Читать книгу Die Frau mit dem zweiten Gesicht - Marie Louise Fischer - Страница 6

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Paul Sanner hatte Marie noch vor der Vernehmung abfangen wollen, um sie wiederzusehen und ihr Mut zuzusprechen. Aber er war zu spät gekommen. Jetzt stand er im Empfangsraum des Polizeireviers vor der hölzernen Barriere und wartete auf sie. Dabei spitzte er gewohnheitsmäßig die Ohren, um möglichst viel von den Klagen und Anschuldigungen einer angeblich bestohlenen alten Frau und den Ausreden eines jungen Mannes, den man mit Kokain erwischt hatte, mitzubekommen. Es mochten sich ein paar Zeilen dabei herausschinden lassen. Er war damit so beschäftigt, daß er Marie, die aus einer rückwärtigen Tür des großen Raumes kam und sich zwischen den Schreibtischen durchschlängelte, die von uniformierten Beamten besetzt waren, gar nicht bemerkte. Erst als ein junger Polizist ihr die Barriere öffnete und sie fast unmittelbar vor ihm stand, erkannte er sie.

„Fräulein Forester!“ rief er erfreut. „Da sind sie ja endlich!“

„Tut mir leid“, entgegnete sie kurz angebunden, „ich habe jetzt überhaupt keine Zeit.“ Sie ging an ihm vorbei auf den Ausgang zu.

Er blieb an ihrer Seite. „Wenn Sie es eilig haben – ich bringe Sie gerne, wohin immer Sie wollen.“

Jetzt schenkte sie ihm ein Lächeln. „Zum Pündterplatz. Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen.“

„Für Sie tue ich doch alles!“ behauptete er überschwenglich.

Ihr Lächeln vertiefte sich. Jetzt übertreiben Sie nur nicht.“

Er blickte sie bewundernd an. Sie war, was er schon in der Nacht zuvor geahnt hatte, ein wirklich schönes Mädchen. Das aschblonde, jetzt gründlich durchgebürstete Haar, umwogte ein schmales Gesicht, dem die stark ausgeprägten Jochbogen einen leicht slawischen Charakter gaben. Ihre Haut hatte immer noch jenes Porzellanweiß, das ihm schon in der Nacht aufgefallen war, aber jetzt waren ihre Wangen leicht gerötet, ob vor Erregung oder mit Hilfe eines kosmetischen Kunstgriffs vermochte er nicht zu beurteilen. Jedenfalls hatte sie das natürlich leuchtende Rot ihrer Lippen mit einem hellen Stift gedämpft, die Augenbrauen mit einem grauen Stift nachgezogen und die Wimpern getuscht. In ihrem Hosenanzug aus Waschleder wirkte sie sehr elegant, gerade weil er schon etwas abgewetzt war. Ihr Profil, das er jetzt beobachtete, während er neben ihr hereilte, zeigte eine gerade Nase und ein rundes Kinn, beides zu kräftig, als daß man sie in landläufigem Sinn als hübsch hätte bezeichnen können. Aber eine Schönheit war sie, das stand für ihn ganz außer Frage.

„Hat man Ihnen schwer zugesetzt?“ fragte er, während er ihr die Tür seines klapprigen VW’s aufriß; diesmal hatte er den Zündschlüssel zwar abgezogen, es aber nicht der Mühe wert gefunden, das Auto abzuschließen.

„Das kann man wohl sagen.“ Als er sich neben sie gesetzt hatte und den Motor anließ, fügte sie hinzu: „Ich finde es komisch, daß man gleich wie ein Verbrecher angesehen wird, bloß weil man Opfer geworden ist.“

„Tatsächlich? Hat man das?“

„Nicht direkt. Aber dieser Hauptwachtmeister hat mir doch tatsächlich erklärt, mein Bruder könnte zur Drogenszene gehören. Ausgerechnet Günther! Und wenn ich nicht betont hätte, daß er politisch rechts steht, hätte er ihn womöglich dem Terrorismus zugeordnet, zumindestens dem Umfeld.“

„Regen Sie sich nicht auf, Fräulein Forester! Da das alles nicht stimmt, kann Ihrem Bruder ja nichts passieren. Ich habe mich übrigens im Krankenhaus nach ihm erkundigt …“

„Danke. Ich auch. Ich bin sicher, er wird es überleben.“

„Das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?“

„Natürlich. Aber die Art, wie die Polizei mit einem umgeht, ärgert mich doch. Mir hat dieser Hauptwachtmeister kein Wort geglaubt.“

„Und Sie haben auch nichts zugegeben“, sagte er und bereute es sofort.

„Zugegeben?“ wiederholte sie und blickte ihn an, wobei das leicht verschleierte Blaugrün ihrer Iris sich in ein intensives Blau verwandelte, ein Vorgang, der sich so schnell vollzog, daß Paul Sanner gleich darauf glaubte, es geträumt zu haben. „Was hätte ich zugeben sollen?“ fragte sie.

