Читать книгу Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer - Страница 4

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Sie rannte wie gehetzt durch die engen Straßen Alt-Schwabings. Die Polizeistunde war vorbei, und nur aus wenigen Gaststätten drang noch Licht. Die Laternen schufen Inseln fahler Helligkeit. Dazwischen war es nachtdunkel.

Ein Betrunkener kam ihr schwankend und grölend entgegen. Sie beachtete ihn nicht, stürmte an ihm vorbei, hörte nicht, wie er hinter ihr herfluchte.

Ihre Turnschuhe machten kaum ein Geräusch auf dem unebenen Pflaster. In der Tasche ihres offenen Parkas steckte eine Taschenlampe. Sie hielt sie umklammert, damit das schwere Gewicht im Laufen nicht gegen ihren Schenkel schlug.

Sie überquerte den Nikolaiplatz, bog zielsicher in eine Gasse ein, die noch schmaler war als die anderen. Das hohe Brettertor, das nachts gewöhnlich geschlossen war, stand halb offen. Sie schlüpfte hinein. Die Laterne am Ende des langgestreckten Hofes brannte nicht. Ohne stehen zu bleiben, zog sie ihre Taschenlampe heraus und knipste sie an. Der Lichtkegel huschte über die Laderampe, die Hintertüren, den asphaltierten Boden.

Unter der zersplitterten Laterne fand sie ihn. Er lag zusammengekrümmt in einer Lache von Blut. Sein Gesicht war schneeweiß.

Sie kniete sich neben ihn, rief: „Günther, Günther, hörst du mich? Ich bin’s, Marie! Ich bin bei dir!“

Aber er war nicht bei Bewußtsein.

Blut drang aus seinem Bauch. Ohne zu überlegen zog sie das Baumwollnachthemd, das sie unter ihrem Parka trug, aus der langen Flanellhose, nahm die Zähne zur Hilfe und riß einen breiten Streifen ab. Sie öffnete seine Jeans, fand die klaffende Wunde, verband sie, so gut es eben ging.

Dann sprang sie auf und trommelte mit beiden Fäusten gegen das Fenster zum Hof, unter dem er lag. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich drinnen etwas rührte. Sie war nahe daran, das Glas mit der Taschenlampe zu zerschlagen, als endlich jemand reagierte.

Eine Männerstimme meldete sich, dumpf und abweisend. „Schleich dich! Wir san geschlossen!“

„Sie müssen aufmachen“, schrie sie, „sofort! Es ist etwas passiert! Ein Mann ist schwer verletzt!“

Das Fenster wurde geöffnet, und der Kopf eines kahlen älteren Mannes zeigte sich über dem Sims.

Marie richtete den Schein der Taschenlampe auf den Verwundeten. „Sie müssen den Notdienst anrufen! Bitte! Schnell!“

„Auch das noch!“ sagte der Wirt und verzog sich.

Marie hörte ihn telefonieren. Sie kniete sich wieder, versuchte festzustellen, ob der Verletzte noch atmete, machte sich währenddessen heftige Vorwürfe, weil sie nicht als erstes jemanden in der Wirtschaft alarmiert hatte, statt sich um Günther zu kümmern. Sie hatte einmal mehr nur ihren Instinkt und nicht ihren Verstand sprechen lassen.

Der Notverband, den sie ihm angelegt hatte, war schon wieder blutdurchtränkt. Sie fragte sich, ob er überhaupt etwas genutzt hatte. Ihre Torheit schmerzte sie.

„Halte durch, Günther!“ flüsterte sie und hielt seine eiskalte Hand. „Sie kommen schon, dich zu holen. Bald ist ein Arzt bei dir. Deine Wunde wird versorgt, und du wirst in ein sauberes weißes Bett gepackt.“

Der Signalton des Martinshorns war aus der Ferne zu hören, näherte sich rasch.

Marie stand auf. Sie konnte hier nichts mehr tun. Es war besser, sie machte sich auf und davon.

In diesem Augenblick erlosch ihre Taschenlampe; die Batterie spielte nicht mehr mit. Verwirrt blieb Marie stehen. Der Hof war jetzt völlig dunkel, bis auf den schwachen rötlichen Lichtschein, der aus dem Fenster des Wirtshauses drang. Der Ausgang war nicht mehr zu erkennen. Dennoch wagte sie einen Schritt in die Richtung, in der sie ihn vermutete.

