Читать книгу Liebe im Grand Hotel - Marie Louise Fischer - Страница 5

2

Оглавление

Auf der Fahrt nach Straßburg war Urban Horster sehr schweigsam. Lona Simon spürte, daß etwas in der Luft lag. Aber sie hielt es für richtig, seine Gedankenabwesenheit einfach zu überspielen. Sie plauderte munter darauf los und ließ sich durch seine kurzen, unfreundlichen Antworten keineswegs die Laune verderben.

Er parkte seinen Wagen, ein Sportcoupé, hinter dem Münster, blieb sitzen, während sie ausstieg, und zündete sich eine Zigarette an.

»Kommst du denn nicht mit?« fragte sie, nun doch irritiert.

»Nein. Ich werde hier auf dich warten.«

Sie lachte auf.

»Das nehme ich dir nun doch nicht ab, soviel Geduld hast du gar nicht. Ich muß die Kleider ja noch anprobieren, das dauert mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht länger. Komm mit! Ich möchte doch auch gern wissen, wie sie dir gefallen.«

»Darauf kommt es wirklich nicht an.«

»Mir schon.«

»Ich denke, ich werde sie früh genug zu sehen bekommen.«

Er schwang seine langen Beine aus dem Wagen und stieg aus.

Sie zuckte die Schultern.

»Der Herr scheinen heute reichlich ungnädig zu sein«, meinte sie spöttisch.

Er schloß das Auto ab und sagte, ohne sie anzusehen: »Ich warte dann im Weinhaus Bär auf dich. Aber beeil dich. Du weißt, ich will sofort zurück.«

Er steckte die Schlüssel ein und ging davon. Ziellos schlenderte er durch die romantischen alten Straßen. Er war sehr unzufrieden mit sich selber.

Er liebte seine Frau, das war ihm an diesem Nachmittag wieder ganz stark zu Bewußtsein gekommen, er wollte sie nicht enttäuschen, und es wäre ihm unerträglich gewesen, sie zu verlieren. Er sah die Konsequenz, die sich aus dieser Erkenntnis ergab, ganz klar: Er mußte sich aus der verhängnisvollen Bindung zu Lona Simon lösen.

Ich werde es tun, dachte er, ich muß es tun. Noch heute – nein, nicht heute. Eva erwartet mich, ich habe ihr versprochen, pünktlich zu sein. Aber morgen – morgen ganz bestimmt!

Aber eine unüberhörbare Stimme sagte ihm, daß er die Kraft zu dieser Entscheidung nicht aufbringen würde – weder heute noch morgen, noch übermorgen.

Schließlich blieb er seufzend stehen, um sich zu orientieren, sein Blick fiel auf. die Auslage eines Juweliers. In der Mitte des Schaufensters lag auf dunkelblauem Samt eine kunstvoll geschmiedete goldene Rose, in deren Blütenblättern eine weiße Perle wie ein schimmernder Tautropfen hing.

Urban Horster trat ein und kaufte die Rose – für seine Frau. Bei dem Gedanken daran, wie glücklich Eva über dieses Geschenk sein würde, wurde ihm wohler. Er steckte die goldene Rose, die der Juwelier sorgfältig in eine Schmuckschachtel gelegt und mit Seidenpapier umhüllt hatte, in die Innentasche seiner Jacke und schlug den Weg zum Weinhaus Bär ein.

Lona Simon war noch nicht da, er hatte es nicht anders erwartet; sie pflegte sich stets sehr gern, sehr lange und ausgiebig mit ihrer äußeren Erscheinung zu beschäftigen.

Er bestellte sich einen Cognac, trank ihn rasch, dann noch einen. Seine innere Spannung ließ nach, seine Selbstvorwürfe verloren an Schärfe.

In dem großen gemütlichen Raum mit den Butzenscheiben und den weiß gescheuerten Tischen hatten sich viele Männer zum Dämmerschoppen zusammengefunden, vorwiegend Straßburger. Ihr ein wenig rauhes Französisch erfüllte dies niedrige, langgestreckte Zimmer. Die Luft war blau von Tabakschwaden.

Dann kam Lona Simon.

Er hatte gar nicht zur Tür geschaut, sondern wurde erst durch die jähe Stille aufmerksam, die ihr Auftreten hervorrief. Es war, als ob jeder einzelne dieser sehr bürgerlichen Männer bei ihrem Anblick den Atem anhielt.

Sie war schön.

Ein fliederfarbenes Leinenkleid brachte ihre glatte bräunliche Haut und ihre prachtvolle Figur zur Geltung und kontrastierte wundervoll zu ihrem schwarzen Haar. Die schmale Taille wurde durch den breiten Gürtel noch betont, der tiefe Ausschnitt gab den Ansatz ihres festen Busens frei, der weite Rock schwang um ihre Knie.

Sie trat an Urban Horsters Tisch, als sei sie sich des Aufsehens, das sie erregt hatte, gar nicht bewußt, warf ihren Mantel, den sie über dem Arm getragen hatte, auf einen Stuhl, stellte die große Pappschachtel dazu und lächelte ihn an.

»Jetzt hab’ ich aber Hunger!«

Er vergaß, daß er sofort hatte zurückfahren wollen, vergaß alles außer Lona, diesem attraktiven Mädchen, um dessen Freundschaft ihn alle, das fühlte er deutlich, beneideten.

»Such dir was aus«, sagte er und reichte ihr die Speisekarte.

»Und du?« fragte sie, nachdem sie die Karte gründlich studiert hatte.

»Höchstens eine Kleinigkeit«, erwiderte er und schob den Gedanken an die Vorbereitungen, die Eva für diesen Abend getroffen hatte, mit Gewalt beiseite.

»Es gibt frische Krebse«, verkündete Lona und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Sie aßen Champignonsalat mit Trüffeln, kleine rote Krebse, zum Abschluß ein Straßburger Soufflé, und sie tranken dazu den rotigen würzigen Wein der Landschaft.

