mutter werden würde. Etwa ein Jahr nach ihrer Eheschließung brachte sie ihre kleine. Tochter Barbara, genannt Babsy, zur Welt, und von nun an war ihr Leben noch mehr mit Hausfrauensorgen und Mutterpflichten ausgefüllt.

Während ihrer ganzen Ehe war sie kaum ein dutzendmal im Hotel gewesen, und auch dann immer nur aus ganz besonderen Anlässen. Dennoch blieb es nicht aus, daß der Hotelbetrieb sich immer mehr wie eine Macht in ihr Bewußtsein drängte, eine befremdliche, ja, fast feindliche Macht, die ihr die Liebe und die Aufmerksamkeit ihres Mannes zu rauben drohte.

Oft stand sie, wie auch heute, am Fenster ihres Schlafzimmers und sah in den Park hinaus. Sie konnte von hier aus über Büsche und Bäume hinweg die Hinterfront des Grandhotel Horster erblicken, und sie versuchte sich vorzustellen, was ihr Mann in diesem Augenblick tat. Dachte er an sie? Sie zweifelte daran. Sie fühlte nur zu deutlich, daß er ihr in der letzten Zeit mehr und mehr entglitten war.

Eva seufzte schwer, senkte den Blick ihrer hellen grauen Augen auf die riesige Baustelle des Schwimmbeckens, die sich vom Hotel aus tief in die wunderbaren Grünanlagen des Parks hineingefressen hatte. Noch immer konnte sie diesen Anblick nicht ertragen, ohne daß ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

Wegen dieses Schwimmbeckens hatte es zwischen ihr und ihrem Mann zum erstenmal eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Urban hatte ihr erklärt, daß das Publikum immer anspruchsvoller würde und daß das Hotel ohne eigenes Schwimmbad auf die Dauer nicht konkurrenzfähig bleiben könnte. Obwohl sie seine Argumente begriffen hatte, war ihr der Gedanke, daß der alte Park zerstört werden sollte, so verhaßt gewesen, daß sie sich aufs Bitten und Flehen verlegt hatte.

Aber zum erstenmal war er nicht der liebende, verliebte Ehemann gewesen, sondern hatte mit ungewohnter Härte reagiert.

»Hör auf damit«, hatte er grob gesagt, »ich habe genug Kämpfe durchzustehen. Es ist durchaus nicht nötig, daß auch du mir noch in den Rücken fällst. Kümmere dich um Dinge, von denen du etwas verstehst. Ich habe nicht die geringste Lust, mich mit dir herumzustreiten.«

Dieses Gespräch hatte mit einem Mißklang geendet. In Evas Seele war ein Stachel zurückgeblieben. Sie konnte nicht begreifen, auch jetzt noch nicht, wieso der Mann, an dessen Liebe sie glaubte, so böse werden konnte, nur weil sie ein einziges Mal gewagt hatte, ihm gegenüber eine eigene Meinung zu vertreten.

Dennoch liebte sie ihn rückhaltlos wie am ersten Tag und hatte alles versucht, sein Herz zurückzugewinnen. Während sie in den Park hinabschaute durchlitt sie in Gedanken noch einmal all die unzähligen Zurückweisungen, die sie in den letzten Monaten erlebt hatte, all die nadelfeinen Stiche der Demütigung.

Den ganzen Herbst über hatten die Bagger im Park gearbeitet und sich tiefer und tiefer in den hundertjährigen Rasen hineingefressen. Noch bevor der Frost kam, wurden sie von den Betonmaschinen abgelöst. Baukolonnen setzten die Verschalungen, fremde Männer trampelten über Gartenbeete und Grünflächen.

Eva war es, als ob diese Zerstörung symbolisch für den Zerfall ihrer eigenen Ehe wäre.

Sie straffte ihre Schultern. Nein, sie durfte nicht aufgeben, weder sich noch den Mann, den sie liebte. Wenn es so weit gekommen war, dann mußte sie etwas falsch gemacht haben – ganz bestimmt lag die Schuld bei ihr.

Sie hätte ihm wirklich niemals in Dinge hineinreden dürfen, von denen sie nichts verstand. Was lag schon an dem alten Park! Wie hatte er ihr auch nur eine Sekunde lang wichtiger sei können als ihre Ehe.

Sie hatte Fehler gemacht, aber noch war es nicht zu spät. Sie mußte ihre ganze Ehe neu aufbauen – und plötzlich sah sie den neuen Weg, den sie beschreiten wollte, klar vor sich.