„Ach, vergessen Sie’s!“ sagte er rasch. „Es war nur so ein dummer Spruch. Als Studenten sagten wir immer: Man soll nie was zugeben, was einem die Polizei nicht beweisen kann.“ Er bog an der Münchener Freiheit in die breite, sehr belebte Herzogstraße ein und fuhr in Richtung Pündterplatz. „Überhaupt sollte es für uns doch andere Themen geben als diese scheußliche Geschichte. Unterhalten wir uns doch mal in Ruhe miteinander. Gehen wir morgen abend zusammen essen, ja?“

Ein wenig überrascht sah sie ihn an und nahm ihn jetzt zum ersten Mal wirklich wahr. Bis zu diesem Augenblick war er für sie nichts als eine Art Marionette gewesen, der wie der Wirt, die Polizisten, der Arzt und die Sanitäter nur ihre Rolle in einem vorprogrammierten Stück gespielt hat. Er war ein charmanter junger Mann mit hellbraunem, weichem Haar und blauen Augen, die durch dunkle, auffallend dichte Wimpern besonders strahlend wirkten. Sie empfand, daß er ihr sympathisch war, zögerte aber dennoch, seine Einladung anzunehmen. Es war nicht ihre Art, rasch Bekanntschaften zu machen oder gar Freundschaften zu schließen.

„Kommen Sie, kommen Sie!“ drängte er. „Was haben Sie schon zu verlieren? Da Sie offensichtlich sonst nichts Vorhaben …“

Sie war nahe daran, eine Ausrede zu erfinden, entschied dann aber, daß eine Lüge in diesem Fall absolut nicht dafür stand. „Na schön. Wo treffen wir uns?“

„Ich hole Sie ab.“

„Und wann?“

„Gegen acht.“

„Sie müssen schon pünktlich sein, denn ich werde auf der Straße auf Sie warten. Ich glaube, ich habe es Ihnen schon mal erklärt: nach sieben Uhr wird das Tor verschlossen.“

„Kann man denn nicht bei Ihnen klingeln?“ fragte er erstaunt.

„Nicht von der Straße aus, nur von der Haustür.“

„Mein Gott, wie umständlich! Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mir macht das nichts aus. Aber wie können Sie dann überhaupt abends Freunde empfangen?“

„Das tue ich auch nicht“, bekannte sie.

„Nie?“

Er fragte das so verblüfft, daß sie es für richtiger hielt, ihr Geständnis abzumildern.

„Wer mich abends erreichen will, ruft mich vorher an!“ behauptete sie. „Und ich glaube, so sollten wir es auch morgen machen. Telefonieren Sie, wenn Sie genau wissen, wann Sie dasein werden, und ich komme hinunter.“

Sie hatten den Platz inzwischen erreicht, und Paul Sanner hatte gebremst, war aber, da er keinen Parkplatz fand, auf der Fahrbahn stehengeblieben. Noch während sie sprach, hatte sie schon die Tür geöffnet und ihr Köfferchen genommen, das sie neben ihren Beinen abgestellt hatte. Jetzt sprang sie heraus.

„Bis morgen abend!“ rief er hinter ihr her, war aber nicht sicher, ob sie ihn noch gehört hatte. Er hätte ihr noch nachsehen mögen, wie sie auf ihren langen Beinen mit großen Schritten davonging. Aber um den Verkehr nicht zu behindern, riß er sich von ihrem Anblick los und fuhr weiter.

Ein seltsames Mädchen, dachte er.

Das ,Privatinstitut Geissler‘ war in einem schönen alten Haus mit prächtig verziertem Mauerwerk untergebracht, das einst eine private Villa gewesen war.

Marie eilte, nachdem der Pförtner ihr geöffnet hatte, durch die große, etwas düstere Halle, riß sich in der Garderobe die Jacke herunter, hing sie in ihren Spind und zog sich einen weißen Kittel über. Die summende Stille, die sie empfing, verriet ihr, daß der Unterricht schon begonnen hatte. Obwohl sie sich nicht durch eigene Schuld verspätet hatte, war es ihr doch sehr peinlich, zumal sie die erste Stunde, anatomisches Zeichnen, bei Professor Reisinger hatte, einer wirklichen Kapazität, von den Schülern bewundert, umschwärmt und auch gefürchtet.

Bernhard Reisinger hatte sich schon in jungen Jahren, er war erst zweiunddreißig, einen Namen als Kunstmaler gemacht, galt nicht nur als genial, sondern auch als Gesellschaftslöwe, so daß er über Mangel an Aufträgen, seien sie staatlich, städtisch oder privat, nicht zu klagen brauchte. Es hieß, daß er am Institut nur aus Freundschaft zu dessen Besitzerin und Direktorin Frau Henriette Geissler unterrichtete, die ihn am Beginn seiner Karriere nachhaltig gefördert hatte. Ihm verdankte die Kunstschule ihre Attraktivität.