Lona Simon war strahlender Laune, wie Frauen ihrer Art es zu sein pflegen, wenn sie ein neues Kleid tragen und fühlen, daß es ihnen gut steht.

Urban Horster ließ sich nur zu gern von ihrer Fröhlichkeit anstecken. Er war sich in jedem Augenblick bewußt, daß Eva zu Hause auf ihn wartete. Aber er fühlte sich wohl. Cognac und Wein hatten die Spannung in seiner Brust gelöst. Er fand dieses unbeschwerte Beisammensein mit Lona in der gemütlichen alten Weinstube wie eine Galgenfrist, die ihm das Schicksal selber geschenkt hatte. Er brauchte nicht zu denken, er brauchte sich nicht zu entscheiden, nichts wurde von ihm verlangt, als Lonas munterer Stimme zu lauschen, in ihre dunkel glänzenden Augen zu schauen.

Als er sich endlich aufraffte, um zu zahlen, war es zehn Uhr vorbei.

Den Karton mit Lonas Kleidern unter dem Arm, trat er wenig später auf die Straße. Die frische, kühle Vorfrühlingsluft wirkte wie eine Ernüchterung. Schlagartig kam ihm die Tragweite der Situation zu Bewußtsein. Ohne auf Lona zu warten, die sich noch ihren Mantel zuknöpfte, eilte er zum Parkplatz.

»Warte doch! Halt!« rief sie hinter ihm her.

Aber er hörte gar nicht auf sie. Sie trippelte hinter ihm her, ihre hohen Absätze klapperten auf dem Pflaster. Als sie ihn erreichte, hatte er sein Coupé schon aufgeschlossen, das Paket auf den Hintersitz geworfen, den Wagen aus der Parklücke heraus und auf die Fahrbahn gesteuert.

Er stieß von innen die rechte Tür auf, und sie stieg ein.

»Mein Gott«, sagte sie, »ich bin doch kein Rennpferd!«

Sie zog ihren Mantel aus und warf ihn über das Paket.

Er brummte etwas Unverständliches.

»Warum hast du es bloß mit einem Mal so eilig?« fragte sie schmollend.

Er schwieg und starrte verbissen geradeaus.

»Na schön«, sagte sie und zog fröstelnd ihren Schal um den Hals. »Keine Antwort ist auch ein Antwort!«

Während sie in der Weinstube gesessen hatten, war unversehens die Frühlingsnacht hereingebrochen. Urban Horster hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, das Auto glitt, nachdem sie die erleuchteten Straßen der Innenstadt hinter sich gelassen hatten, mit leise brummendem Motor durch die Dunkelheit.

Sie passierten die Zollstation Kehl ohne Zwischenfall und erreichten die Bundesstraße 3. Urban Horster gab Gas. Die Tachometernadel stieg zitternd höher und höher. Der Sportwagen flog nur so dahin.

Lona Simon liebte den Rausch der Geschwindigkeit, aber diesmal fühlte sie sich unsicher.

»Du fährst wie ein Verrückter!« sagte sie halb bewundernd, halb mahnend. »Sei vorsichtig!«

Kurz vor der Abzweigung nach Oberkirch kam eine gefährliche S-Kurve. Lona hatte schon den Mund geöffnet, um ihn zu warnen – aber nach einem Blick auf sein blasses, verbissenes Gesicht zog sie es vor zu schweigen.

Urban Horster steuerte mit Vollgas in die Kurve.

»Obacht!« schrie Lona unbeherrscht.

Ein böses Lächeln verzerrte seinen Mund – da, plötzlich spürte er, wie ihm das Steuerrad entglitt, wie er die Gewalt über den Wagen verlor. Mit aller Kraft versuchte er gegenzusteuern – aber da war es schon zu spät.

Das Auto wurde mit ungeheurer Wucht in die Finsternis hinausgeschleudert.

Lona Simon hatte das Gefühl, aus einem abgrundtiefen tintenschwarzen See langsam, ganz langsam wieder an die Oberfläche zu tauchen. Sie spürte, irgendwo war ein Licht.

Sie riß krampfhaft die Augen auf und sah, daß das Licht, das sie genarrt hatte, der linke Scheinwerfer des Autos war, der eine endlose Bahn frisch gepflügten Ackers beleuchtete.

Plötzlich war alles wieder da, ihr Bewußtsein und gleichzeitig die Erinnerung an das, was geschehen war – die rasende Fahrt, der Sturz in die Finsternis. Sie erinnerte sich, daß sie unwillkürlich die Füße fest gegen die Vorderwand gestemmt, ihr Gesicht mit dem rechten Arm geschützt hatte. Mit heißer Freude wurde sie sich bewußt, daß sie davongekommen war.

Sie tat einen tiefen, zitternden Atemzug. »Mein Gott«, sagte sie, »oh, mein Gott!«

Sie wandte sich zur Seite, um Urban Horsters Blick zu suchen. Aber er war vornüber gesunken, den Kopf auf dem Lenkrad, sein rechter Arm hing unnatürlich verkrümmt herab. Sie griff ihm in das dichte dunkle Haar, versuchte ihn aufzurichten – mit einem Schrei des Entsetzens ließ sie ihn wieder los. Sein Gesicht war unkenntlich, eine blutende Maske des Schreckens.

Ihre Hand war warm und klebrig, und es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, daß sie blutig war. Sie zerrte das verklemmte Handschuhfach auf, zog ein Papiertuch heraus, rieb sich die Hand wie unter einem hysterischen Zwang sauber. In ihrem Kopf wirbelte es. Ihre Zähne klapperten.

Endlich hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie das Nächstliegende tun konnte. Mit Überwindung griff sie unter dem Lenkrad hindurch, drehte den Zündschlüssel um, stellte den Motor ab. Der Scheinwerfer erlosch.