Sie schloß die Fenster, durchschritt den Schlafraum, trat ins Kinderzimmer, wo die kleine Babsy, das Fäustchen vor dem Mund, tief und fest schlief. Sie drückte einen zärtlichen Kuß auf die runde Wange des Kindes, trat auf die Galerie hinaus.

»Susi!« rief sie laut. »Susi! Teddy, kommt, helft mir … wir wollen was Feines für Vati vorbereiten!«

Wenig später stand sie in der Küche, hackte Eier, Gurken, Kräuter und Kapern für eine Remouladensoße. Susi, eine große Schürze umgebunden, rührte Teig, Teddy bearbeitete Eiweiß mit dem Schneebesen.

Der Junge war es, der als erster hörte, daß die Haustür aufgeschlossen wurde. »Mutti!« brüllte er. »Susi! Vati kommt!«

Eva stand den Bruchteil einer Sekunde starr und lauschte. Das Geräusch der zuschlagenden Haustür war nicht zu überhören. Eva legte das Kräuterbüschel aus der Hand und sagte mit einem erregten Lächeln:

»Na, so etwas! Und wir sind noch gar nicht fertig!«

Sie schlüpfte aus ihrem hellblauen Kittel und fuhr sich mit der Hand ordnend über das rotblonde Haar.

Teddy war in dem Augenblick, als sie sich abwandte, rasch mit dem Zeigefinger in die Remouladensoße gefahren und leckte nun seine Hand genüßlich ab.

»Raus aus der Küche«, sagte Eva. »Wir müssen Vati noch begrüßen!«

Sie rannte mit den Kindern um die Wette in die Halle, den größten Raum des Hauses, der fast das ganze Erdgeschoß einnahm und mit seiner Balkendecke und dem mächtigen gemauerten Kamin ganz so geblieben war, wie der alte Horster den Raum seinerzeit für sich selber entworfen hatte.

Sie hatten sich nicht getäuscht. Urban Horster stand in der Halle und war gerade im Begriff die Treppe hinaufzusteigen.

Susi und Teddy begrüßten ihren Vater stürmisch, während Eva sich zurückhielt. Auch heute fühlte sie – wie jedesmal, wenn sie ihren Mann nach längerer oder kürzerer Zeit wiedersah – das unbeschreibliche Gefühl überwältigender Liebe.

Ich darf ihn nicht verlieren, dachte sie. Lieber Gott, hilf mir, daß alles wieder so wird, wie es früher war!

Urban Horster dehnte die Begrüßung seiner Kinder länger aus, als notwendig gewesen wäre, er scheute sich davor, Eva in die klaren grauen Augen zu sehen. Der vertrauensvolle Blick seiner Frau verstärkte sein Unbehagen, das aus einem uneingestandenen Schuldbewußtsein herrührte.

Endlich mußte er sich ihr doch zuwenden. Sie warf sich in seine Arme, und der frische, herbe Geruch ihres rotblonden Haares erinnerte ihn, ohne daß er es wollte, an die wunderbare Zeit ihrer ersten Liebe, als sie ihm noch eine Welt bedeutet hatte.

»Wie schön, daß du schon da bist!« flüsterte sie dicht an seinem Ohr.

Ohne es zu ahnen, brach sie mit diesen Worten den Zauber. Die Erinnerung verblaßte, die Gegenwart forderte ihr Recht.

Er küßte sie flüchtig auf die Stirn und schob sie sanft von sich. »Leider«, sagte er, »habe ich nur sehr wenig Zeit!«

Diese Erklärung, die wie ein Leitfaden durch die ganzen Jahre ihrer Ehe gegangen war, ließ das Lächeln auf ihrem Gesicht erlöschen.

»Mußt du noch einmal fort?« fragte sie enttäuscht.

»Leider«, sagte er wieder und trat, nur um sie nicht ansehen zu müssen, zum Kamin, stieß mit dem Fuß gegen die sorgfältig aufgeschichteten Buchenscheite.

Eva wandte sich an ihre kleine Stieftochter.

»Susi«, sagte sie, »sei lieb und lauf rauf zu Babsy, sie kann jeden Augenblick aufwachen!«

»Och, ich?« sagte Susi unzufrieden. »Du hast mir doch versprochen …« Ihr fiel etwas ein und sie behauptete erleichtert:

»Überhaupt, ich muß doch jetzt zum Tattersall und mich wegen der nächsten Reitstunde erkundigen.«

»Das wird doch wohl eine halbe Stunde Zeit haben!«

»Eben nicht! Bitte!«

Susi sah nicht ihre Stiefmutter, sondern ihren Vater an, und sie hatte den gewünschten Erfolg – Urban Horster hoffte nichts sehnlicher, als daß das Erwachen seiner Jüngsten dem quälenden Gespräch mit Eva ein vorzeitiges Ende bereiten möge.