Marie flog die breite Treppe hinauf und hoffte inständig, daß ihre Verspätung nicht auffallen würde. Wenn Professor Reisinger angeblich auch nur aus Gefälligkeit unterrichtete, pflegte er sich doch sehr auf die Arbeiten der einzelnen Schüler zu konzentrieren. Lautlos öffnete sie die Tür zu dem hellen hohen Raum, nur einen Spalt breit, durch den sie sich hineinzwängte, schloß sie genauso geräuschlos wieder hinter sich.

Aber Professor Reisinger, der sich über das Zeichenbrett Gregor Krykowkys gebeugt hatte, richtete sich sofort auf und blickte ihr entgegen. „Sie sind spät dran, Marie!“ stellte er fest. „Gibt es jetzt etwas in Ihrem Leben, das Ihnen wichtiger ist als die Kunst? Oder haben Sie einfach verschlafen?“

Die anderen Schülerinnen kicherten über diesen Kommentar, aber Marie ärgerte sich. Dennoch hielt sie dem Blick seiner grünen, goldgesprenkelten Augen stand. „Verzeihen Sie, Herr Professor!“

„Bei mir brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen, Marie! Sie lernen ja auch nicht mir zuliebe.“

„Nein, bestimmt nicht!“ gab Marie zurück. Im selben Augenblick wurde ihr bewußt, daß diese Erwiderung kindisch gewirkt haben mußte.

„Dann also los! An die Arbeit! Verlieren Sie nicht noch mehr Zeit!“

Marie öffnete ihr schwarzes Köfferchen, holte ein rotes Seidentuch heraus, mit dem sie ihr langes Haar im Nacken zusammenband, und spannte ein grobkörniges Blatt auf ihren Zeichentisch. Dann fixierte sie das Modell, das im hellen Licht, das aus den großen Fenstern vom Garten her fiel, nackt auf einem Podest saß. Es war eine alte Frau mit Hängebrüsten, einem ausgeleierten Bauch, die entspannt, mit übergeschlagenen Beinen auf einem Schemel hockte. Auch das noch! dachte Marie. Ich werde nie begreifen, warum man so etwas skizzieren soll.

Aber natürlich wußte sie, daß es sein mußte. Sonst hätte Professor Reisinger, der selbst längst über die gegenständliche Malerei hinaus war, es nicht von seinen Schülern verlangt. Er war genau darüber orientiert, was für die Aufnahme in die Staatliche Kunstakademie von den Anwärtern verlangt wurde. Sie nahm einen Kohlestift und machte sich an die Arbeit.

„Hübsch, nicht?“ flüsterte Anita Lehnertz, ihre Nachbarin zur Linken, ihr zu. „Wenn ich mir vorstelle, daß ich später auch mal so aussehen werde!“ Anita war bildhübsch mit ihrer wohlproportionierten Figur, blondgelocktem Haar, das noch durch geschickt verteilte Strähnchen und himmelblaue Augen aufgehellt wurde.

„Du nicht!“ gab Marie zurück.

„Wie kannst du da so sicher sein?“

„Die hat mindestens drei Kinder gehabt und sich außerdem sträflich gehenlassen.“

Anita, die sich ihr Studium als Fotomodell verdiente, lächelte. „Klar erkannt“, flüsterte sie.

Professor Reisinger näherte sich ihr von hinten. „Na, kleines Plauderstündchen?“ fragte er.

„Wir haben nur über das Modell gesprochen“, verteidigte sich Anita.

„Gefällt Ihnen wohl nicht, Fräulein Lehnertz?“

Anita schauderte übertrieben. „Schlechte Aussichten für die Zukunft!“

„Das ist der Weg alles Irdischen.“ Er beugte sich über ihr Zeichenbrett. „Schon recht ordentlich.“

Anita bedachte ihn mit einem hingebungsvollen Augenaufschlag. „Wirklich, Herr Professor?“

„Die Knie ein bißchen markanter, wenn es möglich ist.“ Er ging weiter zu Marie.

Sie hatte sich schon zuvor schwergetan, aber jetzt, wo er ihr auf die Finger schaute, wurde sie noch unsicherer. Ihre Hände gehorchten ihr plötzlich nicht mehr; sie wünschte, er würde wortlos weitergehen. Aber er tat es nicht. „Na, wie haben wir es denn, Marie?“ fragte er.

„Es ist schwer.“

„Wollen Sie mir bitte erklären, was Ihnen solche Schwierigkeiten macht?“

„Freiwillig würde ich ein solches Objekt niemals wählen.“

„Und deshalb schönen Sie es. Das ist falsch, Marie. Machen Sie es drastisch. Eine Karikatur wird es bei Ihnen ohnehin nicht werden.“ Er blieb weiter hinter ihr stehen.

Sie wagte nicht zu sagen, wie sehr er sie irritierte.

„Versuchen Sie es mal mit einem Bleistift!“ wies er sie an.