Sie rüttelte an der Tür, die nicht nachgeben wollte. Kalter Schweiß trat ihr aus allen Poren. Schließlich sah sie ein, daß es unmöglich war, kletterte über die Sessellehne und versuchte es hinten.

Sie hatte Glück. Die rückwärtige Tür war weniger verklemmt, sie ließ sich öffnen.

Lona Simon stand schon im Freien, als ihr der Karton mit den Kleidern einfiel, die sie in Straßburg gekauft hatte. Noch einmal tastete sie sich in den Wagen hinein, fand, was sie suchte. Mit einem Schwung warf sie die Tür ins Schloß. Jetzt erst spürte sie, daß auch ihr Arm verletzt sein müßte, denn er tat abscheulich weh.

Aber sie achtete nicht darauf, sondern begann über den Acker zur Straße hinauf zu stapfen. Ihre hohen Absätze versanken bei jedem Schritt in dem weichen Boden. Sie bückte sich, zog die Pumps aus, nahm sie in die Hand und lief auf Strümpfen weiter. Oben angekommen, schlüpfte sie wieder hinein und marschierte die Straße entlang. Sie warf keinen einzigen Blick auf die Unfallstelle zurück.

Ein Lastwagen kam ihr entgegen. Aber sie machte nicht einmal den Versuch ihn anzuhalten, sondern lief weiter. Sie hatte nur den einen Gedanken – nicht in diesen Unfall verwickelt zu werden. Sie wollte keinen Skandal, sie konnte ihn sich einfach nicht leisten, er hätte das Ende ihrer Karriere als Hotelsekretärin bedeutet. Kein Hotelier hätte sie danach wieder eingestellt, das war ihr ganz klar.

Und außerdem versuchte sie sich einzureden, würde ich auch Urban dadurch schaden. Man liest es doch immer wieder. Wenn eine zweite Person mit im Wagen gesessen hat, erstattet der Staatsanwalt Strafanzeige. Womöglich kommt er dann ins Gefängnis, wenn er noch lebt!

Wenn er noch lebt – erst bei diesem Gedanken fiel ihr ein, daß sie ja gar nicht wußte, ob er tot oder nur schwer verletzt war. Sie hätte sich überzeugen müssen. Aber wie? Seinen Puls fühlen? Vielleicht. Jetzt war es dazu zu spät.

Energisch schüttelte sie die aufsteigenden Gewissensbisse ab und marschierte weiter.

Nach etwa drei Kilometern sah sie in der Ferne am Rande einer Ortschaft eine erleuchtete Tankstelle. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte.

Erst als sie näher kam, sah sie, daß im Büroraum der Tankstelle zwar die Deckenbeleuchtung brannte, der Raum aber leer war. Die Eingangstür war verschlossen. Sie drückte heftig und ausdauernd auf die Klingel. Nach einiger Zeit erschien ein junger Mann und schloß auf.

»Ich brauche ein Auto«, sagte sie grußlos, »bitte, würden Sie die nächste Taxistelle anrufen … ich habe es sehr eilig!«

Sie stellte den Kleiderkarton auf den Boden, kramte in ihrer Handtasche, drückte dem jungen Mann eine Mark in die Hand.

Er betrachtete erst das Geldstück, dann das junge Mädchen.

Sein forschender Blick machte sie unsicher, sie fuhr sich mit der Hand über das Kinn und entdeckte, daß sie blutete.

»Ich habe mich verletzt«, sagte sie.

»Das sieht man.«

»Würden Sie nun, bitte, endlich anrufen?«

Er zuckte die Schultern, ging zum Telefon.

»Kann ich mich inzwischen hier irgendwo frisch machen?« rief sie ihm nach.

Er wies mit dem Kinn auf eine Nebentür, und sie befolgte seinen Wink.

Als sie ihr Gesicht in dem trüben Spiegel über dem Waschbecken sah, erschrak sie vor ihrem eigenen Anblick. Kein Wunder, daß der Tankwart sie so merkwürdig angesehen hatte. Sie sah verheerend aus – ihre dunklen Augen starrten riesengroß und tief verschattet, ihr bräunliches Gesicht, ganz blutleer vor Entsetzen, wirkte gelblich fahl, das schwarze Haar hing wie eine Hexenmähne herab, am Kinn und am Wangenknochen waren blutverschmierte Wunden.

Wie gut, daß Urban mich nicht so gesehen hat, dachte sie und wußte im gleichen Augenblick, wie töricht diese Überlegung war.

Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, säuberte die Wunden und verpflasterte sie, kämmte sich sorgfältig ihr schulterlanges Haar, legte Make-up auf und zog sich die Lippen nach.

Danach sah sie besser aus, aber der verstörte Blick ihrer Augen ließ sich nicht vertuschen.

Als sie den Waschraum verließ, war das Taxi schon gekommen. Der Fahrer lehnte am Kühler und rauchte eine Zigarette, der Tankwart stand daneben. Lona hatte den Eindruck, daß sich die beiden über sie unterhalten hatten.

Sie warf den Kopf in den Nacken und trat auf die beiden Männer zu.

»Bitte, würden Sie mich nach Baden-Baden fahren«, sagte sie.

Der Fahrer blickte sie an.

»Das wird aber ein teurer Spaß, Fräulein.«

»Ich werde Sie im voraus bezahlen.«

»Hin und zurück, denn heute nacht kriege ich keine Fuhre mehr.«

»Wieviel macht das?« fragte sie und öffnete ihre Handtasche.

Der Fahrer nannte den Preis und nahm das Geld entgegen. »Na schön, weil Sie es sind, Fräulein!«

Er öffnete den Wagenschlag, um sie einsteigen zu lassen.