»Na, lauf schon«, sagte er und nickte seiner Tochter zu.

Susi stürzte auf ihn zu, ihr Gesichtchen unter dem glatten kurzen Pony glühte vor Erleichterung und Triumph. Sie küßte ihren Vater heftig, drehte sich auf dem Absatz um und rannte in die Garderobe.

Eva lag eine Bemerkung über diese fragwürdigen Erziehungsmethoden schon auf der Zunge, aber sie unterdrückte ihre Empörung. Auf keinen Fall wollte sie es gerade an diesem Tag zu einem Streit kommen lassen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, kämpfte mit sich, ob sie bleiben oder doch rasch nach oben ins Kinderzimmer schauen sollte.

Ganz unerwartet kam ihr Teddy zu Hilfe.

»Ich kann ja raufgehen«, erbot er sich.

»Ach ja«, sagte Eva erleichtert, »das wäre sehr lieb von dir!«

Sie sahen ihm nach, wie er die Treppe hinaufstapfte, sehr klein für seine neun Jahre, aber ungeheuer entschlossen und ganz Kavalier.

Dann wandte sich Eva ihrem Mann zu.

»Aber heute abend kommst du doch«, sagte sie, und es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.

Er sah sie nicht an. »Ich werde versuchen, es einzurichten.«

»Das heißt, du weißt es noch nicht bestimmt?«

»Eva«, sagte er gereizt, »du bist doch keine dumme Frau. Langsam solltest du doch wohl begriffen haben, daß es für einen Hotelier kein Recht auf Freizeit gibt und daß in meinem Beruf immer unvorhergesehene Dinge passieren können.«

»Ja«, sagte sie ruhig, »ich weiß.«

»Also …« Er machte eine Bewegung zur Tür hin.

Sie vertrat ihm den Weg.

»Gerade darüber wollte ich ja mit dir reden. Bitte, Urban, mach nicht so ein Gesicht … ich will dir ja keine Vorwürfe machen, wirklich nicht.«

Sie hatte das alles nicht jetzt, sondern erst am Abend, nach einem festlichen kleinen Mahl bei einer Flasche Champagner sagen wollen, aber jetzt, da sie einmal begonnen hatte, konnte sie sich einfach nicht länger zurückhalten.

»Urban«, sagte sie, »ich habe nachgedacht, über uns beide und über das Leben, das wir führen. Du liebst mich doch noch?«

»Aber ja«, sagte er unbehaglich, »was für eine Frage!«

»Sonst hätte es nämlich gar keinen Zweck. Aber ich weiß ja, daß du mich liebst. Wenn ich nicht alles falsch gemacht hätte –«

»Was für ein Unsinn«, unterbrach er sie. »Rede dir doch nicht solche Sachen ein!«

»Ich bin ein Feigling«, sagte sie, »ich habe mich vor dem Leben gedrückt, ich habe Zuflucht in der Ehe suchen wollen. Aber das geht nicht. Das Leben läßt sich nicht betrügen, es rächt sich, und nur deshalb –«

Er ließ sie nicht weiterreden. »Eva«, sagte er, »ich weiß, wie gescheit du bist. Aber ich bin nun mal ein simpler Geschäftsmann, der für philosophische Gedankengänge keinen Sinn hat, und außerdem …«

Er warf einen ostentativen Blick auf seine Armbanduhr.

»Nein, bleib«, forderte sie entschlossen. »Einmal wird das Hotel wohl fünf Minuten auf dich warten können. Ich habe dir etwas sehr Wichtiges zu sagen!«

Er zuckte die Schultern, steckte die Hände in die Taschen und sah sie an – sein Lächeln zeigte jene Spur von Herablassung, die sie rasend machen konnte.

»Also, wenn’s wirklich nicht länger dauert … schieß los.«

»Ich habe mich entschlossen, dir im Hotel zu helfen.«

Sein Lächeln verschwand, dann lachte er laut auf.

»Du … mir?« rief er. »Was für eine Idee!«

»Es ist mir völlig klar, daß du dich erst an diesen Gedanken gewöhnen mußt«, sagte sie, »aber ich …«

Sein Lachen ließ sie verstummen.