„Oh!“ sagte sie bestürzt. „Auf dem selben Blatt?“

„Warum nicht? Mit dem Bleistift kann man weniger mogeln, Marie, und darauf kommt es an.“

Sie gehorchte, suchte sich einen weichen Bleistift aus, verlängerte die Brüste, so daß sie, wie beim Vorbild, fast die Knie berührten.

„Schon besser, Marie“, lobte er und ging langsam weiter.

Sie atmete auf. Endlich gehorchte ihre Hand wieder ihrem Auge und ihrem Kopf.

Als er eine halbe Stunde später noch einmal zu ihr kam, sagte er anerkennend: „Na also, Marie! Ich wußte es ja. Sie können es, wenn Sie nur wollen.“

Diesmal bemühte sie sich gar nicht, in seinem Beisein weiterzumachen; sie ließ die Hand sinken und sah ihn an. „Ich finde, es wirkt spuckhäßlich.“

„Es gibt nicht nur schöne Dinge im Leben, Marie.“

„Das weiß ich, Herr Professor. Aber ich meine, man sollte auch das Häßliche liebevoll betrachten oder Wenigstens mit Mitgefühl.“

„Später wird Ihnen das unbenommen bleiben. Aber als Anfängerin müssen Sie erst einmal lernen, die Realität so zu erfassen, wie sie ist.“

„Ja, Herr Professor“, sagte sie und senkte den Blick.

Er blieb noch eine Weile bei ihr stehen, und sie mußte wenigstens so tun, als ob sie weiterarbeitete, und ihre zitternde Hand zum Gehorsam zu zwingen.

Zwei Stunden später verließ Professor Reisinger mit einem fröhlichen „Bis nächsten Freitag, meine Damen und Herren!“ das Klassenzimmer.

Wie auf ein Stichwort hin begannen die Zurückgebliebenen gleichzeitig zu reden. Das Modell dehnte und reckte sich und zog sich ungeniert an. Gregor Krykowsky, von seinen Kameraden und auch von Professor Reisinger als der Begabteste, Fleißigste und Ehrgeizigste anerkannt, versuchte noch einige Bewegungsskizzen zu machen. Die anderen verstauten ihre Zeichnung in großen Arbeitsmappen.

„Wie ich dieses anatomische Zeichnen hasse!“ stieß Marie aus tiefstem Herzen aus.

„Aber er hat dich doch gelobt!“ sagte Anita Lehnertz. „Laß mal sehen!“

Marie hielt ihr die noch offene Mappe hin.

„Na, so doll kann ich das aber nicht finden“, sagte sie abwertend.

„Habe ich auch nie behauptet.“

„Nach Reisis Worten hatte ich ein Meisterwerk erwartet.“

Susanne Brüning, Anitas ,häßliche Freundin‘, trat zu den beiden und zündete sich eine Zigarette an. „Das kommt nur, weil er ein Auge auf sie geworfen hat.“

„Komm mir nicht wieder mit diesem Quatsch!“ konterte Marie wütend und verstaute ihre Mappe unter dem Tisch.

Susanne kniff ihre kleinen, sehr scharf blickenden Augen zusammen und musterte sie spöttisch. „Was regst du dich auf? Das kann dich doch nur ehren, und außerdem erleichtert es dir das Leben.“

„Nur leider stimmt es nicht“, sagte Anita nüchtern.

„Aber ja doch! Warum sonst sein ewiges ,Marie hin, Marie her‘? Mich spricht er mit ,Fräulein Brüning‘ an und dich als ,Fräulein Lehnertz‘.“

„Doch nur, weil Marie noch so ein Küken ist.“

„Anita hat recht“, sagte Marie entschieden, „er macht sich nicht das geringste aus mir. Er nimmt mich nicht einmal für voll. Laßt uns doch in den Garten gehen! Ein bißchen frische Luft würde uns allen bestimmt guttun.“

Dieser Vorschlag wurde angenommen. Nachdem Anita ihre Zigarette in einem leeren Farbtöpfchen ausgedrückt hatte, liefen sie nebeneinander die breite Treppe hinunter. Im Garten setzten sie sich auf ihren Lieblingsplatz dicht an der rückwärtigen Hausmauer, die von der Herbstsonne noch angenehm erwärmt wurde.

Die Unterhaltung verlief wie gewöhnlich. Susanne, die abends als Bedienung arbeitete, und Anita plauderten über ihre Erfahrungen, und Marie beschränkte sich darauf, zuzuhören und hin und wieder eine Zwischenfrage zu stellen. Heute, zum ersten Mal, kam ihr das sonderbar vor. Natürlich konnte sie nicht erzählen, was sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Sie hätte es den Freundinnen so wenig erklären können wie der Polizei. Aber warum sagte sie nicht wenigstens, daß sie einen netten jungen Mann kennengelernt und sich mit ihm verabredet hatte? Weil sie nicht annahm, daß die anderen sich dafür interessierten? Weil sie nichts von sich preisgeben wollte?