»Einen Augenblick«, sagte sie und warf den Karton auf den Rücksitz, »ich muß schnell noch mal telefonieren …«

Sie wandte sich zu dem beleuchteten Innenraum, rief über die Schulter zurück:

»Ein Ortsgespräch …«

Während sie auf das Telefon zuging, beobachtete sie aus den Augenwinkeln mit Erleichterung, daß der Tankwart keine Anstalten machte, ihr zu folgen, sondern bei dem Taxi stehenblieb. Die beiden Männer unterhielten sich, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.

Eine Papptafel mit den wichtigsten Nummern hing hinter dem Schreibtisch an der Wand. Sie wählte »Unfall«. Eine mürrische Stimme meldete sich.

»Bei der Kurve vor Oberkirch ist ein schwerer Unfall passiert«, sagte sie hastig, »auf der Bundesstraße drei. Bitte, kommen Sie sofort!«

»Verletzte?« fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung gleichgültig.

»Ja. Ein Schwerverletzter.«

»Von wo aus telefonieren Sie?« fragte der Mann.

Aber da hatte sie schon aufgelegt.

Eva Horster hatte keine böse Vorahnung, sie war nicht einmal beunruhigt.

Sie war es so gewohnt, auf ihren Mann zu warten, es war schon so häufig vorgekommen, daß er sein Versprechen, pünktlich zu sein, nicht gehalten hatte, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam, es könnte etwas pasisert sein.

Sie war nur todunglücklich.

Um sieben Uhr hatte sie den Tisch gedeckt, sehr festlich, mit dem schönen alten handgeschmiedeten Familiensilber und hochstieligen hauchdünnen Gläsern. Dann war sie noch einmal nach oben gegangen und hatte Susi und Teddy zur Ruhe gemahnt, die, von ihrer eigenen erwartungsvollen Erregung angesteckt, immer noch auf ihren Betten herumhopsten.

Sie hatte sich umgezogen und die schweren, wundervoll ziselierten goldenen Ohrgehänge angelegt, die ihr Mann ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie hatte die hellen Augenbrauen dunkel nachgestrichelt, die Wimpern getuscht, dem feinen, ein wenig schmalen Mund mit einem zartrosa Lippenstift Farbe gegeben. Das rotblonde Haar hatte sie leicht toupiert und so lange gebürstet, bis es sich weich um die hohe Stirn und die schmalen Wangen schmiegte.

Ihr Spiegelbild zeigte eine sehr schöne, ein wenig kühle Frau, und sie wünschte in diesem Augenblick sehnlich, daß Urban jetzt, in diesem Augenblick, kommen und sie in die Arme nehmen sollte.

Aber er kam nicht.

Sie ging noch einmal in die Küche, sah nach, ob sie auch nichts vergessen hatte – die Platte mit dem kalten Roastbeef stand bereit, die Schüsselchen mit Remouladensoße, Champignon- und Spargelspitzensalat, das Fruchtgelee und das Käsegebäck. Sie konnte auftragen, sobald Urban nach Hause kam.

Aber er kam immer noch nicht.

Sie zündete das Buchenholz im Kamin an. Jetzt gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie wartete drei endlose Stunden lang. Sie versuchte zu lesen, aber es gelang ihr nicht, ihre Gedanken zu konzentrieren. Dann legte sie eine Mozartplatte auf, aber selbst diese himmlisch heitere Musik konnte sie heute nicht trösten. Sie stellte den Apparat wieder ab. Sie rauchte, stand auf, ging hin und her, setzte sich wieder, starrte in die Flammen.

Mehr als einmal zuckte es in ihrer Hand, den Telefonhörer zu ergreifen und das Hotel anzurufen. Aber sie unterließ es. Urban Horster hatte sich schon zu Anfang ihrer Ehe energisch verbeten, durch einen Anruf bei der Arbeit gestört zu werden.

»Wenn ich nicht komme«, hatte er gesagt, »bedeutet das, daß ich beschäftigt bin. Mit einem Anruf verschwendest du deine und meine Zeit. Es dauert dann um so länger, bis ich mich freimachen kann.«

Sie dachte sich zornige Worte aus, die sie ihm sagen wollte, aber dann ließ sie es wieder. Sie verbot sich Tränen, Klagen, Vorwürfe. Das alles Würde ihn nur abstoßen.

»Ich werde ihn mit einem Lächeln empfangen«, sagte sie sich immer wieder, mit einem Lächeln …«

Und sie zauberte ein Lächeln auf ihr erschöpftes Gesicht, als kurz nach elf die Haustürklingel ertönte. Sie erhob sich, leerte den Aschenbecher in das Kaminfeuer und ging zur Tür. Ihr Herz klopfte, und sie spürte, wie ihre Wangen sich röteten. Sie war ganz sicher, daß es nur Urban sein konnte, der seinen Türschlüssel im Hotel hatte liegen lassen – sie erwartete keinen Besuch, und es gab niemanden, der sie zu dieser nächtlichen Stunde ohne Anmeldung überfallen hätte.

Eva Horster öffnete die Tür weit und rief: »Urban … endlich!«

Aber es war nicht Urban Horster, der eintrat, sondern Herr Thomas, der Empfangschef.

Ihr Lächeln erlosch, und noch bevor er den Mund öffnete, wußte sie, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte.

»Sie?« stieß sie fassunglos hervor.

Das Gesicht des Empfangschefs war beherrscht und ausdruckslos wie immer.

»Ich weiß, Sie erwarten Ihren Gatten, gnädige Frau«, sagte er und schloß die Tür geräuschlos hinter sich.

»Aber …«

»Bitte, setzen Sie sich!«

»Aber … warum …?«

»Bitte«, sagte er mit Nachdruck, faßte sie am Arm und führte sie zu einem der Sessel am Kamin.

Er blieb vor ihr stehen und blickte auf sie herab. Nichts in seinem Gesicht verriet, was er in diesem Augenblick empfand – Bewunderung für ihre Schönheit, tiefes Mitleid für ihr Schicksal und ohnmächtigen Zorn darüber, daß gerade ihm die Rolle des Unglücksboten zugefallen war.