„He, Fräulein, bleiben sie stehen!“ dröhnte die Stimme des Wirtes. Er war wieder am Fenster erschienen, ohne daß Marie es bemerkt hatte, und mußte ihre Fluchtbewegung wahrgenommen haben. „Das könnte Ihnen so passen, mich mit den Bullen allein zu lassen!“

Sie begriff, daß es jetzt höchste Zeit war, sich abzusetzen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie spurtete auf das offene Tor zu.

Aber da flammten auch schon die Scheinwerfer des Polizeiautos vor ihr auf. Sie blieb geblendet stehen. Der Wagen versperrte den Ausgang, fuhr langsam auf sie zu.

„Einen Arzt!“ schrie sie. „Er verblutet!“

Die Scheinwerfer erfaßten jetzt den Verletzten unter der zerbrochenen Laterne. Das Auto bremste, die Türen gingen auf, links und rechts sprang ein uniformierter Mann heraus.

Der eine beugte sich über den Verwundeten. „Den hat’s schwer erwischt“, kommentierte er, ohne sonderlich beeindruckt zu sein.

„Er muß ins Krankenhaus!“ verlangte Marie und stieß unwillkürlich mit dem Fuß auf. „Sofort!“

Der Polizeibeamte richtete sich auf. „Der Notarztwagen kommt gleich hinter uns“, sagte er, und sein Ausdruck veränderte sich, als er Marie genauer wahrnahm.

Sein Kollege hatte ein Notizbuch aufgeschlagen. „Ihre Personalien, bitte!“

„Aber die sind doch jetzt ganz unwichtig!“ entgegnete Marie.

„Für uns nicht!“ Der Polizist zückte einen Kugelschreiber. „Also …“

„Ihr müßt zurücksetzen!“ rief ein Mann von der Straße her. „Sonst können wir nicht rein!“

„Na also“, sagte der Polizist, der Günther untersucht hatte, „da ist der Onkel Doktor schon, Fräulein.“ Zu seinem Kollegen gewandt, setzte er hinzu: „Ich fahrraus.“ Er klemmte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor.

Als der Wagen zurücksetzte, überlegte Marie, ob sich ihr jetzt nicht eine letzte Gelegenheit bot zu verschwinden.

Aber der Polizist mit dem Notizbuch schien ihre Gedanken zu erraten. „Sie bleiben!“ sagte er barsch. „Sie heißen?“

Paul Sanner hatte auf der Heimfahrt von einer Party zum Olympiagelände den Polizeifunk eingeschaltet. Obwohl er nicht vorhatte, noch zu arbeiten, hielt er es für wichtig, stets auf dem laufenden, ja, besser noch im voraus orientiert zu sein. Er war Journalist, und das war für ihn mehr als ein Job, sondern ein Beruf, der seinen natürlichen Neigungen und, wie er überzeugt war, auch seinen Fähigkeiten entsprach. Trotzdem war es ihm noch nicht gelungen, eine feste Anstellung bei einer Zeitung oder, was ihm noch viel erstrebenswerter schien, bei einem Magazin zu erreichen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als freiberuflich für verschiedene Agenturen und Blätter zu schreiben, wie es sich eben ergab. Aber er war überzeugt, mit seinen 25 Jahren am Beginn einer großen Karriere zu stehen.

Die Nachricht, daß ein Mann in einem Winkel Alt-Schwabings niedergestochen worden war, erreichte ihn auf der Leopoldstraße. Sie hätte ihn an sich nicht sonderlich interessiert, denn dergleichen Zwischenfälle sind in jeder Großstadt gang und gäbe. Aber daß es eine junge Frau war, die das Verbrechen gemeldet hatte, ließ ihn aufhorchen. Zudem war er weder müde noch angetrunken, und der Tatort lag nur wenige Minuten entfernt. Kurzentschlossen bog er am Platz ,Münchener Freiheit‘ nach rechts ab und fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit – denn die glaubte er sich bei der gegebenen Situation und angesichts seines Presseausweises erlauben zu können – zu der angegebenen Adresse.