Marie wußte es nicht. Zurückhaltung war ihr seit langem zur zweiten Natur geworden. Dabei sehnte sie sich so sehr danach, sich einmal auszusprechen.

Am Tag darauf nahm sich Marie ein paar Stunden frei und fuhr mit ihrem roten Flitzer, den sie selten benutzte, denn sie ging lieber zu Fuß, zum ,Krankenhaus rechts der Isar‘ hinüber. Selbst mit dem Auto brauchte sie bei dem dichten Verkehr, der in der Stadt herrschte, nahezu eine halbe Stunde. Aber sie kam pünktlich zur Besuchszeit an und stellte ihren Wagen auf dem großen Parkplatz ab.

In der Eingangshalle, die fast wie eine Großstadtstraße wirkte, gab es Geschäfte, in denen alles mögliche verkauft wurde, vor allem Obst, Süßigkeiten, Tabakwaren, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Hier flanierten Patienten in Hausschuhen und Morgenmänteln, andere saßen allein oder mit Besuchern in der benachbarten Caféteria. Die lebhafte, wenig krankenhaushafte Stimmung wirkte beruhigend auf Marie.

Hauptwachtmeister Werner hatte ihr mitgeteilt, daß Günther Grabowsky inzwischen vernommen worden war und ihr auch seine Zimmernummer angegeben. Sie hatte für ihren Stiefbruder besonders saftige Mandarinen besorgt, die sie in einem Netz mit sich trug. Die großen Plantafeln halfen ihr, sich in dem riesigen Haus zurechtzufinden, und wenig später trat sie nach kurzem Anklopfen in das Zweibettzimmer, in dem Günther lag. Er wirkte immer noch sehr blaß, seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, außerdem war er unrasiert, aber er lächelte ihr tapfer entgegen. Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf beide Wangen. „Sei mir nicht böse, daß ich erst heute nach dir sehe. Die Polizei hatte es mir verboten.“

„Typisch!“

Sie warf einen prüfenden Blick auf das andere Bett, aber der Mann, der darin lag, beachtete sie gar nicht, sondern schien in die Lektüre eines Herrenmagazins vertieft. Dennoch senkte sie die Stimme zu einem Flüstern, als sie fragte: „Was hast du ihnen erzählt?“

„Über dich?“

„Ja, natürlich. Sie wollten mir nicht glauben, daß ich dich zufällig gefunden habe.“

„Kann ich mir vorstellen.“

Marie leerte ihr Netz auf Günthers Nachttisch und verstaute es in ihrer Handtasche.

„Mandarinen? Wunderbar!“ sagte er. Beim Lächeln entblößte er seine schiefstehenden Zähne, die ihm etwas Lausbübisches gaben, das gar nicht in seinem Charakter lag; als Junge hatte er sich mit Erfolg gegen das Tragen einer Zahnspange gewehrt. „Du darfst mir gleich eine schälen.“

„Du kannst also schon wieder essen?“

„Unbesorgt. Die Zeit der intravenösen Ernährung ist überstanden.“

„Gott sei Dank!“ Sie zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. „Hast du eine Serviette?“

„In der Schublade.“

Sie nahm sie heraus, breitete sie über ihren grauen Flanellrock, nahm eine der Mandarinen zur Hand und begann sie zu schälen. „Was ist nun wirklich passiert?“

„Weißt du das nicht?“

„Nein.“

„Aber wieso, bist du dann darauf gekommen, mich zu suchen?“

„Ich …“ Marie stockte. „Nein, erzähl du erst! Wie konnte dir das passieren?“

„Eigene Dummheit. Aber ich schwöre dir: Nie wieder mische ich mich in so was ein. Ich saß gemütlich in einer Wirtschaft – ich hatte bis in die Nacht hinein gearbeitet – als ein Kerl an einem Nebentisch Krach mit seiner Frau oder seiner Freundin, was auch immer, jedenfalls mit einem weiblichen Wesen anfing. Als sie das Lokal verließen, war er furchtbar aufgebracht und natürlich auch nicht mehr nüchtern. Ich zahlte und ging ihnen nach. Er watschte sie und stieß sie in diese Sackgasse hinein.“

„Stand das Tor denn offen?“

„Nein, aber es war auch nicht verschlossen. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen, und es schwang auf. Die Frau schrie.“

„Und da mußtest du den edlen Retter spielen?“ Marie hatte die Mandarine geschält, jetzt teilte sie sie und steckte ihm ein Stück zwischen die Lippen.

Er saugte genüßlich daran und nickte.