»Gnädige Frau …« sagte er mühsam.

»Was ist geschehen?« rief sie mit einer Stimme, die ihr nicht mehr ganz gehorchte.

»Bitte«, sagte er beschwörend, »bitte, seien Sie tapfer. Ihr Gatte hatte einen Unfall.«

Da sie nicht ahnte, daß er im Auto unterwegs gewesen war, löste diese Mitteilung seltsame Assoziationen in ihr aus.

»Im Hotel?« fragte sie. »Er schickt sie zu mir?«

»Nein«, erklärte Herr Thomas, der alles noch viel schwieriger fand, als er es sich vorgestellt hatte, »ein Autounfall …«

»Aber … ich verstehe nicht …« stammelte sie.

Dann erst begriff sie, fuhr hoch.

»Er ist – tot?«

»Nein, er lebt. Er ist schwer verletzt, aber er lebt.«

Mit den seltsam gleitenden Schritten einer Nachtwandlerin ging sie zur Tür.

»Ich muß zu ihm«, murmelte sie wie zu sich selber. »Ich muß zu ihm …«

Mit zwei Sätzen war er hinter ihr her und hielt sie fest.

»Gnädige Frau, bitte, lassen Sie sich doch erst erklären …«

Sie fuhr herum. Ihre klaren grauen Augen in dem totenblassen Gesicht waren überraschend wach.

»Haben Sie mich belogen?«

»Nein.«

»Dann bringen Sie mich zu ihm. Sofort.«

Er hielt ihrem Arm so fest, als befürchtete er, sie könnte sich losreißen und in die Nacht hinausstürmen.

»Er ist ohne Bewußtsein«, sagte er, »eine schwere Schädelfraktur. Er würde Sie gar nicht erkennen.«

Sie sah ihn an, mit verdunkelten Augen, in denen er nicht zu lesen vermochte.

»Wo liegt er?«

»In Oberkirch. Auf der Unfallstation des dortigen Krankenhauses. Von dort hat man im Hotel angerufen.«

»Wir müssen sofort einen Hirnspezialisten hinzuziehen«, sagte sie, »Professor Meyer von der Neurochirurgischen Klinik Freiburg. Stellen Sie, bitte, die Verbindung her. Ich gehe inzwischen hinauf und ziehe mich um.«

»Jetzt?« sagte er. »Es geht auf zwölf Uhr zu, der Professor wird –«

»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, schnitt sie ihm das Wort ab, »es geht um das Leben meines Mannes.«

Sie schüttelte seine Hand ab und ging auf die breite, geschwungene Treppe zu. Sie war die ersten Stufen schon hinaufgeeilt, als sie sich noch einmal umdrehte.

»Professor Ferdinand Meyer«, sagte sie, »M, e, y, e, r … Meyer!«

In dieser Sekunde begriff er, welch unerschütterliche Kraft in dem zarten Körper dieser jungen Frau steckte.

Es war nicht einfach, den Professor zu erreichen, und er hatte es noch nicht geschafft, als Eva die Treppe wieder herunterkam, in flachen Schuhen, einem graublauen Tweedkostüm, einen Schal in der Hand – nur die funkelnden Ohrgehänge erinnerten noch daran, wie anders sie sich diesen Abend vorgestellt hatte. Ihr schmales Gesicht war immer noch schneeweiß, aber ihre Züge verrieten Beherrschung und äußerste Anspannung.

Sie stand neben Herrn Thomas und wartete, bis es so weit war, dann nahm sie ihm den Hörer aus der Hand und meldete sich.

»Hier spricht Frau Horster, Herr Professor«, sagte sie mit klarer Stimme, »Frau Eva Horster vom Grandhotel Horster in Baden-Baden. Mein Mann hatte einen schweren Autounfall … Schädelfraktur. Bitte, setzen Sie sich mit der Unfallstation des Krankenhauses in Oberkirch in Verbindung, dort ist er eingeliefert worden. Ich möchte, daß Sie sich um ihn kümmern und die Operation persönlich vornehmen … ich weiß, daß dieser Wunsch Ihnen unverschämt verkommen muß, Herr Professor, aber es geht um meinen Mann, den Vater von drei Kindern … ich weiß, welche Strapazen und Unannehmlichkeiten ich Ihnen damit zumute … das glaube ich Ihnen ja, aber ich möchte, daß mein Mann von dem besten Arzt auf diesem Gebiet operiert wird, und das sind Sie, Herr Professor. Bitte, fahren Sie noch heute, fahren Sie jetzt gleich nach Oberkirch! Selbstverständlich bezahle ich den Chauffeur … selbstverständlich werden alle Ihre Honorarforderungen erfüllt … es geht um das Leben meines Mannes, Herr Professor, Geld spielt da überhaupt keine Rolle … ich danke Ihnen, Herr Professor, ich danke Ihnen!«

Eva legte auf. Ihre Augen hatten einen sonderbaren Glanz. Mit einer mechanischen Bewegung schlang sie den Schal um ihr rotblondes Haar.

»Bitte, rufen Sie das Hotel an, Herr Thomas«, sagte sie, »sorgen Sie dafür, daß ein Zimmermädchen oder irgendeine andere weibliche Kraft sofort herüberkommt und bei den Kindern bleibt … dann holen Sie Ihren Wagen. Ich will bei meinem Mann sein.«

Während der Fahrt nach Oberkirch schwiegen beide.

Eva saß sehr aufrecht, fast starr. Sie hielt den Blick unverwandt geradeaus gerichtet, die Hände im Schoß verkrampft. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, aber sie spürte den Schmerz kaum. In ihrer Kehle war ein heißes, würgendes Brennen, und das Herz lag wie ein schwerer Bleiklumpen in ihrer Brust, der ihr das Atmen zur Qual machte.