Als er in der Häberlgasse eintraf, war der grüne Einsatzwagen der Polizei gerade dabei zurückzusetzen, während das Sanitätsauto mit laufendem Motor, rotierendem Blaulicht und leuchtenden Blinkern seitwärts stand.

Paul Sanner parkte seinen klapprigen VW schräg auf dem Bürgersteig, stieg aus und rannte los, ohne sich die Zeit zu nehmen, den Zündschlüssel abzuziehen. So gelang es ihm, sich zwischen den beiden Fahrzeugen in die Sackgasse zu drängen, während der Polizeibeamte die junge Frau noch vernahm.

Der Anblick, den sie ihm im Licht der Scheinwerfer bot, verschlug ihm, was selten vorkam, für Sekunden die Sprache. Das erste, was ihm an ihr auffiel, war ihr hellblondes, mehr als schulterlanges Haar, das zerzaust und zerwühlt wirkte, als wäre sie eben erst aus dem Bett gestiegen und hätte sich nicht die Mühe genommen, sich zu frisieren. Ihr Gesicht mit der sehr glatten, sehr weißen Haut wirkte wie eine Maske aus Porzellan, von der sich der volle, ungeschminkte und dennoch sehr rote Mund scharf abzeichnete. Daß ihre Hände und die lange Hose blutverschmiert waren, ließ sich – und war – damit zu erklären, daß sie mit dem Verwundeten in Berührung gekommen war. Aber daß sie, obwohl es eine kühle Oktobernacht war, keine Strümpfe trug, sondern die nackten Füße in Turnschuhe mit achtlos gebundenen Senkeln gesteckt hatte, war schon sehr viel sonderbarer. Das Oberteil, das unter ihrem graugrünen Parka hervorlugte, sah nicht wie eine Bluse, sondern wie ein Nachthemd aus. Sie hätte für eine Pennerin gehalten werden können, aber etwas an ihrer Erscheinung – Paul Sanner konnte es nicht auf Anhieb definieren – verriet gute Herkunft und bürgerlichen Lebensstil.

Jetzt schien sie seinen entgeisterten, ungehemmt neugierigen Blick zu spüren und zog, ohne ihn zu erwidern, den Reißverschluß ihres Parkas mit einem Ruck hoch bis zum Hals.

„Fräulein Forester“, sagte der Polizeibeamte, „Sie kennen also den Mann?“

Ja.“ Ihre Stimme klang fest, wenn auch ein wenig heiser.

Paul Sanner trat nahe heran, um sich keine Einzelheit der Vernehmung entgehen zu lassen.

Der Polizist erkannte ihn. „Ah, Sie wieder mal, Sanner! Immer mit der Nase voraus, wie?“

Der Journalist grinste. „Reiner Zufall, Herr Wachtmeister.“

Zwei weißgekleidete Sanitäter und ein Arzt waren an ihnen vorbeigeeilt, damit sie sich um den Verletzten bemühen konnten.

„Name! Adresse!“ drängte der Polizist. „Lassen Sie sich doch, bitte, nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“

„Er heißt Günther Grabowsky und wohnt auf der Leopoldstraße. Die Hausnummer weiß ich nicht. Unten im Haus ist ein Modegeschäft. ,Lilos Boutique‘ heißt es.“

Der Polizist machte sich Notizen. „Sie sind also mit diesem Grabowsky befreundet?“

„Nein oder doch.“

„Was denn nun?“

„Er ist mein Bruder. Mein Stiefbruder.“

„Sie sind also mit Ihrem Stiefbruder heute abend ausgegangen?“

Über die Torheit dieser Frage konnte Paul Sanner sich nur wundern. Aber er äußerte sich nicht, denn er wußte aus Erfahrung, daß es klüger war, sich nicht einzumischen, wenn die Polizei das Sagen hatte.

„Nein!“ erklärte Marie Forester mit Entschiedenheit.

„Warum geben Sie es nicht zu? Es wäre doch nichts dabei.“

„Das weiß ich. Ich bin auch hin und wieder mit ihm ausgewesen, auch in einem von diesen Lokalen hier. Aber heute abend nicht.“

„Sie wollen behaupten, zu Hause gewesen zu sein?“

„Ja.“

„Und wie wollen Sie dann von dem Unfall erfahren haben? Wer hat Sie angerufen?“

„Niemand. Ich habe es auch gar nicht gewußt.“

„Dann war es reiner Zufall, daß Sie den Verwundeten gefunden haben?“

„Ja!“ behauptete sie mit Nachdruck, wobei sie den Kopf in den Nacken warf.