„Die Polizei dachte, du hättest was mit Drogen zu tun.“

Er schluckte. „Typisch! Die nehmen immer gleich das Schlimmste an.“

„Daß du dich getraut hast, den beiden nachzugehen!“

„Ich hatte den Eindruck, daß er ihr was antun wollte. Wie hätte ich mich gefühlt, wenn ich am nächsten Tag in der Zeitung hätte lesen müssen, sie wäre umgebracht worden? Besser doch so.“

Sie steckte ihm das nächste Stück, das sie bis jetzt in der Hand gehalten hatte, in den Mund. „Schlimm genug. Du hättest dabei draufgehen können.“

Als er es gegessen hatte, sagte er: „Ich war mir übrigens keiner Gefahr bewußt. Der Kerl war viel schmächtiger als ich. Wie konnte ich denn ahnen, daß er ein Messer ziehen würde? Ich Trottel habe mir eingebildet, ihn mit ein paar klugen Onkel-Doktor-Floskeln beruhigen zu können.“

„Mach dir nichts draus! Du bist schließlich kein Irrenarzt.“

Er sah dankbar zu ihr auf. „Ich habe mich tatsächlich wegen meines Versagens geschämt.“

Während sie so an seinem Krankenbett saß und ihn fütterte, fühlte sie die alte Zuneigung aus Kindertagen in sich aufwallen. „Du hast mehr getan, als man von dir erwarten konnte.“

„Nett von dir, das zu sagen.“

„Das sollte kein Kompliment sein, sondern meine ehrliche Meinung. War die Polizei nicht auch dieser Ansicht?“

„Die wollten mir nicht abnehmen, daß ich die Leute vorher überhaupt nicht gekannt habe.“

„Ja, ich weiß. Meine Schuld.“ Während des Gesprächs teilte Marie weiter Mandarinenschnitze aus, ja, sie schälte auch noch eine zweite.

„Wie, um Himmels willen, bist du dort hingekommen?“ wollte Günther wissen.

„Ich bin gelaufen.“

„Aber wieso?“

Marie warf einen Blick zum anderen Bett hinüber. „Kannst du dir das nicht denken?“

Günthers Gesicht verfinsterte sich. „Immer noch? Ich dachte, das wäre vorbei.“

„Ich kann nichts dafür!“ sagte sie heftig. „Und diesmal hat es dir ja wahrscheinlich das Leben gerettet. Also mach mir bitte keinen Vorwurf!“

„Das wollte ich nicht. Tut mir leid, wenn es so geklungen hat. Tatsächlich bin ich …“ Er suchte nach dem passenden Ausdruck. „… entsetzt.“

„Ich muß damit leben, nicht du.“

„Aber Vater meinte doch, es würde nach der Pubertät besser werden.“

„Das habe ich auch gehofft. Es war das erste Mal, seit ich …“ Sie unterbrach sich. „Du hast der Polizei gegenüber doch hoffentlich nichts durchblicken lassen?“

„Natürlich nicht. Glaubst du, ich will riskieren, für verrückt erklärt zu werden?“

„Konntest du eine Beschreibung des Täters geben?“

„Eine ziemlich gute sogar. Aber sie wollten mir nicht glauben. Zum Glück hat die Bedienung meine Version bestätigt. Daß ich an einem anderen Tisch gesessen habe, daß dieser Kerl und sein Mädchen sich gestritten haben und ich erst nach ihnen gegangen bin. Trotzdem sind sie skeptisch geblieben. Nach dem Motto: alles abgekartetes Spiel und so. Der Beamte, der mich verhört hat …“

„War es Hauptwachtmeister Werner?“ fiel sie ihm ins Wort.

„Ja, ich glaube schon. Ich habe nicht auf den Namen geachtet. Jedenfalls ist er überzeugt, daß ich den Täter kenne und daß seine Begleiterin dich nachträglich angerufen hat.“

„Rechnest du damit, daß der Bursche gefaßt wird?“

„Wohl kaum. Falls er nicht in der Verbrecherkartei steht. Die soll ich mir, wenn ich hier raus bin, noch durchsehen. Oder ich müßte ihm zufällig begegnen,“

„Würdest du die Polizei verständigen? Ich meine, wenn du ihn irgendwo sehen würdest?“

Er dachte nach. „Ich glaube nicht. Wahrscheinlich handelt es sich um ein armes Schwein. Nicht anzunehmen, daß er am laufenden Band Leute niedermetzelt.“

„Die Polizei wird dich sicher noch eine Weile im Auge behalten.“

„Falls sie nichts Besseres zu tun hat. Aber was soll’s?! Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, und ich habe auch nichts zu verbergen.“ Während des Gesprächs hatte er rote Flecken auf den Wangen bekommen.

„Du, ich glaube, ich muß jetzt gehen“, sagte sie, sammelte die Schalen ein, stand auf und sah sich nach einem Papierkorb um.

„Schon?“ fragte er enttäuscht.