Sie bemühte sich krampfhaft, alle Gedanken auszuschalten, alle Gefühle zu ersticken, denn sie spürte instinktiv, daß sie zusammenbrechen würde, sobald sie erst das Ausmaß dessen, was geschehen war und was noch drohend vor ihr stand, erkennen würde.

Herr Thomas respektierte ihr Schweigen. Er warf nur hin und wieder einen scheuen Seitenblick auf ihr angespanntes blasses Profil.

Er verfluchte sich, daß er sich ihrer plötzlichen Autorität gebeugt hatte, statt das einzig Richtige zu tun, einen Arzt zu rufen, der ihr eine Beruhigungsspritze gegeben und Sie ins Bett gesteckt hätte. Statt dessen hatte er sich zu dieser unsinnigen Fahrt durch die Nacht zwingen lassen, mit der dem verunglückten Chef in keiner Weise geholfen war.

Ein Unfallwagen überholte sie mit Blaulicht und heulender Sirene, bog nach links ab.

Herr Thomas zuckte zusammen, aber Eva reagierte überhaupt nicht. Sie schien weit, weit fort zu sein.

Er folgte dem Unfallwagen. Die Scheinwerfer erfaßten das blau-weiße Schild mit der Aufschrift: »Ruhe! Hospital!« Dann tauchte das Krankenhaus zu ihrer Rechten auf, ein weißes Gebäude mit einer breiten Einfahrt.

Herr Thomas parkte den Wagen im Inneren des Hofes, stieg aus und wollte Eva helfen. Aber sie kam ihm zuvor und ging mit steifen hölzernen Schritten auf die erleuchtete Pforte der Unfallstation zu.

Er lief ihr nach, holte sie ein.

In der Anmeldung hatten die Sanitäter zwei Tragen mit blutigen stöhnenden Bündeln abgestellt, die sicher noch vor kurzer Zeit selbstbewußte, gesunde Menschen gewesen waren.

Eva schenkte ihnen keinen Blick. Wie eine aufgezogene Puppe ging sie auf die diensthabende Schwester zu. Aber als sie ihre Frage stellen wollte, versagte ihre Stimme. Sie brachte nicht mehr hervor als einen rasselnden Atemzug.

Herr Thomas sagte rasch: »Herr Urban Horster aus Baden-Baden … er muß vor einer Stunde eingeliefert worden sein. Autounfall.«

Die Schwester warf einen Blick auf ihre Liste.

»Zimmer 14 im ersten Stock … am Ende des Ganges.«

»Danke.«

Herr Thomas legte stützend seine Hand unter Evas Ellenbogen, und sie ließ es sich widerspruchslos gefallen. Er führte sie die steinerne Treppe hinauf.

Es roch wie in allen Krankenhäusern nach Äther, Lysol und Bohnerwachs, aber dazwischen war noch etwas anderes, der süßliche, durchdringende Geruch von Blut und Schweiß, Eiter und Wunden.

Sie kamen an vielen Türen vorbei. Schwestern liefen über den Gang mit blassen, übermüdeten Gesichtern.

Vor der Tür Nr. 14 blieb Herr Thomas stehen.

»Soll ich nicht doch erst allein …?«

Eva schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte sie mühsam.

Er klopfte, aber von innen kam keine Antwort. Dann drückte er die Klinke nieder und öffnete lautlos die Tür. Er trat als erster ein – ein verzweifelter Versuch, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Aber sie folgte ihm so rasch, daß er nicht einmal die Möglichkeit hatte, sie zu warnen.

Sie sahen es beide fast gleichzeitig.

Ein Bett war leer, und auf dem anderen, gleich neben dem Fenster, lag eine stille, starre Gestalt, vom Kopf bis zu den sehr gerade ausgerichteten Füßen mit einem weißen Leintuch bedeckt. Ein Toter.

Sie standen und schauten, und er fand nicht einmal mehr den Mut, sie anzusehen.

Nach einer Weile löste sie sich von seiner Seite und trat auf das Bett zu. Sie hob die Hand und schlug das Leintuch am Kopfende zurück.

Das Gesicht des Toten war friedlich, die geschlossenen Augen lagen tief in den Höhlen, um seine Lippen lag etwas wie ein sehr weises, verklärtes Lächeln.

Es war nicht Urban Horster.

In diesem Augenblick sank Eva in sich zusammen. Alle Kraft hatte sie verlassen. Dumpf fiel sie zu Boden.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer flachen, harten Liege. Ein junger Arzt in einem weißen Kittel fühlte ihren Puls.

»Na, endlich!« sagte er und sah sie mit einem unbekümmerten Lächeln an. »Fühlen Sie sich besser?«

Sie richtete sich ruckartig auf.

»Mein Mann …«

Der junge Arzt drückte sie sanft zurück. Er hatte einen blonden, dichten Bürstenhaarschnitt, und in seinen Augen stand etwas, das verriet, daß das ganze Leben für ihn noch ein wunderbares Abenteuer war.

»Sie können jetzt doch nicht zu ihm«, sagte er, »er ist gerade in den OP gebracht worden.«

»Er ist also nicht …?«

»Nein. Man hatte ihn wenige Minuten, bevor Sie in das Zimmer kamen, herausgeholt. Die Schwester bei der Anmeldung konnte das nicht wissen. Es muß ein schöner Schock für Sie gewesen sein …«

Eva Horster hob den Arm, um auf ihre Uhr zu sehen.

»Wie lange war ich …?«

»Eine gute Stunde. Aber immerhin haben Sie sich den passenden Ort für Ihre Ohnmacht ausgesucht.« Der junge Arzt lachte. »Vorige Woche hatten wir noch einen viel tolleren Fall. Eine junge Frau wollte ihren Mann besuchen, der mit dem Motorrad verunglückt war. Bei dieser Gelegenheit hat sie die Wehen bekommen … gleich hier im Krankenhaus. Eine halbe Stunde später war sie entbunden.«

Eva hörte gar nicht, was er sagte. Auf ihren Schläfen lastete ein dumpfer Druck, und sie hatte Mühe, ihre Gedanken zu ordnen.