Die Sanitäter trugen Günther Grabowsky an ihnen vorbei. Paul Sanner konnte in dem aschfahlen Gesicht keine Ähnlichkeit mit der jungen Frau entdecken.

Mit einer überraschenden Geste zupfte Marie Forester den Arzt, der der Trage folgte, am Ärmel seines Kittels. „Kann ich mitfahren?“ fragte sie. „Ich bin seine Schwester.“

„Mit Ihnen bin ich noch nicht fertig“, wandte der Wachtmeister ein.

„Tut mir leid“, sagte der Arzt achselzuckend, „Sie sehen, es geht nicht.“

„Ich kann Sie bringen“, erbot sich Paul Sanner.

Jetzt, zum erstenmal, sah sie ihn an. Ihre blaugrauen Augen wirkten verschleiert. „Danke“, sagte sie kurz. Dann wandte sie sich dem Polizeibeamten zu. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wissen wollen. Ich konnte nicht schlafen, und da habe ich mich entschlossen, noch ein bißchen spazierenzugehen.“

„Durch das nächtliche Schwabing?“

„Warum denn nicht? Man kann hier so gut wie anderswo laufen.“

„Und ganz zufällig sind Sie in diese Sackgasse hineingestolpert?“ Er sah sich um, als würde er erst gerade jetzt die Umgebung wahrnehmen. „Die ist ja eigentlich mehr ein Hinterhof.“

„Gestolpert bin ich nicht“, widersprach Marie Forester.

„Also, ich muß Ihnen schon sagen, Ihre Erklärung überzeugt mich nicht“, sagte der Wachtmeister.

„Tut mir leid“, gab sie zurück.

„Sie sagen besser die Wahrheit. Wir bekommen sie bestimmt heraus.“

Marie Forester schwieg.

„So kommen Sie jedenfalls nicht davon. Sie melden sich morgen früh um neun Uhr auf der Polizeiinspektion in der Maria-Josepha-Straße drei.“

„Um neun Uhr muß ich im Institut sein.“

„Dann kommen Sie eben um acht. Bis dahin werden Sie sich hoffentlich überlegt haben, daß es besser ist, mit der vollen Wahrheit herauszurücken.“ Der Wachtmeister steckte Notizbuch und Kugelschreiber ein und wandte sich zum Gehen.

„Wohin hat man den Grabowsky gebracht?“ fragte Paul Sanner rasch.

„Krankenhaus ,Rechts der Isar‘“, antwortete der Polizist barsch.

„Danke für die Auskunft!“ rief der Journalist ihm munter nach.

Kurz darauf hörten sie das Polizeiauto abfahren.

Paul Sanner lächelte dem sonderbaren Mädchen ermutigend zu. „So, jetzt bringe ich Sie in die Klinik, Fräulein Forester!“

Sie zögerte und sagte dann überraschend: „Danke. Das wird nicht mehr nötig sein.“

„Aber wieso denn nicht?“

Sie schauderte. Jetzt kann ich ihm doch nicht mehr helfen, nicht wahr?“

„Aber Sie werden doch wissen wollen …“ Paul Sanner brach ab. Er hatte sagen wollen: ,Ob er überlebt oder nicht‘, war sich aber während des Sprechens klargeworden, daß diese Formulierung allzu brutal gewesen wäre.

„Ich verstehe schon“, erklärte Marie Forester.

„Es interessiert Sie nicht?“ fragte Paul Sanner erstaunt.

Ihr voller Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln. „Ich denke, mein Bruder wird es überstehen.“

„Woher wollen Sie es wissen?“

„Ich weiß es nicht.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich habe nur so ein Gefühl. Daß alles gut werden wird.“ Grußlos schritt sie davon.

„He, warten Sie!“ rief er und lief ihr nach.