Sie hatte einen Plastikeimer gefunden und warf die Mandarinenschalen hinein. Dann kam sie zu ihm zurück und beugte sich über ihn. „Das viele Reden strengt dich zu sehr an.“ Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. „Du hast Fieber.“

„Nur ein bißchen Temperatur. Die kommt nicht vom Reden, sondern von meiner Wunde.“

„Trotzdem. Ich werde dich bald wieder besuchen. Meinst du, daß ich mich an die Besuchszeiten halten muß?“

„Überhaupt nicht. Ich liege schließlich zweiter Klasse. Lilo kann auch erst nach Ladenschluß kommen.“

„Wie geht es ihr?“ fragte Marie ohne sonderliches Interesse. Sie wußte, daß sie wahrscheinlich ungerecht war, aber sie konnte die Frau, mit der ihr Bruder zusammenlebte, nicht leiden.

Er ahnte nichts von ihren Gefühlen. „Der hat das Ganze natürlich einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Erst mal, weil ich in der Nacht nicht nach Hause gekommen bin …“

„Ich hätte sie anrufen sollen“, fiel ihm Marie ins Wort, „aber daran habe ich überhaupt nicht gedacht.“

„Die Vorwürfe kriegst nicht du, die werde ich einstecken müssen. Sobald es mir wieder bessergeht. Vorläufig ist sie noch ganz Sanftmut und Besorgnis. Aber das dicke Ende kommt nach.“

„Hast du ihr …“ Marie zögerte weiterzusprechen.

Er erriet ihre Gedanken: „… von deinem Eingreifen erzählt? Nein. Wie hätte ich ihr das denn erklären können? Sie ist eine äußerst nüchterne, realistisch denkende Frau.“

Sie sahen einander tief in die Augen.

Sie dachte: Wie kann man nur eine so kalte, materialistische Person lieben? Außerdem ist sie ein paar Jahre älter als er. Schade um ihn!

Und er: Was ist sie für ein verrücktes junges Ding! Trotz allem, irgendwie hab’ ich sie lieb.

Sie drückte einen zarten Kuß auf seine heiße Stirn. „Ich habe noch eine Frage“, sagte sie, als sie sich wieder aufgerichtet hatte.

„Ja?“

„Hast du an mich gedacht? Als es passierte, meine ich.“

„Nein. Nicht an dich und auch nicht an meine Mutter, oder daß sich mein verflossenes Leben vor mir abgespult hätte. Nichts in dieser Richtung. Ich habe nur den Schmerz gespürt. Nicht einmal, daß es mit mir aus sein könnte, habe ich gedacht. Und dann habe ich ja auch sehr schnell das Bewußtsein verloren.“

„Du sollst doch nicht so viel reden, Günther.“

„Du bringst mich dazu.“

„Das wollte ich nicht. Ein einfaches ,Ja‘ oder ,Nein‘ hätte mir genügt.“ Sie lächelte ihm zu. „Dann bis bald und gute Besserung!“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Marie!“ rief er ihr nach.

„Noch einen Wunsch?“

„Wie kommst du darauf, daß ich an dich gedacht haben könnte?“

„Liegt doch auf der Hand. Es hätte Gedankenübertragung sein können, nicht wahr?“

„Das wäre doch auch keine Erklärung.“

„Aber immerhin ein Hinweis. Besser als gar nichts jedenfalls.“

Als sie zur Tür ging, sah der andere Patient von seinem Magazin hoch. Sie nickte ihm zu und verließ rasch das Zimmer. Auf dem langen, hellen Gang blieb sie erschöpft stehen. Das Gespräch hatte sie angestrengt, fast so sehr wie ihren Bruder. Warum nur?

Sehr viel langsamer, als sie gekommen war, machte sie sich auf den Weg zum Ausgang. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich eingestand, daß sie enttäuscht war.

Es war ihr so wichtig gewesen, ihren Bruder zu besuchen, sie hatte kaum erwarten können, daß sie endlich die Erlaubnis dazu erhielt. Dabei war sie unwillkürlich und ohne richtig nachzudenken davon ausgegangen, daß er sich genau so sehr nach ihrem Erscheinen gesehnt hatte. Sie hätte wissen müssen, daß er sich ihr durchaus nicht mehr so verbunden fühlte wie sie ihm. Er hatte jetzt ja Lilo, die ihm weit mehr bedeutete und die bestimmt schon vorher, wahrscheinlich am vergangenen Abend, bei ihm gewesen war.

Das stimmte sie traurig. Sie sagte sich, daß das dumm von ihr war. Doch diese Erkenntnis konnte nichts an ihrer Niedergeschlagenheit ändern. Er war ja nicht einmal wirklich mit ihr verwandt, blutsverwandt. Die zweite Frau ihres Vaters hatte ihn mit in die Ehe gebracht. Aber von klein auf, als sie sich sehr einsam fühlte, hatte sie ihren großen Bruder in ihm gesehen. „Von heute an ist Günther dein Bruder“, hatte der Vater ihr an dem Tag erklärt, als er Katharina, seine zweite Frau, geheiratet hatte.