»Eine Stunde«, wiederholte sie, »und er ist jetzt erst in den Operationssaal gekommen … aber ist denn das nicht viel zu spät, hätte man nicht gleich …«

»Regen Sie sich nicht auf«, sagte der junge Arzt, »bitte! Das schadet Ihnen, und Ihrem Gatten nutzt es nichts. Er konnte nicht vorher operiert werden, weil er sich noch in einem schweren Schockzustand befand. Wir mußten ihn erst erwärmen, Sympatol-Strophantin zur Stützung des Kreislaufs und Traubenzuckerinfusionen geben. Er hat darauf angesprochen, das ist schon ein gutes Zeichen.«

»Und Professor Meyer?«

»War gar nicht dumm, daß Sie ihn angerufen haben. Ein Spezialist ersten Ranges. Er führt die Operation persönlich durch.«

Eva seufzte tief.

»Übrigens, ich glaube, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen«, sagte der junge Arzt. »Ich bin Doktor Krüger …«

Aber Eva hörte gar nicht mehr hin. Sie hatte die Augen geschlossen und die Hände zum Gebet gefaltet – einem flehenden Gebet, das ihrem Mann und ihrer Liebe galt.

Urban Horster lag auf dem Operationstisch. Sein Gesicht war abgedeckt, der Schädel kahl rasiert. Im kalten schattenlosen Licht der Operationslampe zeigte sich die Deformation der Schädeldecke.

Der Narkosearzt hatte eine Dosis Curare gespritzt, um eine vorübergehende völlige Erschlaffung der gesamten Muskulatur zu bewirken. Nur so war es möglich, den Trachealkatheter vorsichtig durch die erschlafften Stimmbänder einzuführen. Mit Hilfe eines aufblasbaren Gummiballs hatte er ihn so gegen die Wände der Luftröhre gepreßt, daß er sich weder verschieben noch verrutschen konnte. Das andere Ende des Katheters verband er außerhalb des Mundes über ein Ventil mit dem Schlauch des Narkoseapparats.

Jetzt hob er den Blick und sah Professor Meyer an.

»Fertig!«

Die Atmung des Patienten hatte nicht für eine Sekunde ausgesetzt. Die Mischung von Lachgas und Sauerstoff drang in die Lungen.

Die Operationsschwester überprüfte noch einmal seine Lage. Der Körper des Patienten durfte während der Operation keinerlei Druck ausgesetzt sein, sein Kopf lag locker in der Stütze. Noch einmal bestrich sie die Kopfhaut mit Jod.

Professor Meyer hatte sich auf dem verstellbaren Drehstuhl hinter dem Kopf des Patienten niedergelassen. Links neben ihm stand sein Assistent, ein Arzt der Unfallstation. Die Operationsschwester stellte sich zur Rechten des Professors neben den Instrumententisch und reichte ihm das Skalpell.

Bedächtig führte der Professor den ersten halbkreisförmigen Schnitt und schlug den Hautlappen zurück.

Die große Wunde blutete kaum. Der Assistenzarzt betätigte den Sauger. Das Gefäß wurde sichtbar, er ergriff es mit Klemmen.

»Strom!«

Der Assistent legte die Diathermienadel an und trat auf das Kontaktpedal. In wenigen Sekunden war die Blutung gestillt, das Gefäßende verschmort.

Der Schädelknochen lag frei, die Bruchstelle wurde deutlich sichtbar.

Professor Meyer ergriff den elektrischen Bohrer und legte nacheinander mehrere Bohrlöcher in einem Viereck an, dessen eine Seite die Bruchstelle war.

Die OP-Schwester reichte ihm die Gigli-Säge. Mit der Hand sägte Professor Meyer von Bohrloch zu Bohrloch die Knochendecke durch.

»Kreislauf?« fragte er.

»Nicht zufriedenstellend«, antwortete der Anästhesist, »Puls schwach.«

»Geben Sie noch eine Blutkonserve!«

Der Anästhesist hatte schon vor der Operation eine Dauertropfinfusion an einer Knöchelvene angelegt, durch die er dem Patienten während des Eingriffs die noch zusätzlich notwendigen Medikamente direkt zuführen konnte. Jetzt schloß er eine Blutkonserve an.

»Puls immer noch schwach, aber regelmäßig«, konnte er nach einiger Zeit melden.

»Versuchen Sie weiter den Kreislauf mit allen Mitteln zu stützen!«

Professor Meyer hob das herausgesägte Knochenstück behutsam ab und reichte es der Operationsschwester. Sie legte es sofort in die bereitgehaltene physiologische Kochsalzlösung.

Die Hirnhaut lag frei. Sie war stark gespannt, blauschwarz schimmerte eine Blutung durch.

Die OP-Schwester reichte Professor Meyer ein feines Skalpell.

»Achtung!«

Ganz leicht ritzte er die Dura an, und in dickem Schwall schoß das Blut heraus.

Professor Meyer wartete, bis der Hirndruck schwand und das Gehirn wieder normale Pulsationen zeigte. Dann, auf einen Wink von ihm, begann der Assistent die blutenden kleinen Gefäße elektrisch zu verschorfen, bis das Gehirn frei von jeder Nachblutung war.

Vorsichtig untersuchte Professor Meyer das Operationsgebiet, vergewisserte sich, daß kein Knochensplitter ins Hirn gedrungen war, daß es sich bei der Unfallverletzung um einen glatten Bruch gehandelt hatte. Das Gehirn hatte sich infolge der Blutstauung aus Raummangel zusammengepreßt. Der Professor führte deshalb noch eine Liquorauffüllung durch, um Unterdruckerscheinungen zu verhindern.

Dann setzte er die Knochendecke wieder ein. Das Vernähen des Hautlappens überließ er dem Assistenten.

Für ihn war die Operation beendet.