»Eva«, rief er, »was willst du denn im Hotel? Du hast doch vom Fach nicht die geringste Ahnung! Nein, nein, das kann nicht dein Ernst sein, gib zu, du hast einen Witz gemacht.«

»Durchaus nicht«, erklärte sie, »man kann alles lernen, wenn man nur will …«

»Bravo!« unterbrach er sie. »Willst du als Page bei uns anfangen?«

»Auch das, wenn es sein müßte«, erwiderte sie, als ob sie seinen Spott gar nicht bemerkte. »Aber es gibt etwas viel Besseres, was ich tun kann. Du weißt, ich beherrsche Stenografie und Schreibmaschine. Laß mich als deine Sekretärin beginnen.«

Das Lachen verging ihm, ein jäher Verdacht stieg in ihm auf. War es möglich, daß sie etwas ahnte? Sollte man ihr etwas über seine Beziehungen zu Lona Simon hinterbracht haben?

Aber sie fuhr schon fort, und die Art, wie sie ihren Plan erklärte, machte ihm ihre Arglosigkeit deutlich und beruhigte ihn.

»Dort könnte ich dir wirklich helfen«, sagte sie, »und du wirst sehen … in ein paar Monaten werde ich schon einen sehr guten Einblick gewonnen haben!«

In diesem Augenblick erschien Teddy oben auf der Galerie.

»Mutti«, rief er herunter, »Babsy ist munter … und wie! Sie will aufstehen! Ich kann sie nicht länger bändigen!«

Urban Horster griff sofort das Stichwort auf.

»Da hast du es!« sagte er. »Und die Kinder? An die hast du wohl überhaupt nicht gedacht! Sie brauchen dich!«

Sie trat dicht auf ihn zu und hob ihr Gesicht zu ihm empor.

»Ich brauche dich, Urban!« sagte sie mit tiefem Ernst.

Die Unbedingtheit ihrer Liebe erschütterte ihn.

»Eva«, stammelte er, »Eva … habe ich dich denn so vernachlässigt?«

»Noch mehr«, sagte sie mit einem wehen kleinen Lächeln.

Er riß sie in die Arme, bedeckte ihren Nacken, ihren Hals mit Küssen, verbarg sein Gesicht in ihrem duftigen Haar.

»Ich verdiene deine Liebe ja gar nicht! Wenn du wüßtest …«

Sie hatte die Augen geschlossen, genoß den herrlichen Augenblick des lang ersehnten Zueinanderfindens.

»Wir werden zusammen arbeiten«, flüsterte sie. »Wegen der Kinder wird sich eine Lösung finden lassen. Das Hotel –«

»Nein«, sagte er, »nein, Liebes, du sollst mir kein Opfer bringen …«

Als sie ihm widersprechen wollte, legte er ihr einen Finger auf den Mund.

»Pst! Jetzt bin ich es, der dir einen Vorschlag macht! Ich werde das Hotel umorganisieren, ich werde mir einen tüchtigen zweiten Mann holen …«

Sie küßte seine Finger, schob sie beiseite.

»Aber warum denn? Laß mich dein zweiter Mann werden!«

Er sah ihr mit einem gerührten Lächeln in das vor Eifer leuchtende Gesicht.

»Du nicht«, sagte er, »du sollst bleiben, was du bist … meine liebe, geliebte Frau!«

Er küßte sie, und es war ihr, als ob dieser zärtliche und leidenschaftliche Kuß alle Ängste und alle Qual der letzten Monate wegschwemmte. Nichts blieb als Liebe und das starke Gefühl unauflöslichen Zusammengehörens.

»Mutti«, brüllte Teddy von oben. »Mutti, Babsy klettert aus dem Bett!«

Er ließ sie los, gab ihr noch einen kleinen Kuß auf die Nasenspitze und wandte sich zur Tür.

Sie lief ihm nach.

»Wann kommst du?«

»So früh wie möglich.«

»Wann?« fragte sie noch einmal.

Er krauste die Stirn, sagte zögernd:

»Gegen acht Uhr. Bis dahin werde ich es wohl geschafft haben.« Er lächelte sie an. »Ich glaube, wir haben einiges miteinander zu reden!«

Noch einmal flog sie ihm in die Arme, dann löste er sich sanft von ihr und verließ das Haus.

Langsam, mit einem stillen Lächeln schritt sie die Treppe hinauf. Ihr Herz tanzte vor Glück.

Liebe im Grand Hotel

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