„Ich bin jetzt müde.“

„Na klar sind sie müde. Wie könnte es anders sein! Deshalb möchte ich Sie nach Hause fahren.“

„Ich kann sehr gut zu Fuß gehen.“

„Natürlich können Sie das.“ Er trabte weiter eifrig neben ihr her. „Aber meinen Sie nicht auch, daß Sie für diese Nacht genug erlebt haben?“

„Es wird nichts mehr geschehen.“

„Tun Sie mir den Gefallen, und fahren Sie mit mir, Fräulein Forester! Ich habe auch so meine Gefühle, wissen Sie. Es ist mir verdammt unbehaglich bei dem Gedanken, Sie jetzt einfach allein zu lassen.“

Im Licht einer Laterne blieb sie stehen und sah an sich herunter. „Ich würde Ihren Wagen schmutzig machen.“

„Ach was!. Das Blut ist doch längst getrocknet. Außerdem hat mein altes Vehikel schon ganz andere Strapazen überstanden. Also kommen Sie schon. Mir zuliebe.“ Behutsam faßte er sie beim Arm und führte sie zu seinem VW zurück. Er öffnete ihr die Tür zum Beifahrersitz, wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte, schloß die Tür hinter ihr und stieg erst dann auf der anderen Seite ein.

„Lassen Sie immer die Zündschlüssel stecken?“ fragte sie.

Er freute sich über diese natürliche Bemerkung und grinste sie an. „Nur wenn ich es sehr eilig habe. Und vorhin hat es ja wirklich sehr pressiert. Wenn ich nicht so rasch zur Stelle gewesen wäre, hätte ich Sie womöglich gar nicht kennengelernt.“

Er hoffte, daß sie den Ball auffangen und auf seinen Flirtversuch eingehen würde. Aber sie tat es nicht. Sie sagte nichts, sah ihn nicht einmal an, saß einfach da, die langen Beine von sich gestreckt, die Hände in den Taschen vergraben, leicht zusammengesunken.

Er ließ den Motor an, brachte das Auto auf die Fahrbahn und wendete. „Wohin also?“

„Zur Herzogstraße.“

„Zu Fuß ist das aber noch eine ganze Ecke.“ Er fragte sich, warum sie, wenn sie schon in der Nacht spazierengehen mußte, nicht im modernen Teil Schwabings jenseits der Leopoldstraße geblieben war.

Sie äußerte sich nicht zu seiner Bemerkung.

Er unternahm einen neuen Versuch, sie zum Sprechen zu bringen. „Ich fürchte, ich habe mich nicht einmal vorgestellt.“

Diesmal reagierte sie. „Sie heißen Sanner, wenn ich den Polizisten richtig verstanden habe“, sagte sie in einem Ton, der deutlich machte, daß sie nicht im entferntesten daran interessiert war.

Er ließ sich nicht entmutigen. „Stimmt. Paul Sanner. Ich bin Journalist, Fräulein Forester.“ Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß diese Erklärung überflüssig war, denn wenn die Forester nicht ganz dumm war – und so schätzte er sie nicht ein –, hatte sie sich das schon selber zusammenreimen können. So war er diesmal auch nicht enttäuscht, daß sie nicht darauf einging. „Das hatten Sie sich schon gedacht, wie?“ fügte er hinzu.

„Ja, Herr Sanner“, sagte sie, wie es ihm schien, nur um nicht unhöflich zu sein.

„Darf ich fragen, was Sie studieren?“

Jetzt wurde sie etwas lebhafter. „Aber ich studiere gar nicht, nicht wirklich, meine ich. Das habe ich nie behauptet.“

„Nein, das haben Sie nicht, Fräulein Forester. Aber Sie erzählten dem Wachtmeister etwas von einem Institut, in das Sie müßten. Daraus habe ich geschlossen, Sie wären Studentin.“

Wieder zog sie sich in sich selber zurück.

„Nun seien Sie doch nicht so geheimnisvoll! Ich verstehe ja: Sie sind jetzt müde, vielleicht sogar erschöpft. Aber ein bißchen könnten Sie sich doch mit mir unterhalten. Schließlich sind die paar Fragen, die ich Ihnen stelle, ja nicht taktlos.“

„Wollen Sie über mich in Ihrer Zeitung schreiben?“ fragte sie überraschend.

„Ich muß Sie enttäuschen. Ich habe keine Zeitung, ich meine, ich habe keine feste Anstellung.“

„Aber Sie schreiben doch für irgendwelche Blätter?“

Das mußte er, wenn auch mit Unbehagen, zugeben.