Eva Horster fuhr auf, als Professor Meyer in das Untersuchungszimmer trat, auf dessen Liege sie ein wenig eingedöst war – die Spritzen, die der junge Dr. Krüger ihr gegeben hatte, waren nicht ohne Wirkung geblieben.

Sie erkannte ihn sofort, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte. Dieser große Mann mit dem durchfurchten Gesicht, der hohen Stirn und den klugen Augen hinter funkelnden Brillengläsern konnte nur der berühmte Neurochirurg sein.

»Herr Professor …?«

Sie setzte sich auf und schwang die Beine zu Boden.

»Sie dürfen ruhig liegen bleiben, gnädige Frau«, sagte der Professor beruhigend.

»Nein, nein, ich bin doch nicht krank!« widersprach sie, obwohl sie sich schwindelig und elend fühlte.

Professor Meyer zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Wir haben Glück gehabt, gnädige Frau«, sagte er, »die Operation ist komplikationslos verlaufen. Das Allgemeinbefinden des Patienten ist den Umständen entsprechend zufriedenstellend.«

»Wird er … gesund werden?«

»Ihr Gatte lebt. Damit sollten wir uns, denke ich, im Augenblick zufriedengeben.«

Eva strich sich eine Locke ihres rotblonden Haars aus der Stirn.

»Sagen Sie mir ganz ehrlich, Herr Professor … welche Chance hat er?«

»Eine gute. Aber es hat keinen Zweck, wenn wir uns etwas vormachen. Die Operation ist geglückt. Jetzt kommt es darauf an, ob sein Kreislauf sich erholt und sein Herz durchhält. Außerdem …« Er zögerte.

»Ja?«

»… es ist möglich, daß sich noch andere Komplikationen ergeben. Ich hatte noch keine Gelegenheit, den Patienten allgemein zu untersuchen. Aber mein Kollege nimmt an, daß er durch den Unfall auch eine Rückgratverletzung davongetragen hat … bitte, erschrecken Sie nicht! Ich kann diese Diagnose noch nicht bestätigen, und selbst wenn sie stimmt, können erst langwierige Untersuchungen ergeben, ob das Rückenmark geschädigt ist.«

»Und was würde das bedeuten?« fragte Eva mit einer Stimme, die ihr selber fremd klang.

»Lähmungserscheinungen. Aber darüber läßt sich jetzt noch gar nichts sagen. Ich nehme an, Sie haben Vertrauen zu mir …«

»Ja, Herr Professor.«

»Dann werden Sie sicher damit einverstanden sein, daß der Patient, sobald sein Allgemeinzustand es zuläßt, nach Freiburg in die Universitätsklinik überführt wird.«

Eva Horster nickte. »Wie lange wird es dauern, bis er wieder gesund ist?«

Professor Meyer lächelte. »Noch vor einer Stunde hätten Sie alles darum gegeben, daß er überhaupt am Leben bleibt. Jetzt werden Sie schon ungeduldig und möchten ihn am liebsten gleich mit nach Hause nehmen.«

»Wie lange?« fragte Eva noch einmal.

»Im besten Fall … Monate.«

Sie nickte, als ob er ihr nur etwas bestätigt hätte, was sie selber schon geahnt hatte. »Kann ich ihn sehen?« fragte sie.

Der Professor zögerte. »Dazu würde ich Ihnen nicht raten. Sein Kopf ist vollkommen bandagiert, und es ist noch gar nicht abzusehen, wann er wieder zu Bewußtsein kommt …«

»Ich werde so lange warten«, sagte sie mit fester Stimme.

Es war heller Tag, als Eva endlich zu ihrem Mann geführt wurde. Sie hatte Herrn Thomas längst nach Hause geschickt, weil sie ihm nicht zumuten wollte, die ganze Nacht mit ihr zu warten.

»Sie müssen jetzt sehr tapfer sein«, sagte die Schwester, die sie begleitete.

Eva nickte.

Sie war ganz gefaßt, dennoch blieb sie unwillkürlich auf der Schwelle des kleinen Zimmers stehen, in dem ihr Mann lag. Eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen. Sie erkannte ihren eigenen Mann nicht. Sein ganzer Kopf war in weiße Binden eingehüllt, nur die Nasenlöcher und der Mund waren sichtbar. Sein rechter Arm steckte in einem Gipsverband.

»Auch die Augen?« stammelte sie kaum hörbar.

»Ein Bluterguß« sagte die Schwester, »sie sind völlig verschwollen, aber die Augäpfel sind unverletzt. Sie müssen ihm das sagen, wenn er danach fragt!«

Eva trat näher. Auf dem Nachttisch lagen Urban Horsters Brieftasche, sein Geldbeutel, seine Schlüssel und – eine goldene Rose.

»Urban«, sagte sie und nahm seine gesunde Hand, »mein lieber Urban …«

»Du …« sagte er schwach.

Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, und dennoch fühlte Eva ihr Herz bei diesem Klang höher schlagen.

»Du hattest einen Autounfall«, sagte sie, »aber du wirst wieder gesund werden. Du brauchst nichts zu fürchten …«

Er entzog ihr seine Hand, tastete zum Kopfverband.

»Bin ich … blind?«

»Nein, die Augen sind nur verbunden. Du wirst wieder sehen können … schon in ein paar Tagen. Glaube mir!«

»Ja, Eva …«

Sie nahm das Schmuckstück, das auf dem Nachttisch lag.

»Die goldene Rose … ist sie für mich? Bist du deswegen nach Straßburg gefahren?«

»Verzeih mir«, sagte er schwach.

»Genug«, sagte die Schwester, die sich während des ganzen Gesprächs nicht von der Tür gerührt hatte. »Sie müssen jetzt gehen, Frau Horster!«

Eva beugte sich über ihren Mann und küßte ihn zart auf den Mund.

»Ich komme wieder, Urban … bald!«

Liebe im Grand Hotel

Подняться наверх