Marie erinnerte sich noch, mit welch freudigem Stolz diese Eröffnung sie erfüllt hatte. Schon vorher, als Katharina mit ihrem Sohn zu ihnen gezogen war, um ihnen das Haus zu führen, hatte sie Günther bewundert und war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Und jetzt sollte er ihr Bruder sein! Es hatte sie nie gestört, daß er diese Rolle mit sehr viel Überheblichkeit gespielt hatte – er war ihr ja wirklich in jeder Beziehung überlegen –, aber er war doch auch herzlich und fürsorglich ihr gegenüber gewesen und bisweilen von verstohlener Zärtlichkeit. Geduldig hatte er ihr alles erklärt, was sie wissen wollte, und unermüdlich neue Spiele für sie erfunden. Sie hatten sehr einsam gelebt in dem großen, alten Haus weit außerhalb des Dorfes. Bayreuth, die Stadt, in der sie geboren war, lag mehr als dreißig Kilometer entfernt.

Eine Zeitlang hatten sie sich sogar gegen die Mutter verbündet. Katharina hatte, trotz ehrlichen Bemühens, nie einen wirklichen Zugang zu ihr gefunden. Marie hatte immer gespürt, daß sie sie nicht wirklich liebhatte, sondern im Grunde ihres Herzens eifersüchtig auf sie war, vielleicht, weil sie ihrer früh verstorbenen Mutter so sehr glich, vielleicht auch, weil sie fand, daß der Vater sie zu sehr verwöhnte. Marie hatte nie viel darüber nachgedacht, sie hatte es als Tatsache hingenommen.

Günther gegenüber war Katharina noch strenger gewesen, viel zu streng, wie es den beiden Kindern schien. Von ihrem ersten Mann bitter enttäuscht, hatte sie jeden Zug Günthers, der sie an ihn erinnerte, auszumerzen gesucht. Sie hatte ihren Sohn in einem Maße beherrschen wollen, wie es ihr bei ihrem ersten Mann nicht gelungen war und wie es ihr bei ihrem zweiten, Maries Vater, nie gelingen würde. Sie war eine harte Frau, und diese Härte trieb die Kinder zueinander.

Dann, von einem Tag zum anderen, wie es Marie heute noch schien, hatte sich Günthers Haltung ihr gegenüber geändert. Er war ablehnend geworden, ja abweisend. Marie hatte sehr darunter gelitten. Viel später hatte sich ihre Beziehung dann wieder normalisiert. Aber mit der Vertrautheit der Kinderzeit war es vorbei gewesen, nicht mehr als ein Abglanz, der hin und wieder aufschien, war davon geblieben.

Als Marie das Krankenhaus verlassen hatte und zum Parkplatz gehen wollte, wurde ihr bewußt, daß es leichtsinnig gewesen wäre, sich jetzt hinters Steuer zu setzen. Zu viele Gedanken wirbelten ihr gleichzeitig durch den Kopf. Sie fühlte sich außerstande, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.

Kurz entschlossen wendete sie sich in die andere Richtung, schritt die Planckstraße hinunter und bog, kurz vor dem mächtigen Gebäude des Bayerischen Landtages, in einen Fußweg ein, der, durch Wiesen und Bäume gesäumt, an der Isar entlangführte. Es war merklich kühler hier unten als zwischen den Häusern; der Wind blies ihr ins Gesicht und zerrte an ihrem Haar. Aber Marie machte sich nichts daraus, obwohl sie ein wenig fror. Sie empfand es als wohltuend, ihren Gedanken nachhängen und kräftig ausschreiten zu können.

Nur wenige Spaziergänger waren hier unterwegs. Marie beachtete niemanden. Sie lief bis zum Friedensengel, der sich goldschimmernd zwischen dem herbstlichen Laub der alten Bäume vom mattblauen Himmel abhob, und kehrte erst dann wieder um.

Noch etwas war ihr inzwischen klargeworden. Zwar hatte sie keine Dankbarkeit von Günther erwartet – das, was sie getan hatte, war für sie selbstverständlich gewesen, sie hätte nicht anders gekonnt, auch wenn sie gewollt hätte –, aber doch ein freudiges Staunen darüber, daß sie ihn gefunden und ihm dadurch das Leben gerettet hatte. Statt dessen schien es ihm geradezu peinlich zu sein. Er hatte sie behandelt, als ob sie mit einem Makel behaftet wäre. In seiner Stimme hatte sogar ein gewisser Vorwurf geklungen, als sei es ihre Schuld, daß sie so war, wie sie war. Dabei hätte er besser als jeder andere Mensch wissen müssen, daß sie nichts dafür konnte. Wenigstens hätte er Mitgefühl zeigen können. Aber nicht einmal das hatte er getan.

„Ach was“, sagte sie zu sich selbst, „gib doch zu, daß du selber schuld bist! Du solltest längst wissen, daß niemand dich versteht oder auch nur versucht, es zu verstehen. Es war dein eigener Fehler, dir wieder einmal falsche Hoffnungen zu machen. Du mußt allein damit fertig werden. Du bist allein und wirst es bleiben.“

Die Frau mit dem zweiten Gesicht

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