„Ich will nicht in die Zeitung kommen.“

„Verstehe. Aber Sie können es bestimmt nicht verhindern, indem Sie die Geheimnisvolle spielen.“

„Ich spiele nicht.“

„Sehen Sie, ich könnte Ihnen jetzt hoch und heilig schwören, keine Zeile über Sie zu schreiben. Ich könnte mich sogar aus reiner Sympathie an diesen Schwur halten. In der Sache würde es gar nichts nutzen. Ich bin ja nicht der einzige Schreiberling in München, und viele Reporter haben gute Beziehungen zur Polizei.“

Dazu wußte sie keine Antwort oder wollte sie nichts sagen.

„Es wird schon nicht so schlimm werden“, tröstete er sie und zerbrach sich den Kopf, wie er sie zum Reden bringen könnte. Er hatte das Gefühl, es ganz falsch angefangen zu haben.

Nach einigem Überlegen entschloß er sich, von sich selber zu erzählen. „Ich stamme übrigens nicht aus München, sondern bin in Kassel geboren. Meine Eltern leben immer noch dort. Vor ein paar Jahren bin ich zum Studium hierhergekommen. Philologie. Dann hat es mir so gut gefallen, daß ich geblieben bin. Ob für immer oder vorläufig, das kann ich noch nicht sagen. In meinem Beruf muß man mobil sein. Ich wohne in der Keferloher Straße, ganz nahe am Olympiagelände. Da gibt es jede Möglichkeit, Sport zu treiben, und nachts ist es besonders eindrucksvoll, wenn Licht aus allen Fenstern der Hochhäuser fällt. Waren Sie schon einmal dort?“

Sie nickte.

„Interessieren Sie sich für Fußball?“

„Wir sind gleich da“, sagte sie statt einer Antwort.

Obwohl er absichtlich langsam gefahren war – auf den nächtlichen Straßen war kaum noch Verkehr – hatten sie die Herzogstraße schon erreicht.

„Halten Sie da vorne! Da! Vor dem großen Tor.“

Er bremste, wo sie es ihm angegeben hatte.

„Danke fürs Mitnehmen“, sagte sie und wollte rasch aussteigen.

Aber er war schneller als sie, lief um den VW herum und öffnete ihr die Tür.

„Danke“, wiederholte sie.

„Soll ich Sie nicht nach oben bringen?“ erbot er sich. „Ich habe nicht die Absicht, Sie zu belästigen. Ich möchte nur ganz sicher sein, daß Sie heil nach Hause kommen.“

„Aber das bin ich ja schon.“ Sie zog den Reißverschluß ihres Parkas ein Stück nach unten und holte aus der Innentasche einen Schlüsselbund hervor.

Links neben dem Tor, vor dem sie standen, war ein Blumenladen, rechts eine Musikalienhandlung; die Schaufenster waren nur matt beleuchtet.

Paul Sanner blickte zu dem düsteren Gebäude hoch. „Sieht aus wie ein Bürohaus.“

„Ist es auch“, bestätigte sie.

„Sie wohnen hier ganz allein?“

„Im Hinterhaus“, sagte sie und steckte einen ihrer Schlüssel in das Schloß des Tores.

„Aber dann müssen Sie ja noch über den Hof!“

„Macht nichts. Ich bin es gewohnt.“

„Bitte, lassen Sie mich Sie begleiten!“

„Ausgeschlossen!“ Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Irn wahrsten Sinne des Wortes, verstehen Sie? Ich muß hinter mir abschließen. Das Tor darf nachts nicht offen sein.“ Sie zog den schweren Flügel einen Spalt auf. „Gute Nacht, Herr Sanner.“

„Sehen wir uns wieder?“

„Wer weiß!“ gab sie ausweichend zur Antwort, und schon war sie verschwunden.

Er hörte, wie sie von innen abschloß.

Paul Sanner wunderte sich über sich selbst. Er hätte über ihr Verhalten verärgert sein sollen, aber er war es nicht. Gerade ihre ablehnende Haltung reizte ihn, das Spiel nicht aufzugeben. Noch nachträglich beglückwünschte er sich, zum Tatort gefahren zu sein. Die Meldung über den Vorfall war nicht mehr als drei Zeilen wert. Aber er war sicher, daß mehr, viel mehr dahinterstecken mußte.

Die Frau mit dem zweiten Gesicht

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